Brexit: Mays Scheitern ist Ausdruck einer gewaltigen Krise für das Vereinigte Königreich

18.01.2019, Lesezeit 10 Min.
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Am Mittwochabend konnte sich die britische Premierminsterin Theresa May gerade so über das Misstrauensvotum retten, nachdem ihr Brexit-Abkommen einen Tag vorher im Parlament gescheitert war. Das britische Regime und das Kapital stehen vor einer nie dagewesenen Krise.

Mit gerade einmal 325 zu 306 Stimmen gewann Theresa May das Misstrauensvotum, das vom Oppositionsführer der Labour Party Jeremy Corbyn initiiert wurde. Damit hat sich May zwar etwas Zeit verschafft und mögliche Neuwahlen vorerst verhindert, doch die Narbe, die die Brexit-Verhandlungen in den letzten Jahren im Londoner Regime hinterlassen hat, sitzt tief. Rund ein Dutzend Minister*innen und Staatssekretär*innen sind zurückgetreten. Vor allem rechte Brexit-Hardliner wie der ehemalige Brexit-Minister Dominic Raab, der im November seinen Rücktritt erklärt hatte, trugen die Linie von Theresa May nicht mehr mit. Die rechte, nordirische Democratic Unionist Party (DUP), auf deren Stimmen die Konservative Partei (Tories) im Parlament angewiesen sind, weil sie selbst keine Mehrheit haben, setzt die Regierung zusätzlich unter großen Druck.

Auch in der Abstimmung zum Brexit-Abkommen am Dienstagabend verweigerten zahlreiche Mitglieder der Konservativen Partei von Theresa May ihr die Gefolgschaft. 432 Abgeordnete stimmten gegen das Abkommen, nur 202 dafür. Das Abkommen regelte eine Reihe von Bedingungen für den Austritt: Zollkontrollen, Handelsabkommen, Richtlinien für eine Reihe von Produkten, Verkehr oder Dienstleistungen, Rechte von EU-Bürger*innen sowie die umstrittene Grenzfrage zu Nordirland. Das Abkommen ist vorerst Geschichte.

May hatte monatelang gedroht, dass im Falle eines Scheiterns des Abkommens ein ungeregelter Austritt zu chaotischen Folgen für die politische und wirtschaftliche Landschaft führen könnte. Doch der erwünschte Druck auf das Parlament und die EU ist quasi verpufft. Die EU hat ein weiteres Nachverhandeln des Abkommens bisher kategorisch ausgeschlossen und auch innenpolitisch rennen May die Verbündeten weg. Vor der erneuten Abstimmung am nächsten Dienstag, bei der May einen Plan B vorlegen will, möchte sie sich in Einzelgesprächen mit Fraktionsführer*innen treffen. Corbyn hat bereits angekündigt, dass er als Vorbedingungen für diese Gespräche den Ausschluss eines „No-Deal“ Szenarios fordert, also einem ungeregelten Austritt aus der EU. Die Angstkampagne um die Folgen eines solchen „No-Deals“ ist jedoch vermutlich die letzte politische Waffe, die May in der Hand hat. Es ist daher unwahrscheinlich, dass sie sich darauf einlässt.

