„Burkini“-Debatte: Der Feminismus ist entweder antirassistisch und antiimperialistisch, oder gar nichts

10.09.2016, Lesezeit 7 Min.
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Es ist dringend notwendig, eine große feministische Bewegung in den Straßen gegen rassistische Angriffe aufzubauen. Denn sie greifen unsere Klassenschwestern an – das heißt, sie greifen uns alle an.

Am 27. August kippte das Oberste Verwaltungsgericht in Frankreich das „Burkini“-Verbot der Gemeinde Villeneuve Loubet an der Cote Azur.

Dieses „Zurückrudern“ haben wir vor Jahren schon einmal erlebt, als die Kommunen in Katalonien die Burka und den Niqab verbieten wollten. Die imperialistischen Staaten testen ihre Stärke, gehen voran und rudern zurück, was die grundlegendsten demokratischen Rechte angeht. In diesem Fall geht es um offen rassistische und islamophobe Maßnahmen. Ein Foto drückte die Absurdität dieser Xenophobie aus: die Polizei am Strand, die eine muslimische Frau dazu zwang, sich auszuziehen.

Der französische Staat kehrte mit dem Gerichtsurteil zu seinen „republikanischen Prinzipien“ zurück, nachdem die Öffentlichkeit den Fall verurteilte. Dennoch behalten etwa dreißig französische Kommunen das „Burkini-Verbot“ bislang bei.

Und wie antwortet nun also die feministische Bewegung auf solche Angriffe? Es gibt viele Debatten, aber die Positionierungen sind häufig sehr ambivalent oder drücken den Wunsch aus, sich vor dieser eindeutigen und schauerhaften Realität zu enthalten: Dass die Polizei des französischen Imperialismus Frauen dazu zwingt, ihre Badekleidung auszuziehen, ist Rassismus und Islamophobie.

Das Verbot des sogenannten „Burkini“, der Burka oder des Niqab ist rassistisch

Es ist unmöglich, in einem Artikel auf alle Debatten einzugehen, die die europäische feministische Bewegung wie eine Lanze durchkreuzen. Aber wir werden von der besorgniserregendsten Debatte ausgehen, denn es gibt Sektoren, die das Verbot unterstützen, weil sie den Charakter des schlecht als „Burkini“ bezeichneten Badeanzugs als unterdrückerisch einstufen, wie sie es mit der Burka oder dem Niqab taten.

Nötig ist eine klare Positionierung gegen ein Verbot, welches in Europa von Seiten imperialistischer staatlicher Institutionen mit Hilfe der Repressivkräfte gegen arabische und/oder muslimische Frauen, die hier leben, durchgesetzt wird. Doch die europäische feministische Bewegung bleibt in dieser Positionierung entweder zweideutig, enthält sich oder bleibt passiv.

Diese nötige Positionierung gegen Rassismus und Islamophobie ist unabhängig von der Debatte, ob man für oder gegen die Nutzung von Schleiern ist; eine Frage enormer Komplexität, weil verschiedene historische und aktuelle Diskussionen über den Schleier oder den Vollschleier, seine Bedeutung und seine Symbologie existieren, die diese Frauen aufgrund ihrer eigenen historischen und politischen Erfahrungen analysiert haben.

Diese Erfahrungen haben innerhalb der arabischen und/oder muslimischen feministischen Bewegung zu Politiken sowohl für als auch gegen den Hidschab, die Burka oder den Niqab geführt. Wir müssen uns diese Erkenntnisse mindestens anschauen, diese Politiken kontextualisieren und die wandelnde Bedeutung ihrer Benutzung beachten.

Die Benutzung des Schleiers und seine Symbologie

Der arabische und/oder muslimische Feminismus hinterfragt den „westlichen Feminismus“, da dieser auf einer zwanghaften Verbindung zwischen Kultur und Frauenunterdrückung besteht. Aus dieser mechanischen Verbindung leitet sich die Strategie der „Bekämpfung der eigenen einheimischen Kultur“ ab, um sich zu befreien. Das Verbot des Vollschleiers oder des sogenannten „Burkini“ folgt dieser Prämisse.

Die Debatte über den Hidschab beginnt im 19. Jahrhundert in Ägypten, welches damals unter britischer Besatzung stand. Einige Anführer*innen der arabisch-muslimischen Welt kämpften für Reformen des Frauenrechts, wie den Zugang zur Bildung, und sahen durch ihren Einfluss aus der europäischen Kolonialmacht den Schleier als „Symbol des kulturellen Rückstands“.

Die neuen arabischen feministischen Strömungen des 20. Jahrhunderts haben diese Reformer*innen und ihre Anstöße für einen „ersten Feminismus“ hinterfragt. Es entstand ein antikolonialer Feminismus, der die Verwestlichung der Geschlechterpolitik ablehnte. Diese drückte sich in Schleierverboten in zahlreichen Ländern aus, während sich die Rechte der Frauen nicht verbesserten.

So spannte sich die Debatte über den Hidschab zwischen der Position, die ihn als Symbol des „kulturellen Rückstands“ ansah und jener, die ihn als Identifizierung der arabischen und muslimischen Kultur gegen die kolonialistische Macht verteidigten.

