Der Kampf gegen den Kapitalismus ist ein Kampf für neurodivergente Befreiung

02.06.2023, Lesezeit 10 Min.
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Foto: tian.sthr

Die Befreiung von neurodiversen und behinderten Menschen muss durch den Sturz des Kapitalismus und den Aufbau eines sozialistischen Systems erfolgen, welches die verschiedenen Formen menschlichen Verhaltens wertschätzt und die Ressourcen auf die Erfüllung menschlicher Bedürfnisse ausrichtet.

Der folgende Text entstammt einer gemeinsamen Veranstaltung der Denver Communists, Left Voice und International Socialists (NL). Die gesamte Rede findet sich auf englisch hier

Ich bin Sam, von Left Voice. Ich bin wirklich dankbar, dass die Genoss:innen von Denver Communists diese Veranstaltung ins Leben gerufen haben, um neurodivergente Unterdrückung in einem marxistischen Rahmen zu diskutieren. Der Kapitalismus erfordert und profitiert von allen Formen der Unterdrückung. Darum freue ich mich, mit den Genoss:innen darüber nachzudenken, wie neurodivergente Unterdrückung funktioniert und wie sie sich auf eine sozialistische Strategie bezieht, die den Kapitalismus stürzen kann.

Ich bin Autist und habe vor ein paar Jahren für Left Voice darüber geschrieben, wie ich mit meiner Behinderung zurecht komme und wie sie vom Kapitalismus niemals wirklich akzeptiert werden wird. Es hat mich sehr gefreut, von autistischen und anderen neurodiversen Genoss:innen zu hören, dass meine Erfahrungen bei ihnen Anklang fanden. Einer der wichtigsten Punkte, über die ich schrieb, war, wie meine Behinderung die Frage nach der Arbeit und ihrem Zweck im Kapitalismus aufwirft.

Der Sinn der Arbeit im Kapitalismus besteht darin, so effizient wie möglich zu sein, um Produkte zu schaffen, die den Bossen und Kapitalist:innen, die nicht arbeiten, Profit bringen. Und autistische und neurodivergente Menschen sind wahrscheinlich weniger effizient oder werden zumindest so wahrgenommen. Das ist meine Erfahrung und das macht es schwer, in diesem System mitzuhalten. Meine Fähigkeit, visuelle Informationen zu verarbeiten, ist verzögert, was bedeutet, dass ich nicht Auto fahren kann. Das schränkt die Anzahl der Jobs, die ich annehmen kann, auf jene ein, bei denen man von zuhause aus arbeiten kann, oder die gut mit den öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar sind. Meine Finger bewegen sich schwerfällig, so dass Jobs, die schnelle Handarbeit erfordern, nicht in Frage kommen. Selbst wenn ich einen Job gefunden habe, den ich ausüben kann, gibt es keine Garantie, dass meine natürliche Art der Kommunikation akzeptiert wird. Deshalb muss ich mich zusätzlich anstrengen, um meine Behinderung zu verstecken, damit ich als neurotypisch durchgehe.

Dies sind nur meine Erfahrungen, aber sie zeigen die größere Herausforderung, die Behinderung für die Logik des Kapitalismus darstellt. Eine Studie der Universität von Massachusetts aus dem Jahr 2013 ergab, dass Erwachsene mit geistigen Behinderungen mehr als doppelt so häufig arbeitslos sind wie Erwachsene ohne diese Behinderungen. Das liegt nicht daran, dass wir nicht arbeiten können oder nicht arbeiten wollen. Natürlich wollen wir nicht die zermürbende oder willkürliche Arbeit verrichten, die den Großteil der Arbeit im Kapitalismus ausmacht. Nicht einmal neurotypische Menschen wollen das. Aber wir wollen in der Lage sein, für unsere Bedürfnisse zu sorgen. Wir wollen in der Lage sein, für uns selbst zu sorgen, anstatt von der Familie oder von unterfinanzierten und oft ausbeuterischen gemeinnützigen Organisationen und Programmen abhängig zu sein. Und wir wollen Teil einer breiteren menschlichen Erfahrung sein, in der Menschen gemeinsam etwas produzieren und voneinander lernen. Aber der Kapitalismus legt keinen Wert auf Arbeit für eine erweiterte menschliche Erfahrung. Der Kapitalismus nutzt die Arbeit für den Profit privater Interessen. Die tatsächlichen oder vermeintlichen Mehrkosten für die Unterbringung von behinderten und neurodiversen Arbeiter:innen bedeuten weniger Profit. Das heißt, dass die Wahrscheinlichkeit, dass wir beschäftigt werden, geringer und die Wahrscheinlichkeit, dass wir aus der Gesellschaft ausgegrenzt sind, größer ist.