Orientierungskrise des britischen Kapitals

Der Brexit führt zu einer gewaltigen Orientierungskrise für das britische Kapital: Die britische Bourgeoisie hängt von den EU-Märkten ab: Neben den USA ist speziell Deutschland das wichtigste Exportziel für das Vereinigte Königreich. Doch das Referendum stellt die Tories, die Partei der Großbourgeoisie, nun vor die Aufgabe, sich genau von dieser EU zu trennen. Die Eingliederung in die EU war funktional für den britischen Kapitalismus hin zum Aufbau einer Finanz- und Dienstleistungswirtschaft seit den 80er-Jahren. So hat sich Großbritannien zum wichtigsten Finanzmarkt in Europa entwickelt. Doch die Krise von 2008 hat die Tendenzen der organischen Krise weltweit verschärft: der Rechtsruck in den osteuropäischen Staaten, über den Brexit bis zu Trump und jetzt Bolsonaro sind hierfür klare Symptome. In Großbritannien drückt sich diese Krise nun am stärksten aus. Es gibt eine Trennung, die May gegen ihren Willen vollziehen muss und die den Standort Großbritannien für das internationale, imperialistische Kapital enorm schwächen wird. Auf der anderen Seite sind ihre Versuche eines „weichen Brexits“ gescheitert, da die neoliberale Nachkriegsordnung mit der EU weiter an Legitimität verloren hat. Diese Tendenzen wurden nicht zuletzt von der EU-feindlichen Politik Trumps befördert, der versucht die Krise für den Aufbau eines Anti-EU-Block zu nutzen. Dieser Trumpismus hat sich in der Konservativen Partei selbst niedergelassen, mit Anführer*innen wie Boris Johnson.

Was will Corbyn?

Die Opposition zu Mays Brexit-Plänen ist insgesamt sehr heterogen. Von der Labour Party, über Liberale, Grüne und schottische Nationalist*innen bis hin zu den rechten Hardlinern der DUP lehnten alle das Abkommen aus unterschiedlichsten Motiven ab. Die stärkste Oppositionspartei ist die Labour Party mit ihrem Parteivorsitzenden Jeremy Corbyn, der die Partei aus einer Krise geholt hat und vor allem jungen Arbeiter*innen gewinnen konnte. Doch der Erfolg drängt besonders den Vorsitzenden in eine Zwickmühle. Denn einerseits repräsentiert die Labour Party Sektoren der Arbeiter*innenklasse aus dem Norden und der Mitte des Landes, die seit den 80ern von einer enormen Deindustrialisierung und seit 2008 von drastischen EU-Spardiktaten betroffen sind. Diese Sektoren stehen der EU insgesamt sehr kritisch gegenüber. Dort hat die Labour Party auch selbst für den Brexit gestimmt.

Auf der anderen Seite der Partei stehen junge Arbeiter*innen, Studierende und Fachkräfte, die hinter dem Phänomen Corbyn stehen. Diese Basis ist in erster Linie EU-freundlich und hat auch im Parlament einen gewissen Rückhalt. Sie fordern ein zweites Referendum über den EU-Austritt. Im Oktober des letzten Jahren versammelten sich sogar über 500.000 Menschen in London, um gegen den Brexit zu demonstrieren – die größte Demonstration in Großbritannien seit dem Irak-Krieg.

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Labour ist also selbst gespalten. Corbyn selbst fordert offen den Rücktritt von May und den Weg der Neuwahlen. Für den Fall, dass Labour in die Regierung kommt, möchte er ein neues Austrittsabkommen mit der EU aushandeln. Ein solches Abkommen soll den Schutz von Rechten der Beschäftigten auf beiden Seiten des Atlantik gewährleisten und die Errichtung einer Zollunion ohne Irland beinhalten – weil Irland ohnehin weiterhin in der EU verbleibt. Die Perspektive von Corybn ist damit letztlich eine Spielart des linken Souveränismus und ein Entgegenkommen gegenüber den EU-skeptischen Sektoren der Arbeiter*innenklasse. Besonders geht es da um Bezirke, die die rechte UKIP für sich gewinnen konnte. Sein Programm ist im Grunde die Rückkehr zu einem nationalen Kapitalismus, der seine Angelegenheiten selbst regelt. Im Programm der Labour Party stehen dabei verschiedene Investitionen in soziale Bereiche festgeschrieben, sowie die Verstaatlichung des Wassers, der Energie und der Post, womit er in den letzten Jahren vor allem die krisengebeutelte Jugend hinter sich vereinen konnte. Doch selbst wenn Corbyn in die Regierung kommen sollte, steht er letztlich vor dem gleichen Dilemma wie May jetzt. Er fordert ein Neuverhandeln des Abkommens mit der EU, was diese ausgeschlossen hat. Er fordert die Absicherung von sozialen Rechten von einer EU, die noch vor 10 Jahren mit brutalen Spardiktaten die Arbeiter*innenklasse und die Jugend angriff.

