Der Kampf in Chile hat gerade erst angefangen!

06.02.2012, Lesezeit 10 Min.
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// Flugblatt von RIO, der Revolutionären Internationalistischen Organisation, zur Rundreise von Camila Vallejo in Deutschland //

Die Kämpfe der SchülerInnen- und Studierendenbewegung des Jahres 2011 waren ein harter Schlag – nicht nur für die rechte Regierung von Sebastián Piñera, sondern für das gesamte politische Regime in Chile. Sowohl die Regierung als auch die Opposition um die Concertación (Koalition der Parteien für die Demokratie, ein Bündnis von Mitte-Links-Parteien) sind angesichts der Proteste in eine tiefe politische Krise geraten. Erbitterte Flügelkämpfe sind in beiden Lagern zur Normalität geworden. Die Parteien der Concertación haben das Erbe Pinochets 20 Jahre lang verwaltet, wobei sie zwar die schlimmsten Auswüchse der Pinochet-Verfassung abgemildert, sie aber im Wesentlichen intakt gelassen haben.

Nun hat ein neuer Akteur die Bühne des Kampfes betreten: die ArbeiterInnen, die SchülerInnen und Studierenden, die Mapuche. Sie fangen an zu erkennen, dass ihre jeweiligen Probleme einen gemeinsamen Ursprung haben: die kapitalistische Struktur Chiles, die von der Pinochet-Verfassung und ihren Institutionen, vom Parlament bis zum Militär, garantiert und bewacht wird.

Was ist geschehen?

Das ganze Jahr 2011 waren die SchülerInnen und Studierenden Chiles ProtagonistInnen des bisher härtesten Kampfes gegen das stark privatisierte und nach neoliberalen Kriterien funktionierende Bildungssystem. Hunderttausende SchülerInnen und Studierende sind auf die Straße gegangen, haben ihre Bildungseinrichtungen besetzt und – in einigen Fällen wie dem des Gymnasiums A-90 in Santiago – gemeinsam mit Lehrpersonal und Eltern selbstverwaltet. Sie haben Barrikaden gebaut und der Polizeigewalt widerstanden, sie haben auch Tote, Folter, Einschüchterungen usw. zu beklagen. Dieser Prozess führte zur Politisierung von Hunderttausenden, die durch ihre Aktionen und Forderungen nicht nur das Bildungssystem sondern auch das politische Regime und den chilenischen Kapitalismus in Frage stellten.

Die Jugend, die auf die Straßen gegangen ist, ist eine „Generation ohne Angst”, die eine neue Kampfmoral zeigt. In diesem Prozess entstand eine breite Avantgarde von mehreren Tausenden, die bereit waren, bis zum Ende zu gehen, um das Recht auf kostenlose Bildung gegen die Regierung durchzusetzen. Sie waren und sind bereit, das Schuljahr zu verlieren, die Repression und Folter der Polizei zu erleiden, einen Hungerstreik bis zum Äußersten durchzuführen und vieles mehr. Eine große Mehrheit der Bevölkerung unterstützt die Forderungen der Jugendlichen.

Die Bewegung der SchülerInnen und Studierenden hat die tiefe Ungleichheit in der chilenischen Gesellschaft offenbart. Gleichzeitig hat sie dem Diskurs der StatthalterInnen der neoliberalen Demokratie, die im Dienste der nationalen Bourgeoisie und des Imperialismus stehen, einen schweren Schlag versetzt.

Mit Entsetzen müssen diese feststellen, dass die Rufe nach einem Dialog, von den Parteien der Rechten und von der Concertación, nicht imstande waren, die Mobilisierungen von vielen Tausenden zu bremsen und in die ruhigen Gewässer des Parlamentarismus abzulenken. Nur mit der unrühmlichen Unterstützung der Kommunistischen Partei Chiles, die permanent eine demobilisierende Rolle spielte, konnten sie etwas Zeit gewinnen. Dennoch handelt es sich dabei um eine kurzfristige Notlösung, die nicht für lange Zeit halten wird, denn die Studierendenbewegung geht bisher, anders als 2006, nicht als VerliererInnen aus dem Kampf. Die Situation bleibt weiterhin offen. Heute versucht die Regierung, die Proteste zu kriminalisieren, die Avantgardesektoren zu isolieren (wie das Beispiel des Gymnasiums A-90 zeigt) und damit in die Offensive zu gehen.