Für viele ist die Unterdrückung, neurodivergenter Menschen, auch mit Formen der rassistischen Unterdrückung verbunden. Es gibt einen systematischen Mangel an psychischen Gesundheitsressourcen für verarmte Gemeinschaften, die überproportional schwarze und braun sind. Selbst wenn Menschen aus diesen Gemeinschaften eine Diagnose erhalten, ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass ihnen Unterkünfte und Unterstützung vorenthalten werden, dass sie vom Staat kriminalisiert werden und dass sie aufgrund ihrer anderen Art, mit der Welt zu interagieren, durch behindertenfeindliche Stereotypen ausgegrenzt werden.

Wie viel intensiver die neurodiverse Unterdrückung für schwarze autistische Menschen ist, haben wir vor kurzem beim Mord an Jordan Neely in New York City gesehen. Jordans Leben und seine Ermordung zeigen die schlimmste Art und Weise, wie der Staat behinderte Menschen behandelt, die unter anderen Formen der Unterdrückung leiden. Er war hungrig und hatte eine psychische Krise und schrie in der U-Bahn über seinen Hunger. Das ist in den Augen des Kapitalismus störend, aber schadet niemandem. Und ein Großteil der Gründe, warum Jordan hungrig war und schrie, hängt damit zusammen, dass seine Behinderungen durch die Gewalt und das Trauma, die der Kapitalismus ihm auferlegt hat, noch verschlimmert wurden. Seine Mutter wurde in seiner Kindheit durch einen Femizid getötet, und er wuchs in Pflegefamilien auf. Jordan Neely brauchte Hilfe, aber der vom Kapitalismus vermittelte Behindertenfeindlichkeit lehrt die Menschen, Menschen mit psychischen Krisen in der U-Bahn als Problem oder Bedrohung zu betrachten. Außerdem stellt der Rassismus Schwarze Behinderte als eine noch größere Gefahr da. In diesem Zusammenhang sah Daniel Penny, ein ehemaliger Marinesoldat, Neely als Bedrohung an, weil er sich nicht „normal“ verhielt, und würgte ihn zu Tode. Tagelang ließ die Stadt, angeführt von Demokraten und ehemaligen Polizisten Eric Adams, Penny frei herumlaufen, was seine Taten im Grunde genommen legitimierte. Als Autist habe ich aufgrund von Fällen wie dem Mord an Jordan Neely Angst vor der Polizei, vor Mitgliedern des Militärs und vor Menschen, die von Institutionen der staatlichen Unterdrückung ausgebildet wurden. Und schwarze Mitglieder der autistischen Gemeinschaft haben umso mehr Grund, Angst zu haben.

Als revolutionäre Sozialist:innen ist es wichtig, dass wir alle Formen der Unterdrückung bekämpfen. Von der Unterdrückung von Autist:innen wie mir, die einigermaßen sicher sind und unterstützt werden, aber am Arbeitsplatz abgewertet und benachteiligt werden, bis hin zur Unterdrückung von Autist:innen wie Jordan Neely, die im Kapitalismus besonders verarmt sind und dafür mit rassistischer Gewalt bestraft werden, bis hin zur Unterdrückung der internationalen Gemeinschaft der Neurodiversen, die alle umfasst, die durch Imperialismus und Krieg behindert wurden.

In meinem Artikel über meine Erfahrungen wird darauf hingewiesen, dass der Kampf für die Akzeptanz von Autismus der Kampf für den Sozialismus ist. Ich hoffe, ich habe deutlich gemacht, dass der Kapitalismus kein System ist, das die Gleichstellung von Neurodivergenz ermöglicht. Die Behindertenrechtsbewegung hat wichtige Fortschritte gemacht und Reformen durchgesetzt, die das Leben mit Behinderungen leichter machen als noch vor Jahrzehnten. Aber diese Reformen konnten und können die dem Kapitalismus zugrunde liegende Logik nicht ändern, nach der der Menschen danach bewertet wird, wie leicht seine Arbeitskraft auszubeuten ist und wie viel Profit er schnell produzieren kann. Diese Logik wird niemals mit Behinderungen vereinbar sein und schafft und vergrößert Behinderungen durch die systematische Zerstörung von Körper und Geist. Wenn der Kapitalismus die Arbeitskraft behinderter Menschen nicht einfach ausbeuten kann, werden viele von uns als Problem behandelt, mit dem sich der Staat befassen muss. Die Befreiung von neurodiversen und behinderten Menschen muss also durch den Sturz des Kapitalismus und den Aufbau eines sozialistischen Systems erfolgen, das verschiedene Formen menschlichen Verhaltens wertschätzt und die Ressourcen auf die Erfüllung menschlicher Bedürfnisse ausrichtet. Oder wie Marx es ausdrückte: „Jede:r nach seinen Fähigkeiten, jede:m nach seinen Bedürfnissen“.