Ein Programm im Interesse der Arbeiter*innenklasse kann nicht mit der EU verhandelt, sondern nur gegen die EU durchgesetzt werden. Ein solches Programm müsste die anstehende Kapitalflucht verhindern und die Verstaatlichung von Banken und Unternehmen unter Arbeiter*innenkontrolle und -verwaltung beinhalten. Denn es ist egal, ob ein Abkommen bis zum Austritt Ende März steht oder nicht. Das Kapital wird versuchen, die wirtschaftlichen Konsequenzen auf die Arbeiter*innenklasse abzuwälzen. Dagegen hat weder der EU-skeptische noch der EU-freundliche Flügel ein Rezept. Letzterer macht sich weiterhin Illusionen in die Reformierbarkeit der EU im Sinne der Arbeiter*innen und der Jugend. Dieser Flügel könnte seinerseits die Labour dazu zwingen, im Falle einer Regierungsbeteiligung doch ein erneutes Referendum über den Brexit zu initiieren.

Corbyn möchte letztlich eine Lösung wie Norwegen, die Schweiz etc. Das heißt, Teil einer Zollunion sein ohne sich den Regeln des EU-Binnenmarkts unterwerfen zu müssen. Diese Lösung ist jedoch für die EU nicht ohne Weiteres hinnehmbar, würde es doch ihre Hegemoniekrise in den imperialistischen Zentren weiter verstärken. Denn auch in anderen imperialistischen Staaten wie Italien oder Frankreich gibt es starke Anti-EU-Bestrebungen. Zu viele Konzessionen an die britische Regierung können auch in diesen Ländern Austrittsbestrebungen befeuern. Besonders die deutsche Bundesregierung und die hiesige Bourgeoisie, die wie kein zweites EU-Mitglied von Exporten in den europäischen Binnenmarkt profitiert, lehnt deshalb Neuverhandlungen kategorisch ab.

Die Irische Frage

Eine der umstrittensten Fragen im Abkommen ist der sogenannte „Backstop“. Für den Fall, dass Großbritannien und die EU keine Handelsabkommen abschließen, soll Nordirland weiterhin Teil des EU-Binnenmarkts bleiben, während Großbritannien nur in der Zollunion verbleiben würde. Diese Regelung soll unbefristet gelten und nicht einseitig aufkündbar sein. Der Zweck ist die Verhinderung einer „harten“ EU-Außengrenze zwischen Irland und Nordirland. Die Brisanz dieser Frage hat dabei besonders politische Implikationen. Denn die Öffnung der Grenze war eine der Bedingungen des sogenannten „Karfreitagabkommens“ von 1998, dass die Beziehungen zwischen Nordirland und Irland nach dem teils blutigen Nordirlandkonflikt regeln sollte. Täglich pendeln heute Tausende Beschäftigte über die Grenze, ohne kontrolliert zu werden. Eine Errichtung von Grenzposten könnte den nationalen Konflikt zwischen Unionist*innen und Republikaner*innen wieder erhärten. Die Unionist*innen sind dabei die pro-britischen Kräfte, die die Besatzung Nordirlands stützen und in der Vergangenheit gemeinsam mit der britischen Armee die katholische Bevölkerung im Norden unterdrückt haben. Sie vertreten bis heute die Interessen des britischen Imperialismus. Die DUP als Hauptvertreterin ging zum Teil aus paramilitärischen unionistischen Kräften hervor. Auf der anderen Seite steht die republikanische Sinn Féin, der ehemalige politische Arm der Irischen Republikanischen Armee (IRA). Ihr politisches Programm beinhaltet ein Ende der Unterdrückung der katholischen Minderheit im Norden sowie die Wiedervereinigung der irischen Insel. Sie haben ebenfalls Sitze im britischen Parlament, die sie allerdings boykottieren.

