Das populistische Moment von Joe Biden

07.04.2021, Lesezeit 15 Min.
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Die Strategie der herrschenden Klasse und der Biden-Regierung besteht darin, die neuen politischen Phänomene, die in letzter Zeit im Herzen des Imperialismus entstanden sind – wie Black Lives Matter und den traditionelleren Klassenkampf wie bei Amazon – durch verschiedene Bürokratien abzulenken und zu kooptieren.

In einem Ausbildungszentrum für Tischler:innen in der Industriestadt Pittsburgh, Pennsylvania, kündigte Präsident Joe Biden vor einem Publikum aus überwiegend gewerkschaftlich organisierten Arbeiter:innen einen ehrgeizigen Investitionsplan für die Infrastruktur an – den „American Jobs Plan“ –, den er als die größte staatliche Investition zur Schaffung von Arbeitsplätzen seit dem Zweiten Weltkrieg bezeichnete.

Das symbolische Gewicht des für die Ankündigung gewählten Schauplatzes – das Herz des „Rust Belt“, welcher von Trumps populistischer Demagogie in den Bann gezogen wurde und dann zu den Demokraten zurückkehrte – und die Rede des Präsidenten sind Anzeichen für die Veränderungen im Kräfteverhältnis und der politischen Situation, die in den letzten Jahren stattgefunden haben und die mit der Pandemie einen Sprung gemacht haben.

Der Infrastrukturplan besteht aus einer Investition von zwei Billionen Dollar über die nächsten acht Jahre, aufgeteilt in: Reparatur oder Wiederaufbau von Flughäfen, Häfen, Brücken, Straßen und anderer Verkehrsinfrastruktur, die aufgrund eines 40-prozentigen Rückgangs der staatlichen Investitionen seit den 1960er Jahren in Trümmern liegt (die USA stehen hierbei weltweit auf Platz 13); Sanierung von Gebäuden, Häusern und Schulen; Umstellung des fossilen Energiesektors auf erneuerbare Energien (einschließlich der Produktion von Elektroautos); Subventionen für die Pflege älterer Menschen und Menschen mit Behinderungen, um nur die wichtigsten Punkte zu nennen. Darüber hinaus enthält der Plan rund 180 Milliarden Dollar für Forschung und Entwicklung in Bereichen wie Halbleiter-, Batterien- und Informationstechnologie, die explizit darauf abzielen, mit China zu konkurrieren.

Neben staatlichen Investitionen, der Schaffung von Arbeitsplätzen und dem Klimawandel hat der Diskurs, der den Plan begleitet, einen Hang zum wirtschaftlichen Nationalismus, der wie ein von Trump selbst gestohlenes Banner klingt. Nicht nur der Wettbewerb mit China ist ein Dreh- und Angelpunkt, zu Bidens Vorschlägen gehört auch die Rückführung von Sektoren der Elektrobatterieindustrie und ihrer Lieferketten in die Vereinigten Staaten, die heute in China und anderen asiatischen Ländern angesiedelt sind und billige Arbeitskräfte und Steuervorteile bieten. Laut einer von der New York Times zitierten Studie finden nur 46 Prozent der Wertschöpfung bei einer Tesla-Batterie in den Vereinigten Staaten statt, der Rest passiert in China und Japan.

Bidens Botschaft an das Establishment scheint zu sein, dass der Plan, der in den Augen der Republikaner, einiger Demokraten neoliberalen Glaubens und wichtiger Sektoren der Bourgeoisie als exorbitante Geldausgabe erscheint, in Wirklichkeit der Preis ist, der zu zahlen ist, um „Amerika wieder groß zu machen“ (Make America Great Again! Trumps unerfülltes Versprechen) und die eigenen Kräfte an der Heimatfront zu konsolidieren, um die Führungsrolle der früheren imperialistischen Hauptmacht so weit wie möglich wiederherzustellen.

Die Höhe der Investition erscheint zweifelsohne als beeindruckende Zahl, wenngleich sich ihre Dimension im Kontext der Prioritäten des US-Imperialismus relativiert. Hochgerechnet auf die Laufzeit wären das etwa 282 Milliarden Dollar im Jahr, was weniger als einem Drittel des Jahresbudgets des Pentagon entspricht, das sich für 2021 auf 741 Milliarden Dollar beläuft.

Diese mathematische Betrachtung ist eine nützliche Gedankenübung, hat aber keine symbolische Wirkung auf das, was nach Jahrzehnten der „Reaganomics“ – das heißt des Anpreisens einer „kleinen Regierung“ und von Steuersenkungen für die Reichen, die von Republikanern und Demokraten (von den beiden Bushs bis zu Clinton und Obama) wie ein Mantra wiederholt wurden – eine große Richtungsänderung in der staatlichen Politik zu sein scheint.