Wenn wir für ein sozialistisches System kämpfen, werden wir es mit starkem Widerstand zu tun haben. Wir werden gegen den Staat kämpfen müssen, der versuchen wird, unsere Wut zu vereinnahmen. Und wir werden erleben, wie der Staat gegen uns vorgeht.

Wir müssen darauf vorbereitet sein, uns ernsthaft gegen die intensive Kooptation und Repression zu wehren, und ich glaube, dass wir für diesen Kampf eine Partei brauchen. Es muss eine Partei sein, die versteht, dass die Arbeiter:innenklasse die Macht hat, den Kapitalismus stillzulegen und die Produktion zum Stillstand zu bringen. Nur die Arbeiter:innenklasse kann das tun. Aber um ein kapitalistisches System zu besiegen, das den Klassenkampf schwächt, indem es eine rassistische, sexistische, queerfeindliche, fremdenfeindliche und behindertenfeindliche Ideologie fördert, müssen wir gegen alle Formen der Unterdrückung kämpfen, einschließlich der Unterdrückung der Neurodivergenten. Für mich ist es daher wichtig, dass es eine Partei von und für die Arbeiter:innenklasse gibt, die für den Sozialismus kämpft. Und ich möchte, dass eine Partei der Arbeiter:innenklasse, die für den Sozialismus kämpft, eine Partei ist, die autistische Menschen mit Arbeit organisiert, um die Unterdrückung zu bekämpfen, indem sie unsere Arbeitsplätze organisiert. Ich möchte, dass sie eine Partei ist, die in Solidarität mit behinderten Menschen kämpft, die Arbeit wollen, die ihnen aber aufgrund ihrer Behinderung verweigert wird. Ich möchte, dass sie eine Partei ist, die den politischen Kampf gegen Stereotypen führt, die neurodiverse Menschen verletzen, weil sie weiß, wie diese Stereotypen die Einheit und Macht der Arbeiter:innenklasse verletzen. Ich möchte eine Partei, die für eine universelle, inklusive Gesundheitsversorgung und Wohnraum für behinderte Menschen kämpft. Ich möchte eine Partei, die sich für ein öffentliches Bildungssystem einsetzt, das alle Lerntypen berücksichtigt, damit neurodivergente Schüler:innen keine Schwierigkeiten haben. Ich will eine Partei, die Arbeiter:innen organisiert, die für Gerechtigkeit streiken, wenn Menschen wie Jordan Neely vom Staat ermordet werden, und die die Arbeiter:innenklasse anführt, um gegen arbeiter:innenfeindliche Institutionen wie die Polizei und das Militär zu kämpfen, die als Feinde der Behindertenbefreiung und -gleichstellung auftreten.

Als Left Voice wollen wir ein Gespräch mit den Teilnehmer:innen dieser Veranstaltung sowie mit allen im ganzen Land eröffnen, die daran interessiert sind, mit den Demokrat:innen zu brechen und eine unabhängige Partei der Arbeiter:innenklasse aufzubauen, die für den Sozialismus kämpft. Das ist etwas, woran ich und andere autistische Genoss:innen bei Left Voice arbeiten. Es ist ein Projekt, das ich gerne mit den Genoss:innen auf dieser Veranstaltung heute aufbauen würde. Denn ich habe es satt, in einer kapitalistischen Welt zu leben, die mich und den Rest der neurodivergenten Gemeinschaft abwertet, und ich glaube, dass wir mit einer Strategie und einer Arbeiter:innenpartei die neurodivergente Unterdrückung und alle Unterdrückung bekämpfen und für eine sozialistische Welt kämpfen können, in der wir wertgeschätzt und sicher sind.

Der Artikel erschien erstmals bei LeftVoice.

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