Die DUP und andere Brexit-Hardliner der Tories kritisieren am Backstop, dass damit faktisch unbefristet eine Grenze zwischen Großbritannien und Nordirland in der Irischen See entsteht. Damit könnten Bestrebungen für eine Wiedervereinigung der irischen Insel befördert werden. Die DUP als Kolonialverwalterin der Londoner Regierung fürchtet dabei einen Verlust ihres politischen Einflusses. Ihre Legitimation beruht zu großen Teilen auf der kolonialen Besatzung Nordirlands. Denn ein weiterer Passus im Karfreitagsabkommen regelt, dass Nordirland mindestens von zwei Vertreter*innen beider politischen Lager regiert werden muss – ansonsten würde London die Regierungsmacht über Nordirland übernehmen. Aktuell regiert die DUP gemeinsam mit Sinn Féin. Damit will sich die Londoner Regierung einerseits ihren Einfluss auf die irische Insel bewahren, andererseits verfestigt sich damit auch die Spaltung der Arbeiter*innnenklasse Nordirlands. Denn außerhalb der beiden Konfessionen gibt es bisher kaum eine relevante politische Repräsentation für die Klasse. Der Konflikt wird so immer wieder entpolitisiert und auf den Streit zwischen Katholik*innen und Protestant*innen reduziert. Das wird durch die zynischerweise „peace lines“ („Friedenslinien“)genannten acht Meter hohen Mauern in Belfast oder Derry befeuert, die republikanische von unionistischen Vierteln trennen. Nur ein Bruchteil der Jugend geht auf konfessionsübergreifende Schulen. So kommt es auch heute immer wieder zu Provokationen unionistischer Kräfte in katholischen Vierteln, die 2018 zu tagelangen Straßenschlachten in Derry führten.

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Diese Spannungen und die Unsicherheit lassen auch in Nordirland die Stimmen nach einer Wiedervereinigung mit Irland lauter werden. Somit könnte Nordirland Teil der EU bleiben. Ein Szenario, was für das Vereinigte Königreich den Beginn des politischen Zerfalls markieren könnte. Immerhin gibt es auch in Schottland und Wales Unabhängigkeitsbestrebungen, die durch einen Brexit und dessen Folgen neu entfacht werden könnten. Auch die schottische separatistische Fraktion ist pro-europäisch. Eine Wiedervereinigung Irlands ist dabei zwar ein notwendiger Schritt, um die nationale Frage in Nordirland zu lösen. Eine Unabhängigkeit ohne jedoch die imperialistische britische Bourgeoisie oder die der EU-Staaten aus dem Land zu jagen, würde nur eine Wiedervereinigung auf kapitalistischer Basis bedeuten, bei der die arbeitende Bevölkerung weiterhin der Willkür der EU und Großbritanniens ausgesetzt wäre.

Für eine unabhängige Perspektive der Arbeiter*innenklasse

Die Arbeiter*innenklasse im Vereinigten Königreich und in Irland brauch eine unabhängige Lösung in ihrem Interesse. Denn einerseits war es die EU, die mit ihren Spardiktaten die Prekarisierung und die Armut vorangetrieben hat. Besonders die irische Arbeiter*innenklasse musste enorm unter den Sparmaßnahmen der Troika leiden. Plötzlich von der EU Konzessionen für Beschäftigte zu erwarten, ist illusorisch. Auf der anderen Seite haben auch die EU-Skeptiker*innen keine andere Perspektive, als auf die nationalen Kapitalist*innen zu vertrauen. Denn ein Brexit würde die Gewinne der britischen Bourgeoisie mit Sicherheit gefährden, schon jetzt verliert der Pfund immer mehr an Wert. Auch in diesem Szenario muss sich die Klasse auf harte Angriffe einstellen. Was wir brauchen ist eine unabhängige Perspektive der Arbeiter*innenklasse, die Kapitalflucht verhindert, die Verstaatlichung großer Banken und Unternehmen beinhaltet und diese unter die Kontrolle und Verwaltung der Arbeiter*innenklasse stellt.

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