Eine moderate (reformistische) Antwort …

Für die chilenische Linke geht es nun darum zu bestimmen, mit welcher Strategie der Konflikt um das Bildungssystem gewonnen werden kann. Für die selbsternannten „Moderaten“ der Kommunistischen Jugend um Camila Vallejo, Karol Cariola und Camilo Ballesteros geht der Weg über die Kombination von Druck auf den Straßen und Druck im Parlament. Dabei beschränkt sich der kämpferische Diskurs jedoch auf Rhetorik. Während des Konfliktes zielten sie auf eine Verhandlungsinstanz mit der Regierung, was nach hinten los ging. Sie scheiterten mit ihrem Versuch, die sogenannten 12 Punkte des Forderungskatalogs vom Studierendenverband CONFECH zu verhandeln, der nicht einmal die Forderung nach „kostenloser Bildung“ vorsah und dagegen nur von „Perspektiven“ sprach. Angesichts des Drucks der Basis strebten sie es an, dass die Regierung sich auf vier formelle Bedingungen einlassen würde. Diese lehnte jedoch ab. In der CONFECH stimmten 21 Verbände gegen den von der Führung bevorzugten Verhandlungstisch und für die Forderung nach kostenloser Bildung. In den Universitäten, wo die Kommunistische Jugend eine führende Rolle innehatte, stimmten große Mehrheiten gegen ihre Vorschläge. So wie in der FEUSACH, wo 21 Fakultäten gegen die Beendigung des Semesters, gegen den Verhandlungstisch und für die kostenlose Bildung als Minimalforderung stimmten. Bei den GymnasiastInnen war der Ausgang für die Kommunistische Jugend noch schlimmer: 165 Gymnasien lehnten den Verhandlungstisch mit der Regierung ab.

Der Tatsache bewusst, dass sich die Jugend aufgrund der Perspektivlosigkeit und des berechtigten Misstrauens in die chilenische Pseudodemokratie nicht ins Wahlregister einschreibt, versucht die Kommunistische Jugend nun, ihnen den Urnengang schmackhaft zu machen. Während die Jugend nicht wählen geht – denn für sie gibt es einfach keine Perspektive der Veränderung auf parlamentarischem Wege –, bereitet sich die Kommunistische Partei auf die nächsten Auseinandersetzungen vor, indem sie die Jugend aufruft, ihre bürgerlichen Pflichten wahrzunehmen und Hoffnungen in die Kommunalwahlen des antidemokratischen chilenischen Wahlsystems zu haben, denn „das wahrscheinlichste ist, dass wir dieses Jahr nicht viel erreichen werden, sondern erst in den nächsten, um das System zu stärken und strukturelle Änderungen zu erreichen; denn das ist, was wir heute fordern“ (Camila Vallejo, Zeitung La Tercera, 19.10.2011).

Ihre Strategie zielt also darauf, den Druck der Straße ins Parlament zu bringen, ähnlich wie es die Linkspartei in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern gemacht hat. In der Vorstellung der Kommunistischen Partei Chiles muss nun die Jugend nicht auf den Straßen kämpfen, sondern am politischen System teilhaben. „Deshalb ist nicht weniger bedeutend, dass wir heute junge VorkandidatInnen haben (…) um zu vertreten und neue Schritte zu unternehmen“. Diese sollten „schließlich einen Impuls [darstellen], damit alle Parteien den Jugendlichen einen Platz einräumen (…) um Geltung zurück zu erlangen, wie in meinem Fall [als Bürgermeisterkandidaten] für den Bezirk Estación Central“, wie Camilo Ballesteros, ehemaliger Präsident des Studierendenverbandes an der Universität von Santiago de Chile betont. Für die Kommunistische Partei bestehen also die kommenden Auseinandersetzungen in der nächsten Kommunalwahl am… 28. Oktober 2012! Und die kostenlose Bildung?

… und eine revolutionäre Perspektive

Unsere GenossInnen von der Partido de Trabajadores Revolutcionarios (PTR, Partei Revolutionärer ArbeiterInnen) haben stets eine Strategie verfolgt, die entgegen bürokratischer Bevormundung die Selbstorganisation in den Mittelpunkt stellte. Für sie bedeutete diese Strategie einen politischen Kampf in den Versammlungen, Besetzungen und Streiks mit dem Ziel, demokratische Strukturen mit gewählten und jederzeit abwählbaren VertreterInnen zu etablieren. Diese Basisorganisation war ein elementarer Schritt, um den Kampf voranzutreiben und mit der bürokratischen Führung der Verbände zu brechen sowie gleichzeitig ArbeiterInnen mit diesem Beispiel zu motivieren, ihre eigenen Organisationen von der Gewerkschaftsbürokratie zurückzuerobern.

Nun haben die bürokratischen Führungen es doch geschafft, die Bewegung von ihrem kämpferischen Kurs abzubringen. Jetzt geht es darum, diesen Kampf zu vertiefen und die politischen Lehren daraus zu ziehen, um sich für die nächsten, angesichts der Wirtschaftskrise wahrscheinlich verschärften, Auseinandersetzungen zu wappnen. Bereits jetzt ist eine Verlangsamung des Wachstums der chilenischen Wirtschaft zu beobachten: der Kupferpreis tendiert nach unten, die Wirtschaftskrise wütet in Europa und Lateinamerika wird eher früher als später folgen.