Der „Jobs Plan“ ist Teil eines dreiteiligen Pakets von staatlichen Investitionen: Das Trio wird durch den „Bailout Plan“ (ein 1,9 Billionen Dollar schweres Konjunkturprogramm, das bereits vom Kongress verabschiedet wurde) und den noch ausstehenden „Families Plan“ (der aus finanzieller Hilfe für Bildung und anderen Dingen bestehen würde) komplettiert. Zusammen würden die drei Programme auf dem Papier eine staatliche Kapitalspritze von vier bis sechs Billionen Dollar bedeuten, um der laufenden wirtschaftlichen Erholung Schwung zu verleihen. Diese Erholung wird zwar nach heutigen Prognosen in der unmittelbaren Zukunft robust sein – die Federal Reserve schätzt das Wachstum auf über 6 Prozent –, lässt aber auch Zweifel an deren Nachhaltigkeit aufkommen. Gerade auch weil Ihre Auswirkungen genauso ungleichmäßig verteilt sein werden wie die der sozialen Krise, die durch die Pandemie hervorgerufen wurde.

Wie stehen die Chancen, dass sie im Kongress angenommen werden? Im Moment bleibt dies ungewsis, aber alles deutet darauf hin, dass der Weg dorthin mühsam und mit langwierigen Verhandlungen verbunden sein wird, die wahrscheinlich mit der Aufgabe des ursprünglichen Plans enden werden. Biden selbst hat bereits vorweggenommen, dass er für „neue Ideen“ zur Finanzierung seines Plans offen ist.

Fangen wir nun bei der Betrachtung der beteiligten Akteure mit der Bourgeoisie an. Zweifellos hat „Corporate America“ angesichts der Aussicht auf weitere vier Jahre Trumpismus und des Aufschwungs des Klassenkampfes, wie es ihn in den letzten Jahrzehnten nicht gegeben hat, auf Bidens Präsidentschaft als „Übergangsregierung“ gesetzt. Und Wall Street begrüßte den Rettungsplan, der auf einer astronomischen Erhöhung der Staatsverschuldung basiert, die bei etwa 130 Prozent des BIP liegt, mit der von Finanzministerin Janet Yellen vermittelten Überzeugung, dass eine Kreditaufnahme zu einem praktisch negativen Zinssatz kein Risiko darstellt.

Aber im Gegensatz zum Bailout-Plan wird der Infrastrukturplan durch eine Erhöhung der Unternehmenssteuer finanziert, wodurch Trumps Steuersenkung von 2017 teilweise rückgängig gemacht wird. Diese steigt von 21 auf 28 Prozent – eine Erhöhung, die von Kapitalist:innen und der Republikanischen Partei abgelehnt wird, obwohl sie deutlich unter den 35 Prozent liegt, die unter Obama galten.

Diese Unternehmenssteuererhöhung hat die herrschende Klasse in Alarmbereitschaft versetzt und sie positionieren bereits ihre Lobbyist:innen, um Zugeständnisse zu erhalten, darunter auch AT&T, UPS, FedEx, die National Association of Manufacturers und die US-Handelskammer. Das gilt auch für den fossilen Energiesektor, der in den schwierigsten Monaten der Pandemie von zusätzlichen Steuersenkungen und Subventionen der Trump-Administration profitierte, aber dennoch 16 Prozent seiner Belegschaft abbaute.

Ein weiterer wichtiger Akteur sind die Gewerkschaften. Die Gewerkschaftsbürokratie der AFL-CIO ist ein wichtiger Bestandteil der Basis der Biden-Administration, und der Präsident erwidert nun deren Höflichkeit. Bei der Vorstellung des Jobs Plan bezeichnete sich Biden als Gewerkschafter und sagte, dass es die Arbeiter:innen und nicht die Wall Street sind, die das Land aufbauen. Er beendete seine Rede mit einer Anprangerung der „1 Prozent“ der reichsten US-Amerikaner:innen, die in einem Jahr Pandemie 1,3 Billionen Dollar zu ihrem Vermögen hinzugewonnen haben, während Millionen ihre Jobs verloren.

Biden versicherte, dass sein Infrastrukturplan zusätzlich zum Bailout-Plan in den nächsten vier Jahren etwa 18 Millionen gewerkschaftlich organisierte, gut bezahlte Arbeitsplätze schaffen wird. Der Plan soll zusätzlich zur Ankurbelung des Wirtschaftswachstums auch zur Senkung der Kohlenstoffemissionen führen und ebenfalls eine Verbesserung der Position der USA im Wettbewerb mit China herbeiführen. Genauso versprach er das Recht auf freie gewerkschaftliche Organisation wiederherzustellen, nachdem Bosse und Staat jahrzehntelang gegen die Gewerkschaften vorgegangen waren, was zu einem Zusammenbruch des gewerkschaftlichen Organisationsgrades führte, der jetzt auf einem historischen Tiefstand ist (10,8 Prozent der Beschäftigten, 6,3 Prozent im privaten Sektor).

