Den Staat zerstören oder übernehmen?

17.03.2015, Lesezeit 9 Min.
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// THEORIE: Nicos Poulantzas entwarf eine ideologische Rechtfertigung für die Praxis von Syriza heute. Statt Klassenkampf dominiert die Konzentration auf den Staat. //

Die „Bestätigung der Gramsci-Poulantzas-Option: die Macht durch Wahlen erringen und gleichzeitig die Gesellschaft mobilisieren“1: So beschrieb Stathis Kouvelakis, führende Figur des linken Flügels von Syriza, das Ergebnis der Wahlen in Griechenland Ende Januar.

Die europäische Linke feierte eine „historische Wende“ und sah teilweise in Syriza sogar die „erste linksradikale Regierung“ (trotz der Koalition mit der rechtspopulistischen ANEL). Auch Blockupy-AktivistInnen zeigten sich begeistert über die Option einer linken Regierungsübernahme bei gleichzeitigem außerparlamentarischen Druck auf der Straße.

Doch der Mythos Syriza beginnt schnell zu verfliegen, nachdem Tsipras und Co. nur Wochen nach der Wahl in allen zentralen Fragen dem Druck der Troika nachgegeben hat. Diese Kapitulation erklärt sich aber nicht nur durch die harte Haltung vor allem der deutschen Regierung, sondern liegt auch in der politischen Strategie Syrizas begründet2.

„Demokratischer Sozialismus“ und „Eurokommunismus“

Ideologisches Zentrum von Synaspismos, der größten Fraktion von Syriza, ist das „Nicos-Poulantzas-Institut“ in Athen. Der griechische Poststrukturalist Nicos Poulantzas hatte sich in den 1970er Jahren im Anschluss an den französischen Theoretiker Louis Althusser eine Erneuerung der marxistischen Staatstheorie vorgenommen.

In seinen Arbeiten fasste Poulantzas den Staat als eine „materielle Verdichtung von Kräfteverhältnissen“. Mit seiner Vorstellung eines neuen „demokratischen Sozialismus“ gilt er als einer der Theoretiker des „Eurokommunismus“. Diese ideologische Richtung verknüpfte die Abkehr vom klassischen stalinistischen Verständnis des Sozialismus mit einer reformistischen Wende der ehemaligen Kommunistischen Parteien in Europa, in deren Folge viele von ihnen sukzessive in bürgerliche Regierungsverantwortung traten.

Der „Eurokommunismus“ bedeutete damit – eher als eine Neuformulierung einer Verbindung von Sozialismus und Demokratie – die Sozialdemokratisierung der ehemaligen stalinistischen Parteien als Resultat „des politischen und ideologischen Niedergangs einer Fraktion der europäischen Arbeiterbewegung unter den Bedingungen einer Zuspitzung der Spannungen und der Klassenkämpfe.“3

Der Eurokommunismus ist ein antistalinistischer Reformismus, der jedoch mit dessen Methoden nicht bricht und ebenso opportunistisch und reformistisch ist. Historisch ist dieser Antistalinismus ein Resultat des Scheiterns der der 68er-Bewegung. Die heutige Führungsriege Syrizas kommt aus dieser Tradition. Und anders als Kouvelakis‘ Aussage vermuten lässt, verzichtet Syriza auf Gramscis Vorstellung von der Eroberung der gesellschaftlichen Hegemonie im Klassenkampf und setzt wie Poulantzas auf die Eroberung von Positionen im Staatsapparat.

Für Poulantzas setzt die Übernahme der Staatsmacht zwar einen langen Prozess der Veränderung des gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses voraus, allerdings nicht im Sinne eines Kampfes um die Hegemonie der ArbeiterInnenklasse, wie es Gramsci definiert. Denn Poulantzas lehnt die Entwicklung einer Doppelmacht ab, die den bürgerlichen Staat letztendlich zerschlägt und einen ArbeiterInnenstaat an seine Stelle setzt. Stattdessen setzt er auf eine „Transformation des Staates“ – eine Formel, die viele heutige ApologetInnen des (Neo-)Reformismus teilen. Poulantzas schlägt einen „demokratischen Sozialismus“ vor, der eine innere Verwandlung des bürgerlichen Staates in eine „echte Demokratie“ beinhaltet.