Unsere GenossInnen der PTR in Chile weisen zu Recht auf die Wahlergebnisse bei den Wahlen für den Studierendenverband der Universität Chiles (FECH) hin, bei der Camila Vallejo eine Niederlage gegenüber einem radikaleren Sektor einstecken musste. Nun ist sie nur noch Vize-Präsidentin des Studierendenverbandes. In der geschichtsträchtigen USACH, der Universität von Santiago de Chile, einer der ältesten Hochschuleinrichtungen des Landes, geschah etwas Ähnliches, diesmal mit Camilo Ballesteros. Dort fand die auf den Straßen vorhandene Polarisierung ebenfalls einen Ausdruck auf der Wahlebene. Vier Listen wurden aufgestellt. Die meisten Stimmen bekamen die Liste C, Sprachrohr des Rektorats und der Regimegetreuen, und die Liste D, die Liste der kämpferischen und antibürokratischen Linken, welche für die Kontinuität des Kampfes waren. Die Liste der Kommunistischen Jugend von Ballesteros musste sich mit dem dritten Platz zufrieden geben.

Wie ist dies zu verstehen? Ganz einfach: In der USACH bestrafte ein großer Teil der Studierenden die studentische Bürokratie von Ballesteros und ihre Politik des Vertrauens in die Concertación. Getreu ihrer reformistischen Logik empfahlen die Kommunistische Jugend daraufhin ihrer AnhängerInnenschaft in jener Universität, im zweiten Wahlgang für die Liste C zu stimmen. Der Grund: Sie brauchten einen beruhigten Bezirk (Estación Central), damit Ballesteros zum BürgerInnenmeister gewählt werden kann. Diese Liste gewann und die kämpferischen Sektoren müssen nun die Lehren daraus ziehen:

Erstens hat sich, obwohl die Wahl verloren wurde, gezeigt, dass ein großer Teil der Jugend des Regimes und seiner Parteien müde sind. Sie sind auch bereit, den Kampf gegen die Ungerechtigkeit und die Ausgrenzung weiter zu führen. So ist der hohe Stimmenanteil der Liste D als ein Sprungbrett für alle linken, kämpferischen und antibürokratischen Sektoren der Jugend zu verstehen, die die Perspektive der Mobilisierung als zentral ansehen. Die Regierung und die Concertación behaupten, der Streik der SchülerInnen und Studierenden war von vornherein zum Scheitern verurteilt, da die Forderungen unrealistisch wären. Die bürokratischen Führungen der Bewegungen behaupten, die Bewegung konnte nicht weiter gehen, da sie noch „unreif“ wäre, ohne Verantwortung für ihre versöhnliche und demobilisierende Politik übernehmen zu wollen. Die Liste D macht eine dritte Bilanz: Es ist möglich, der Regierung die eigenen Forderungen aufzuzwingen: Die SchülerInnen des Gymnasiums A-90 in Santiago haben im kleinen Maßstab gezeigt, dass es möglich ist, eine andere Bildung zu organisieren. Dort haben SchülerInnen, LehrerInnen, und Eltern mehrere Monate lang gemeinsam ihre Schule unter Selbstverwaltung gestellt und betrieben. Heute wird diese Schule auf Anordnung des Bürgermeisters von der Concertación angegriffen, der mehrere Male die Polizei schickte, um die Schule zu schließen.

Für ein sofortiges Ende des Pinochet-Erbes!

Für eine Verfassungsgebende Versammlung basierend auf der Mobilisierung der Massen!

Die harten Auseinandersetzungen der ausgelagerten BergarbeiterInnen und der FischerInnen, der Kampf der Mapuche, die Proteste gegen die Energiemultis in Magallanes und andere Kämpfe sind Ausdruck eines Wiedererwachens der Ausgebeuteten und Unterdrückten in Chile. Zu behaupten, oder auch nur die Hoffnung zu hegen, das Nachfolge-Regime von Pinochet ließe sich von innen heraus reformieren, ist ein Verrat an all diesen Kämpfen der ArbeiterInnen, der Jugend und der armen Massen Chiles.

Die Möglichkeit einer Verschärfung der Wirtschaftskrise in Chile, gepaart mit der politischen Krise der Hauptsäulen der chilenischen Demokratie für Reiche, kann die Entstehung einer politischen Alternative zu der bürgerlichen Misere begünstigen. Der Kampf der SchülerInnen und Studierenden hat gezeigt, dass es möglich ist, das Erbe Pinochets endgültig zu zerstören. Dabei wird eine Änderung des Regimes, die diesen Namen verdient, weder von den Parteien der Alianza por Chile noch von denen der Concertación kommen, welche seit dem Ende der Diktatur im Dienste der Reichen regiert haben.

Ein anderes Chile ist nur dann möglich, wenn der Kampf für die sozialistische Revolution aufgenommen wird, für eine ArbeiterInnenrepublik basierend auf Organen direkter Demokratie. Wir, die Mitglieder von RIO (Revolutionäre Internationalistische Organisation), sympathisierende Sektion der Trotzkistischen Fraktion – Vierte Internationale (FT-CI), unterstützen den Kampf unserer Schwesterorganisation in Chile, der PTR, denn nur eine Partei, die den Klassenkampf wählt und eine Klassenpolitik verfolgt, kann einen Ausweg aus der kapitalistischen Misere aufzeigen – in Chile, Deutschland und überall.

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