Im 20. Jahrhundert veränderte sich die Situation mit dem Ausbruch antikolonialer Bewegungen: Nationalistische oder arabisch islamistische Frauen verwandelten den Hidschab in ein „Symbol des antikolonialen Widerstands“. So beschreibt es Franz Fanon in Bezug auf den antikolonialen Kampf in Algerien in den 1950ern, als nach dem französischen Verbot des Schleiers mehr als 10.000 Frauen mit Hidschab auf die Straße gingen, wie es im Film „Schlacht um Algier“ zu sehen ist.

Doch es entstanden auch feministische und Frauenbewegungen, die in bestimmten Situationen gegen den Zwang zum Hidschab oder zum „Vollschleier“, also zur Burka oder zum Niqab kämpften, ohne dabei ihre Ablehnung gegenüber der Kolonialmacht abzulegen und die sich dabei den reaktionärsten lokalen Mächten gegenüberstellen mussten. Das ist beispielsweise im Iran der Fall, wo das Tragen des Hidschab seit der Islamischen Revolution von 1979 Pflicht ist.

In den letzten Jahren wurden diese Debatten in Europa aktualisiert, angesichts des Burka- und Niqab-Verbots in Ländern wie Frankreich, Belgien, Niederlanden, Luxemburg, in Kommunen von Katalonien (Spanischer Staat), in Deutschland – wo die Hälfte aller Bundesländer die Verschleierung teilweise verbietet – und in Italien, wo die Anti-Terrorgesetze aus den 70er-Jahren die Gesichtsverdeckung verbieten.

Doch diese Verbote „im Namen der Freiheit“ und der „Sicherheit“ bedeuten für diese Frauen nur ein weiteres Element der täglichen Verfolgung der migrantischen Bevölkerung, die durch Fremdenfeindlichkeit und Rassismus angeheizt wird. Viele Frauen stellen klar, dass sie mit dem „Burkini“-Verbot noch eingeschränkter seien und zu Hause bleiben müssten, anstatt an den Strand gehen zu können.

Der Feminismus ist entweder antirassistisch und antiimperialistisch, oder er ist gar nichts

Die rassistischen Vorurteile gegenüber der „orientalischen Frau“ drückt sich auch darin aus, das die Kämpfe dieser Frauen vergessen werden, während den „passiven und ergebenen Frauen“ die „überlegenen westlichen Werte“ beigebracht werden, mit denen sie sich von der Unterdrückung befreien können.

So entsteht eine falsche Idee der Überlegenheit und des Fortschritts des Westens. Als würden die arabischen, muslimischen, afrikanischen oder lateinamerikanischen arbeitenden und armen Frauen, die in Europa oder den USA leben, nicht unter der Geschlechterunterdrückung, der Lohnungleichheit, der Prekarisierung und den Frauenmorden leiden, obwohl sie in „laizistischen“ Gesellschaften des „christlichen Abendlands“ geboren wurden und dort leben.

Doch diese Frauen haben die Besonderheit ihres eigenen historisch-sozialen Kontextes erkannt, aus der die Unterdrückungsverhältnisse erwachsen. Dazu kommt ein Universums aus Problemen, die sie mit ihren Klassenschwesternn teilen: harte Arbeitsbedingungen, Ungleichheit bei sozialen und politischen Rechten, Gewalt, sexuelle Belästigung und Frauenmorde, etc.. Sie haben auch gegen die Zwangsmaßnahmen ihrer Ursprungsländer zu kämpfen, die sich von denen im Westen unterscheiden.

Wer keine klare Position gegen diese rassistischen Verbote bezieht, stellt sich nicht gegen diese kolonialistischen und imperialistischen Werte. Das macht deutlich, dass Teile der feministischen Bewegung weit von den Problemen der Mehrheit der Frauen entfernt sind, die oft komplizierter und dramatischer als ein Schleier sind. Dadurch nehmen sie eine fügsame Position gegenüber ihren eigenen Staaten ein, die die Mehrheit der Frauen, Arme, Migrantinnen, Arbeiterinnen, unterdrückt.

Sich angesichts eines solchen Angriffs zu enthalten, ist gefährlich. Besonders in einem Kontext sozialer Polarisierung in ganz Europa, in dem rechtsextreme Gruppen wachsen und sichtbarer werden, Migrant*innen schlagen und Geflüchtetenunterkünfte in Brand setzen.

Ist es nicht dringend notwendig, auf der Straße eine große feministische und Frauenbewegung gemeinsam mit den gewerkschaftlichen und sozialen Organisationen gegen diesen rassistischen Angriff auf unsere Klassenschwestern zu organisieren?

Wir können nicht darauf vertrauen, dass die imperialistischen kapitalistischen Staaten manchmal in ihren Angriffen „zurückrudern“. Unsere Klassenschwestern mit ihren Familien sind einer konstanten rassistischen Verfolgung ausgesetzt, die Unterdrückung und Ausbeutung legitimiert. Wenn sie unsere Klassenschwestern angreifen, greifen sie uns alle an.

Dieser Artikel wurde zuerst auf IzquierdaDiario.es veröffentlicht.

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