Mehrere Gewerkschaften aus der Autoindustrie und der traditionellen Energiewirtschaft haben Bidens Versprechen jedoch bereits in Frage gestellt, da Unternehmen aus dem Bereich der erneuerbaren Energien deutlich niedrigere Löhne zahlen und praktisch keine Gewerkschaften haben. Außerdem würden durch die Umstellung rund 130.000 Arbeitsplätze im Gas- und Kohlebereich wegfallen.

Schließlich schauen wir noch auf den Kongress. In einem gleichmäßig aufgeteilten Senat, 50-50 zwischen Republikanern und Demokraten, bricht die Vizepräsidentin Kamala Harris das Patt. Das tat sie auch, um das Rettungspaket zu verabschieden, das nur durch die Stimmen der Demokraten zum Gesetz wurde. Dennoch es ist zunächst nicht klar, dass die 60-Stimmen-Mehrheit zur Verabschiedung des Infrastrukturplans erreicht werden kann. Das würde den Republikanern die Möglichkeit geben, dessen Abstimmung zu verzögern, indem sie auf den „Filibuster“ zurückgreifen (eine Taktik, bei der das Parlament durch ewig lange Redebeiträge, einschließlich des Lesens von Rezepten oder Romanen, bis zum Ablauf der Frist für die Abstimmung von Gesetzesvorlagen, blockiert wird).

Für den Fall, dass es zu einer Mehrheit kommt, ist jedoch nicht klar, dass alle Demokraten für das Gesetz stimmen werden. Der linke Flügel der Partei wird es wahrscheinlich tun, obwohl Alexandra Ocasio Cortez und andere Anführer:innen dieses Sektors wie Bernie Sanders den Plan bereits als unzureichend kritisiert haben. Sie vergleichen diesen mit dem ursprünglichen Vorschlag des Green New Deal, der eine staatliche Investition von zehn Billionen Dollar vorsah, von Biden aber abgelehnt wurde. Dennoch herrscht einmal mehr die Logik des „kleineren Übels“, um der republikanischen Rechten nicht in die Hände zu spielen. Mehr Zweifel gibt es indes bei den konservativen Demokraten, die dem Plan kritisch gegenüberstehen und zum Beispiel bei der Abstimmung für das Konjunkturpaket dafür gesorgt haben, dass grundlegende Punkte für die Arbeiter:innen zurückgezogen wurden, wie die Anhebung des bundesweiten Mindestlohns auf 15 Dollar pro Stunde.

Das Schicksal des Plans und sein endgültiger Inhalt werden letztlich von den Machtverhältnissen zwischen diesen Akteuren abhängen. Dabei lädt die Agenda für die ersten 100 Tage der Biden-Administration zu historischen Analogien ein.

In seiner Antrittsrede am 20. Januar 1961 fasste der demokratische Präsident John Fitzgerald Kennedy meisterhaft die Lehren zusammen, die die herrschende Klasse aus der Krise der 1930er Jahre gezogen hatte. Er sagte mehr oder weniger: „Wenn eine freie Gesellschaft nicht in der Lage ist, den vielen Armen zu helfen, ist sie auch nicht in der Lage, die wenigen Reichen zu retten.“ Er sprach dabei nicht zu den „vielen Armen“ – eine große Zahl von ihnen hatte für ihn gestimmt und andere hatten für Richard Nixon gestimmt, einen populistischen Republikaner der ersten Stunde, der sich als einfacher Mann präsentierte, der der Elite die Stirn böte. Er sprach vor allem zur Großbourgeoisie, die ihn mit Argwohn betrachtete. Kennedy war davon überzeugt, dass es zur Abwehr der „kommunistischen Bedrohung“ und zur Aufrechterhaltung der imperialistischen Führungsrolle in der Welt notwendig war, die Hoffnung des „amerikanischen Traums“ auf diejenigen auszudehnen, die diesen noch von außen beobachteten, insbesondere auf die Schwarze Community.

Es war ihm jedoch kein ideologisches Anliegen, sondern vielmehr ein materielles. Wie der Historiker Joshua Zeitz erklärt, waren im reichsten Land der Welt und in jenen Jahren des beispiellosen Wohlstands 34 Millionen US-Amerikaner:innen oder 22 Prozent der Bevölkerung laut offizieller Statistik arm, was tiefste Verbitterung schürte. Die Verbindung des Ausbruchs der Bürgerrechtsbewegung mit den armen Arbeiter:innen hätte damals enorme Sprengkraft haben können.

