Brasilien: Für einen Generalstreik gegen die Putschdemos und für die Rücknahme der reaktionären Reformen

09.01.2023, Lesezeit 10 Min.
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Abbildung: Jonas Pereira/Agência Senado/flickr.com Lizenz: CC-BY 2.0

Erklärung der Bewegung Revolutionärer Arbeiter:innen (MRT) aus Brasilien, Herausgeberin von Esquerda Diario und Teil des internationalen Zeitungsnetzwerks von Klasse Gegen Klasse, angesichts des rechtsextremen Putschversuchs in Brasilien.

Am Sonntag riefen Rechtsextreme in Brasilien zu einem Überfall auf den Kongress, den Palácio do Planalto (der Sitz des Präsidenten) und das Oberste Bundesgericht auf – ein klarer Putschversuch. Hinzu kamen einige Aktionen auf Autobahnen und in der Nähe von Raffinerien. Sie forderten den Eingriff des Militärs und stellten die Wahlen des letzten Jahres in Frage. Diese reaktionären Aktionen müssen angeprangert und durch die Mobilisierung der Arbeiter:innen und der Massen bekämpft werden, ohne sich auf die Kräfte des kapitalistischen Staates zu verlassen. Es ist dringend notwendig, dass die Führungen der Gewerkschaftsdachverbände, der Studierendenorganisationen und der sozialen Bewegungen zu einem landesweiten Streik und zu einem Kampfplan gegen die Putschversuche und für die Rücknahme der reaktionären Arbeits- und Sozialversicherungsreformen sowie aller Privatisierungen aufrufen.


Am Sonntag, acht Tage nach dem Amtsantritt des Präsidenten Lula, hatte die protofaschistische Basis der extremen Rechten erneut zu reaktionären Mobilisierungen in der Hauptstadt Brasilia aufgerufen. Die Planstadt liegt in einem speziellen Bundesdistrikt, Distrito Federal, dessen Verwaltung kein Teil der 26 Bundesstaaten ist. Die rechtsextreme Demonstration agierte mit dem Einverständnis oder der Unterstützung der Polizei und des Staatssekretärs für öffentliche Sicherheit (Bolsonaros ehemaliger Justizminister) und sogar der Regierung des Distrito Federals (die vom Richter Alexandre de Moraes für 90 Tage abgesetzt wurde). Sie schaffte es ohne große Schwierigkeiten, in die Paläste auf dem „Platz der drei Mächte“ (Präsidentenpalast, Oberstes Bundesgericht und Kongress) einzudringen. Die Räumlichkeiten des Obersten Bundesgerichts, des Amtssitzes des Präsidenten und seines Kabinetts, des Senats und der Abgeordnetenkammer wurden besetzt und verwüstet. Bilder zeigen, wie die Polizei die Demonstration bis dorthin eskortiert.

Seit Tagen war öffentlich bekannt, dass diese Demonstration stattfinden würde, was unterstreicht, dass es tatsächlich Unterstützung von Seiten der Polizeikräfte und der Regierung von Brasilia gab, damit diese Aktion überhaupt so stattfinden konnte. Das hatte man schon vor einigen Wochen gesehen, als dieselben rechtsextremen Kräfte – unter anderem auch in Brasilia – gegen die Anerkennung des Ergebnisses der letzten Präsidentschaftswahlen Busse in Brand setzten.

Die Medien erklärten, es handele sich um das brasilianische „Kapitol“ (in Anspielung auf die Stürmung des Kapitols in Washington DC in den USA durch Anhänger:innen von Donald Trump am 6. Januar 2021). Währenddessen sprachen sich mächtige internationale Figuren der imperialistische Zentren, wie der französische Präsident Emmanuel Macron, US-Außenminister Antony Blinken, US-Präsident Joe Biden selbst und zahlreiche Andere, darunter auch aus einigen lateinamerikanischen Ländern, gegen diese Aktion aus. Das liegt jedoch bei Weitem nicht an irgendeiner Wertschätzung der Demokratie, denn die imperialistischen Regierungen Frankreichs und der USA verurteilen diese Aktionen nur deshalb, damit sie ihre Gegner:innen im eigenen Land, wie Trump und Marine Le Pen, nicht ermutigen.

Die Ereignisse sind sehr frisch. Dennoch ist klar, dass diese Aktion außerhalb des realen Kräfteverhältnisses stattfand, das ihr mehr Unterstützung in der breiten Basis der extremen Rechte hätte verschaffen können. Im Gegenteil sieht es momentan so aus, als wäre dies eine weitere Aktion, die diesen radikalisierteren Teil der extremen Rechten von der Wähler:innenbasis, die Bolsonaro unterstützt hatte, trennen könnte. Das könnte dazu führen, dass verschiedene Flügel des Regimes sich im Sinne einer gemeinsamen institutionellen Antwort gegen diese Aktionen vereinen.

