Brauchen Menschen Zweierbeziehungen?
„Freude an dem Wissen zu empfinden, dass andere, die du liebst, sich ihrer Liebe zueinander bekennen“ - so beschreiben es Thomas Schroedter und Christina Vetter in ihrem Buch „Polyamory – eine Erinnerung“. Was ist aber die Grundlage der monogamen Zweierbeziehung und reichen die Betrachtungen der Autor*innen aus?

Polyamorie – dieser Begriff ist heute in aller Munde. Thomas Schroedter und Christina Vetter versuchen in ihrem 2010 veröffentlichten Buch das Phänomen zu beschreiben. Abgesehen von ausführlichen Versuchen, den Begriff „Liebe“ zu erklären, widmen sie sich verschiedenen historischen Formen des Zusammenlebens. So machen sie Ausflüge zu der Liebe im Antiken Griechenland oder der katholischen monogamen Ehe im Mittelalter. Außerdem werden verschiedene Formen des nicht-monogamen Zusammenlebens beschrieben, die von offener Beziehung bis hin zu Polyfidelity (gemeinschaftlichem sexuellen Zusammenlebens in familienähnlichen Beziehungen) reichen.
Ein großer Teil des Buches thematisiert die queer theory nach Judith Butler und ihrer Bedeutung für polyamouröse Menschen. Queer theory wird von den Autor*innen als progressive, sinnvolle Theorie betrachtet. Für sie ist die meist diskutierte Frage im Kontext von queer theory die Frage nach der Definition des Begriffes queer:
Mittlerweile bezeichnet queer ein Sammelbecken für alle, die anders sind, also nicht in das heteronormative, mehrheitliche Schema passen oder passen wollen.
Sie beziehen sich positiv auf die Theorie der heterosexuellen Matrix nach Judith Butler. Obwohl queer theory sich wenig mit Polyamorie beschäftigt, sehen die Autor*innen eine Verbindung in der Metapher einer Discokugel, die immer unterschiedlich leuchtet, je nachdem welches Licht sie trifft:
Ich bin eine Disco-Kugel, eine Projektionsfläche, meine Facetten glitzern im Licht, was du sehen willst, wirst du sehen. Ich bin eine Disco-Kugel, all meine Facetten – jede einzelne ein kleines Abbild meines Inneren – bilden zusammen etwas Rundes, zu sperrig, um in eine Schublade zu passen. Je mehr von deinem eigenen Licht auf mich scheint, desto mehr kannst du sehen.1
Queeres Leben bedeutet für die Autor*innen eine weniger starre Einteilung in verschiedene Beziehungsformen. Auch ihre Wertung ist eine andere:
[…] insbesondere die Trennung zwischen Zweierbeziehungen, in denen Sex stattfindet und ‚platonischen‘ FreundInnenbeziehungen. Es kann also fließende Formen von Beziehungen geben, die verschiedene Aspekte integrieren, ohne das eine über das andere zu stellen und Sex als etwas zu instrumentalisieren, das eine bestimmte Form von Beziehung zur wichtigsten macht.2
Dennoch wird weder hier noch in der historischen Beschreibung früherer Beziehungsformen auf die materielle Grundlage der monogamen Ehe eingegangen. Monogame heterosexuelle Beziehungen sind nicht zufällig zur Norm geworden.
Das Patriarchat entstand gemeinsam mit dem Privateigentum und seitdem zerstört dieses Paar Hand in Hand Milliarden von Menschenleben. Frauen wurden lange als Eigentum des Mannes gesehen wie in den Kapiteln „Alles begann in Babylon“ und „Die mittelalterliche Zurichtung der Menschen“ beschrieben wird. Die bürgerliche Kleinfamilie festigt die ideologische Herrschaft des Kapitals über das Privatleben. Auch wenn in den imperialistischen Ländern immer mehr Zugeständnisse an alternative Lebensformen gemacht werden, ist der Kapitalismus weiterhin auf die Existenz der bürgerlichen Kleinfamilie angewiesen. Wenn in Deutschland mehr oder weniger toleriert wird, dass eine Frau keine Kinder bekommen möchte, dann nur, weil die Produktion in die ausgebeuteten halbkolonialen Länder ausgelagert wurde, wo die Kleinfamilie weiterhin Bestand hat. Frauen sollen ihre Funktion als Reproduzentinnen ausführen, indem sie sich aus „Mutterliebe“ und „Fürsorgeinstinkt“ um ihre Familie kümmern.
Als marxistische Feministinnen kritisieren wie die bürgerliche monogame heterosexuelle Ehe. Dennoch halten wir Hippiekommunen und freie Liebe nicht für die richtige Strategie zur Überwindung des Kapitalismus. Jede*r von uns sollte in der Beziehungsform leben können, in der sie*er leben will. Damit das jedoch jeder*m möglich ist, müssen wir die Ursache von Heteronormativität und Sexismus bekämpfen. Liebe im Kapitalismus kann nicht ohne die Kritik am Kapitalismus beschrieben werden.
1. Claudia Engelmann, zitiert nach Schroedter und Vetter
2. Anna Carina Böcker
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Habe das Buch, finde ich gut, dass du die Kritik am Kapital in den Mittelpunkt stellst und auf die materielle Grundlage heteronormativer Strukturen verweist. Als nächstes Lese ich von der Theorie.org-Reihe „Kritik am Familismus“. Mal sehen ob dort etwas aufgearbeitet wird, was hier an anderer Stelle versäumt wurde.
liebe genoss*innen:
ich finde es sehr wichtig uns als revolutionär*innen mit dem themenkomplex kapital/liebe/sexualität auseinanderzusetzten. ich finde aber in dieser rezension fehelen mehrere punkte:
1. die genossin geht hier nicht auf die durchaus inspirierenden kritiken (an zwanghaft monogamen romantischen zweierbeziehungen) und erfahrungsberichte auf die in dem buch reichlich eingegangen wird.