Eurokommunistische Regierungsbeteiligungen

Auch wenn die Kommunistischen Parteien schon an bürgerlichen Regierungen beteiligt waren (so im Rahmen der „Volksfront“-Politik der 1930er Jahre oder direkt nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs), kehrten viele westeuropäische Kommunistische Parteien in den 1970er Jahren der Strategie der sozialistischen Revolution mit dem Ziel der Diktatur des Proletariats offen den Rücken – in angeblicher Abgrenzung vom stalinistischen Ostblock. Die eurokommunistischen Parteien traten in bürgerliche Regierungen ein – auf kommunaler, regionaler und nationaler Ebene. Die Kommunistische Partei Frankreichs (KPF) war beispielsweise seit 1981 an einer Regierung mit dem Sozialdemokraten François Mitterand beteiligt und trug bis 1984 den scharfen neoliberalen Kurs der Regierung mit. Die Kommunistische Partei Italiens (KPI) unterstützte ab 1976 die christdemokratische Minderheitsregierung.

Nach dem Zerfall des Ostblocks zerfielen viele der Kommunistischen Parteien in ihre Bestandteile. Aus der KPI ging beispielsweise die Demokratische Partei hervor, die heute den neoliberalen Ministerpräsidenten Mateo Renzi stellt. Aus einer Minderheit der KPI ging Rifondazione Comunista hervor, die von 1996 bis 1998 die bürgerliche Prodi-Regierung unterstützte und die 2006 der Entsendung italienischer Soldaten nach Libanon zustimmte.

Auch in Griechenland gibt es eine Geschichte der Regierungsbeteiligung durch nominell kommunistische Parteien. Die Kommunistische Partei Griechenlands (KKE) bildete trotz ihrer Moskau-Treue 1989 als Teil eines linken Wahlbündnisses eine Koalitionsregierung mit der konservativen Nea Demokratia. Als diese 1991 zerbrach, gründeten die eurokommunistisch orientierten Teile der KKE die Partei Synaspismos, die später in Syriza aufging und heute die Führung dieser Partei stellt.

„Materielle Verdichtung
von Kräfteverhältnissen“

Poulantzas‘ Definition des Staates als „materielle Verdichtung von Kräfteverhältnissen“ beruht dabei vor allem auf einem grundlegenden theoretischen Missverständnis – mit weitreichenden Folgen.

Die Fehlinterpretation ist, es hätte bei Marx „verschiedene“ Staatsverständnisse gegeben. Als Beweis wird folgende vereinfachte Formel aus dem „Manifest der Kommunistischen Partei“ herangezogen: „Die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuß, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet.“4 Dies wird dann beispielsweise mit den Erläuterungen im „Achtzehnten Brumaire des Louis Napoleon Bonaparte“ über die Verselbständigung des Staatsapparates in verschärften Situationen des Klassenkampfes kontrastiert. Da es ja offensichtlich sei, dass der Staat nicht direkt einer bestimmten Kapitalfraktion gehorche, müsse daher die „instrumentalistische“ Definition – d.h. die des bürgerlichen Staates als Instrument der Bourgeoisie – fallengelassen werden. Im Ergebnis schießt Poulantzas weit über das Ziel hinaus, da er die Klassennatur des bürgerlichen Staates letzten Endes auflöst.

Denn die „materielle Verdichtung von Kräfteverhältnissen“ im Staat bedeutet, dass die Struktur des Staates im Kapitalismus nicht vorgegeben ist, sondern auf der spezifischen Ausformung der Kräfteverhältnisse beruht. Das ist zwar erstmal insofern richtig, als dass der bürgerliche Staat die Funktion besitzt, die Klassenverhältnisse zu verwalten und in bestimmten Klassenkampfsituationen seine Form wechseln kann (z.B. vom bürgerlichen Parlamentarismus zur faschistischen Diktatur). Aber die Schlussfolgerung von Poulantzas und seinen AnhängerInnen läuft darauf hinaus, dass eine verschärfte Klassenkampfsituation zu einer grundlegenden Veränderung der kapitalistischen Natur des Staates führen könnte.

Im Ergebnis heißt das, dass die ArbeiterInnenklasse in einer Situation, in der sie die Überhand über die Bourgeoisie gewinnen sollte, den bürgerlichen Staatsapparat vollständig übernehmen könnte. Damit wird der Zweck des bürgerlichen Staates – nämlich die kapitalistische Produktionsweise aufrecht zu erhalten – entleert und die Möglichkeit eröffnet, dass der Staat im Kapitalismus nicht immer ein bürgerlicher Staat sein müsse. Oder anders gesagt: Der Sozialismus könnte durch den bürgerlichen Staatsapparat eingeführt werden.