Dies würde folglich die Einheit des Regimes und des größten Teils der Bourgeoisie hinter der Lula-Alckmin-Regierung stärken, ebenso wie das Gefühl der nationalen Einheit gegen die extreme Rechte. Das könnte dafür sorgen, dass auch mehr rechte Maßnahmen und Personen innerhalb der eigenen Regierung toleriert werden. Eine solche Einigkeit mit den bürgerlichen Sektoren und den Institutionen des Regimes steht der Perspektive entgegen, dass die Arbeiter:innenklasse und die sozialen Bewegungen mit ihren eigenen Methoden in Aktion treten und damit die Forderungen der Arbeiter:innen und der breiten Massen auf die politische Tagesordnung bringen. Das ist jedoch der einzige Weg, um eine grundlegende Lösung für die Krise im Land zu finden und die extreme Rechte wirksam zu bekämpfen.

In der Zwischenzeit versucht Bolsonaro, der nach Orlando in die USA geflüchtet ist, sich über die sozialen Medien von den Aktionen zu distanzieren. Er muss für sie zur Rechenschaft gezogen werden. Nicht nur während der Wahlen, sondern während seiner gesamten Amtszeit und durch sein Schweigen nach der Wahlniederlage war ein zentraler Bestandteil seiner Politik, solche Pro-Putsch-Aktionen zu ermutigen.

Wie wir bereits sagten, wird die extreme Rechte nicht durch die Wahlen verschwinden. Sie hat sich aktiv gezeigt und will die Kräfteverhältnisse nach rechts verschieben. Ihre Kraft wird von der neuen Regierung genutzt, um die Erwartungen herunterzuschrauben und alle möglichen Zugeständnisse an die Rechte sowie eine Verschärfung autoritärer und repressiver Maßnahmen zu rechtfertigen.

Lula gab eine Erklärung über nationale Sender ab, in der er ein Eingreifen des Bundes in die öffentliche Sicherheit des Distrito Federal anordnete und die Institutionen des kapitalistischen Staates beauftragte, auf diese reaktionären Aktionen zu reagieren. Der Repressionsapparat des Staates hat seit dem institutionellen Putsch von 2016 das Wachstum rechtsextremer Kräfte begünstigt, und unsere Klasse sollte diesen Institutionen nicht vertrauen, als könnten sie „Verteidiger der Demokratie“ oder eine Antwort auf den Bolsonarismus sein. Sie sind ein Instrument zur gewaltsamen Eindämmung von sozialen Kämpfen und Arbeitskämpfen, auch wenn sie jetzt vorübergehend gegen bolsonaristische Aktionen gerichtet sind. Durch solche Maßnahmen wird das Kräfteverhältnis im Land weiter nach rechts verschoben, indem die Institutionen des Regimes und die autoritärsten Mechanismen als Garanten der Ordnung eingesetzt werden. Damit werden die Möglichkeiten einer unabhängigen Mobilisierung verhindert, die den Kampf gegen die reaktionären Reformen des Bolsonarismus und die Putschdrohungen zum Ausdruck bringen könnte.

Teile der institutionellen Linken wie die PSOL unterstützen die föderale Intervention im Bundesdistrikt uneingeschränkt und fordern, dass der Justiz-Bonapartismus, der den institutionellen Putsch von 2016 durchführte, „die Demokratie garantieren“ solle. Diese Haltung ist Ausdruck eines Vertrauens in dieses Regime und diese Institutionen, die sich früher oder später gegen die eigenen Arbeiter:innen und die Linke selbst wenden wird. Wir dürfen nicht vergessen, dass Marielle Franco während der föderalen Intervention des Putschisten Temer im Jahr 2018 ermordet wurde, neben unzähligen anderen Aktionen gegen die schwarze Bevölkerung und die Bewohner der Favelas. (Marielle war Stadträtin der Partido Socialismo e Liberdade (PSOL, deutsch Partei für Sozialismus und Freiheit) und Teil einer Kommission, die die Militärintervention überwachen sollte, wobei sie diese scharf kritisierte und kurze Zeit später ermordet wurde, A.d.Ü.). Erinnern wir uns an die Rolle der repressiven Kräfte in Brasilia gegen Arbeiter:innen und soziale Bewegungen, wenn sie ihre Mobilisierungen in Brasilia abhalten, wie wir es bei der brutalen Unterdrückung der Aktion gegen die Arbeitsreform im Jahr 2017 oder gegen die indigene Bevölkerung im Jahr 2021 gesehen haben.