2. es wird nicht überzeugend erklärt warum das patrirachat mit dem privateigentum entstanden ist. das stimmt. es bräuchte hier aber für nicht eingeweihte eine schlüssige erklärung. ein verweis auf engels „zur entstehung der familie, des privateigentums und des staates“ (oder direktes zitat?) erscheint mir hier sinnig.
3. es wird nicht erläutert, dass das aufkommen der monogamen hete-ehe als grundstein der form wie sich klassengesellschaften aufgebaut haben. auch wird der wichtige punkt, dass „monogamie“ immer schon nur „monogamie für die frau“ hieß (again: verweis auf enegels) nicht beleuchtet. das macht eine ungleichheit der partner*innen in hete beziehungen bis heute fest. natürlich (ich meine damit in der patraicrhalen fanatasie!) wünschen sich alle typen „frei mit allen (frauen) vögeln zu können“. ist doch n traum! es wäre falsch wenn revolutionäre genossen jetzt auf das pferd aufspringen! so einfach ist das ganze nicht denn,
4. nicht-monogamie bedeutet vertrauen und fürsorge. auch loyalität. so verstehe ich es zumindest. was heißt es sich von zwanghafter (bürgerlicher) monogamie zu lösen? was kann dies für revolutionär*innen heißen? darauf wird leider überhaupt nicht eingegangen. es bleibt so stehen als ob mal alle entscheiden können auf was sie bock haben. und das ist dann einfach hippie kommune oder zwanghafte monogamie (beide als extremformen) als komplett legitim darzustellen, acuh ohne antikapitalistsiche analyse. das wäre falsch denke ich.
5. die kritik an dem begriff „polyamory“ wird nicht angeführt. dass es hier um „mehrfachliebe“ geht und oft von einer „poly“ szene über „schlampen“ und einfach mal aus spaß miteinander sex habende menschen hergezogen wird. liebe/sex fällt oft für poly leute zwanghaft zusammen. das ist wenig emanzipatorisch und schafft konservative gegenormen (liebe steht über allem). dass also auch ‚casual-sex‘ ok sein muss aus einer revolutionär marxistischen perspektive (soweit auf konsens etc.), kommt hier leider auch nicht vor, auch wenn diese kritik gerade in kommunistischen kreisen unbedingt notwendig ist (tendentiell konservative sexualmoral in meiner erfahrung)!!
6. die verbindung von privateigentum und dem anspruch auf exklusive „rechte“ auf die emotionen und den körper einer „geliebten“ person wird gar nicht beschrieben. was ist also die krtitk der autorin an zwanghafter (bürgerlicher) monogamie? das wird leider ebenfalls nicht deutlich.
7. der titel ist irreführend: zweierbeziehung = hetero, monogame, romatisch, sexuelle zweierbeziehung ist einfach eine falsche gleichung. passender fände ich „brauchen menschen monogamie?“.
ich finde das buch von schroedter/vetter tatsächlich sehr wichtig als beitrag zu einer debatte die kaum in linken kreisen geführt wird – zumindets nicht in marxistischen; denn in anarchistischen kontexten wird das thema poly/nicht-monogamie schon fast zu viel besprochen – es wird zu einem „revolutionären lifestyle“ erhoben, der nicht mehr mit einem gesamtgesellschaftlichem revolutionären anspruch zu tun hat.
einige gute bücher, die sich aus für uns marxist*innen brauchbaren perspektiven (marxistisch bzw. marxistisch angelehnt) mit dem themenkomplex liebe/sexualität/patriarchat/kapitalismus auseinandersetzen:
Srećko Horvat: The Radicality of Love
Erich Fromm: Haben oder Sein
Pierre Bourdieu: Die männliche Herrschaft
auch sehr empfehlen kann ich folgenden text aus anarchistischer perspektive:
Jamie Heckert: Love without borders? Intimacy, identity and the state of compulsory monogamy
https://theanarchistlibrary.org/library/jamie-heckert-love-without-borders-intimacy-identity-and-the-state-of-compulsory-monogamy
und die texte der anarchistin emma goldman hierzu; vor allem folgender kurzer artikel:
Emma Goldman: Jealousy: Causes and a Possible Cure
https://theanarchistlibrary.org/library/emma-goldman-jealousy-causes-and-a-possible-cure
leider haben kommunist*inne bis jetzt hierzu sehr wenig wissen generiert. ich finde den impuls gut durch die buchrezension solche debatten anzustoßen und finde es gut, dass dies auf eurer seite platz gefunden hat.
gespannt auf weiteren austausch!
hallo Genossin,
danke für die Kritik und auch die Literaturtipps.
Es gibt auch von marxistischer Seite einige Reflexionen über proletarische Sexualmoral, vor allem ist Alexandra Kollontai hier zu nennen.
Auch die Sexpol-Bewegung in der KPD vom (jungen) Wilhelm Reich, die Sexualkunde für Arbeiter*innen mit politischer Agitation verband.
Und um 1968 herum wurde viel dazu diskutiert.
Aber es stimmt, dass die heutige marxistische Linke relativ wenig darüber diskutiert. Wir schreiben auch selbst unsere ersten Artikel.
Ein Buch, das sehr viel in der Trotzkistischen Fraktion diskutiert wurde, behandelt die Russische Revolution und der Umgang mit Frauen, Familie, Kindererziehung und Sexualität:
Women, the State and Revolution: Soviet Family Policy and Social Life, 1917-1936
https://books.google.de/books?id=zD9p0pSBBv4C&printsec=frontcover#v=onepage&q&f=false
Das Buch gibt es auf Englisch, Spanisch und Portugiesisch.