Die politische Antwort war eine Reihe von Hilfsmaßnahmen, die Kennedy selbst jedoch kaum umsetzen konnte, daer nach der Hälfte seiner Amtszeit ermordet wurde und die so zum Regierungsprogramm seines Nachfolgers Lyndon Johnson wurden, der zwar einen Krieg gegen die Armut ankündigte, aber vor allem dafür in die Geschichte einging, den Vietnamkrieg begonnen zu haben. Dieses Programm – bekannt als „Great Society“, obwohl es eine degradierte Version von Roosevelts New Deal war – funktionierte ähnlich den europäischen Sozialstaaten, war jedoch angepasst an die Realität der Vereinigten Staaten. Dort gab es, anders als mit der Sozialdemokratie des alten Kontinents, keine reformistischen Massenparteien der Arbeiter:innen. So stand die staatliche Unterstützung innenpolitisch im Dienst der Erhaltung des sozialen Friedens, indem dadurch potenziell störende Bewegungen kooptiert wurden; außenpolitisch war sie Teil des Kalten Krieges mit der Sowjetunion.

Sechzig Jahre später sieht die Realität ganz anders aus, weist aber doch einige Ähnlichkeiten auf. Die soziale Krise, die sich als Folge der Coronapandemie und ihrer Auswirkungen weiter hinzieht, zeichnet ein düsteres Bild für die imperialistische Großmacht. Und betrifft vor allem die Schwarzen und migrantischen Communitys. Die soziale Ungleichheit hat dabei skandalöse Ausmaße angenommen. Die Armutsquote liegt bei knapp 12 Prozent, hatte aber in der zweiten Hälfte des Jahres 2020 das schnellste Wachstum seit den 1960er Jahren. Neunzig Millionen haben keinen oder nur einen unzureichenden Krankenversicherungsschutz. Es gibt eine drohende Zwangsräumungskrise, die Millionen von Familien auf die Straße setzen könnte, da sie ihre Miete nicht bezahlen können. Und der bundesweite Mindestlohn liegt immer noch bei 7,25 Dollar pro Stunde, genauso wie im Jahr 2009.

Das populistische Moment von Joe Biden, einem langjährigen traditionellen Establishment-Politiker der Demokraten, erklärt sich vor allem aus diesen Umständen: die kapitalistische Krise von 2008, die zu der tiefen politischen und sozialen Polarisierung führte, die Trump zur Präsidentschaft brachte; ein Wiederaufleben des Klassenkampfes im weiteren Sinne (der seinen Höhepunkt in der Rebellion gegen Rassismus und Polizeigewalt wegen des Mordes an George Floyd hatte); und das Auftauchen neuer politischer Phänomene, die zusammengenommen eine weitere politische Radikalisierung ankündigen könnten.

Die herrschende Klasse und die Biden-Administration setzen dabei auf Ablenkung und Kooptation mit Hilfe verschiedener Bürokratien der Gewerkschaften, politischen und sozialen Bewegungen. Wir von Klasse gegen Klasse, wie auch unsere Genoss:innen von Left Voice in den Vereinigten Staaten, setzen darauf, dass sich Arbeiter:innen und unterdrückte Minderheiten, Frauen und Jugendliche ihrer Stärke voll bewusst werden.

Ein wichtiger Kampf um das Recht, sich gewerkschaftlich zu organisieren, wird in diesen Tagen bei Amazon geführt. Dessen Sieg würde andere Arbeiter:innen ermutigen, diesem Beispiel zu folgen. Die Arbeiter:innen, die Jugendlichen, die jetzt zu politischem Leben erwacht sind und sich selbst als „Sozialist:innen“ definieren, diejenigen die der Black-Lives-Matter-Bewegung Leben eingehaucht haben, die migrantischen und Latino-Communitys, können der Demokratischen Partei nicht trauen. Diese ist historisch gesehen das Vehikel der imperialistischen Bourgeoisie und hindert die Ausgebeuteten daran, in eine revolutionäre Richtung vorzustoßen.

Diese angespannte Situation macht es notwendig, eine unabhängige Organisation der Arbeiter:innenklasse und der unterdrückten Sektoren aufzubauen, die den Kampf gegen Rassismus, Kapitalismus und den imperialistischen Staat der USA in einer sozialistischen Perspektive vereint.

Dieser Artikel erschien im Orginal auf Spanisch am 4. April 2021 bei La izquierda Diario

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