Poulantzas postuliert zwar: „Selbst wenn sich die Kräfteverhältnisse und die Staatsmacht zugunsten der Volksklassen verändern sollten, tendiert der Staat mehr oder weniger langfristig dahin, das Kräfteverhältnis, manchmal in anderer Form, zugunsten der Bourgeoisie wiederherzustellen.“5 Aber er kann nicht erklären, warum dies der Fall ist und warum die beherrschten Klassen den bürgerlichen Staat nicht einfach übernehmen könnten. Poulantzas‘ Strategie ist damit letztlich nur eine Neuauflage des klassischen Reformismus, der sich die Übernahme des bürgerlichen Staates durch Wahlen auf die Fahnen geschrieben hatte.

Als „Verdichtung von Kräfteverhältnissen“ betont Poulantzas zwar die Rolle des Klassenkampfes, doch ist das Ziel dieses Klassenkampfes letztlich der bürgerliche Staat, der von innen verändert werden kann. Paradoxerweise wird damit die reformistische Konzentration auf Wahlen gerade durch den Klassenkampf erklärt, anstelle den Klassenkampf als Kampf gegen die herrschende Klasse und ihren Staat zu verstehen. So können die Parteien des „Eurokommunismus“ eine gewisse Klassenkampfrhetorik aufrecht erhalten und gleichzeitig einen Pakt mit der Bourgeoisie eingehen.

Poulantzas löst sowohl die Vorstellung einer sozialistischen Revolution als auch die Notwendigkeit der politischen Unabhängigkeit der ArbeiterInnenklasse auf – letztlich sogar die ArbeiterInnenklasse als politisches Subjekt selbst. Er geht so weit zu postulieren, dass der harte Kern der kapitalistischen Produktionsverhältnisse in einer ersten Phase der „Transformation“ beibehalten werden muss.

Klassenkampf statt Regierungsbeteiligung!

Doch alle „eurokommunistischen“ Projekte verhielten sich trotz anderslautender Rhetorik an der Regierung nicht anders als reformistische Parteien: Sie stützten überall die Austeritätspolitik der herrschenden Klasse und machten sich zu MitverwalterInnen der kapitalistischen Misere. In einigen Fällen unterstützten sie sogar die imperialistischen Interventionen ihrer Regierungen. Denn eine kämpferische Rhetorik macht noch lange keinen Klassenkampf. Letztlich mussten sich all diese Projekte dem kapitalistischen Sachzwang beugen. Denn ihre Politik besteht in der Mitverwaltung des kapitalistischen Staates, statt in der Mobilisierung gegen ihn.

Die Auswirkungen dieser demobilisierenden Politik bekommen die griechischen Massen gerade zu spüren. Syriza kann den griechischen Staat nicht „transformieren“ – schon gar nicht unter Druck von Seiten der imperialistischen Troika. Das zeigt sich allein schon bei der Frage der Polizei, die weiterhin von FaschistInnen durchsetzt ist. Eine Abschaffung dieses Klasseninstruments der Bourgeoisie aber strebt Syriza nicht ansatzweise an.

Die Beschränkung auf den bürgerlichen Parlamentarismus – selbst wenn sie sich in poulantzianischer Rhetorik einen marxistischen Anstrich gibt – führt nicht dazu, dass die KapitalistInnen die Krise bezahlen müssen. Denn der bürgerliche Staat kann nicht transformiert, sondern nur zerschlagen werden. Dafür braucht es den Aufbau einer unabhängigen revolutionären Alternative zu Projekten wie Syriza, die die Zentralität der Mobilisierung der ArbeiterInnenklasse und die Perspektive der Diktatur des Proletariats verteidigen.

Fußnoten

1. Sebastian Budgen und Stathis Kouvelakis: Greece: Phase One. https://www.jacobinmag.com/2015/01/phase-one/.

2. Alexej Peschkow und Stefan Schneider: Die Illusionen des Neoreformismus. In: Klasse Gegen Klasse Nr. 13. https://www.klassegegenklasse.org/die-illusionen-des-neoreformismus/.

3. Ernest Mandel: Kritik des Eurokommunismus. Olle & Wolter 1978.

4. Karl Marx und Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei. https://www.marxists.org/deutsch/archiv/marx-engels/1848/manifest/1-bourprol.htm.

5. Nicos Poulantzas: Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologien, Autoritärer Etatismus. VSA 2002.

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