Die Befürworter:innen des politischen Regimes, das durch den institutionellen Staatsstreich degeneriert wurde, reagieren und versuchen, den Bolsonarismus weiter einzudämmen. Rodrigo Pacheco, Präsident des Senats, Arthur Lira, Präsident des Unterhauses, und Mitglieder des Obersten Bundesgerichts haben entsprechende Erklärungen abgegeben.

Vor einigen Tagen erklärte der Verteidigungsminister der Regierung Lula, José Múcio, dass die Aktionen dieser rechtsextremen Basis, die vor den Kasernen der Streitkräfte zeltete, „Akte der Demokratie“ seien. Der Politiker, der aus der Arena, der Partei der Militärdiktatur, kommt, und von Lula ausgewählt und von den Militärs und Bolsonaro hochgepriesen wurde, erklärte auch, dass er Verwandte und Bekannte in diesen Sektoren hat.

Bislang haben sich die meisten Militärs, die die gesamte Regierung Bolsonaro gestützt hatten, nicht geäußert, weil diese Sektoren auch seine soziale Basis sind. Hamilton Mourão, Bolsonaros Vizepräsident und ehemaliger General, veröffentlichte einen Tweet, in dem er sich von den Aktionen distanzierte, und einen Tag vor Lulas Amtsantritt hatte er in einem nationalen Fernsehsender Bolsonaro für den Verfall der Streitkräfte verantwortlich gemacht, noch ohne dessen Namen zu nennen. Figuren des Bolsonarismus wie Tarcisio de Freitas, Gouverneur von São Paulo, mussten sich von der „Gewalt“ der Aktionen distanzieren und sagten, dass Widerstand und Demonstrationen friedlich verlaufen sollten. Ein Ausdruck davon, dass das derzeitige Kräfteverhältnis keine guten Voraussetzungen dafür bietet, dass Aktionen wie die von diesem Sonntag von der breiteren bolsonaristischen Basis unterstützt werden.

Es ist nicht möglich, die extreme Rechte zu bekämpfen, indem man sich mit ihr versöhnt, wie es die Lula-Regierung mit Figuren wie José Múcio oder Daniela do Waguinho versucht. Letztere ist Tourismusministerin in der Lula-Regierung mit guten Beziehungen zu den Milizen in Rio de Janeiro, die zudem der União Brasil angehört, der Partei, die Bolsonaro 2018 gewählt hat. Wir können den Kampf gegen die extreme Rechte weder der Polizei, die mehr als einmal zeigte, dass sie den Bolsonarismus schätzt, noch den Institutionen des kapitalistischen Staates und seinen autoritären Mechanismen überlassen. In der Vergangenheit hat die Klassenversöhnung der extremen Rechten nur mehr Raum verschafft. Aus diesem Grund müssen sich politische Organisationen, die links von der PT und der Bürokratie stehen, unabhängig von der Regierung positionieren, wie wir mit der PSOL diskutiert haben.

Unsere energischste Ablehnung all dieser Putschaktion verbindet sich damit, die beste Strategie für den Kampf gegen den Bolsonarismus festzulegen. Dieser Kampf muss mit den Methoden der Arbeiter:innenklasse und einer Einheitsfront der Arbeiter:innen geführt werden, was nur in Verbindung mit dem Kampf für die Abschaffung der Reformen und der Unterstützung laufender Kämpfe wie der Streik der App-Zusteller:innen am 25. Januar gelingen kann.

Deshalb ist es notwendig, dass die Gewerkschaftszentrale CUT, die Lulas Partido dos Trabalhadores (PT, deutsch Partei der Arbeiter:innen) nahesteht, und die anderen Gewerkschaftsdachverbände sofort ihre Lähmung durchbrechen und zu einem Generalstreik aufrufen und einen Kampfplan aufstellen. Dabei muss die Gewerkschaft der Mineralölarbeiter:innen ihre Basis gegen die ernsten Bedrohungen in den Raffinerien organisieren. Ihnen muss mit der Selbstorganisation der Ölarbeiter:innen von der Basis aus begegnet werden.

Der Slogan „Keine Amnestie“ für Bolsonaro und alle seine Anhänger:innen (wie man während der Zeremonie für den Amtsantritt Lulas hören konnte) muss auch den entschlossenen Kampf gegen die Arbeits- und Sozialversicherungsreformen, das uneingeschränkte Outsourcing-Gesetz und alle Privatisierungen bedeuten. In diesem Kampf müssen sich wichtige Teile der Arbeiter:innenklasse, wie die App-Lieferant:innen, die für einen nationalen Streiktag am 25. Januar mobilisieren, mit den sozialen Bewegungen vereinen und dieses Erbe des Putsches von 2016 und der Regierungen Temer und Bolsonaro rückgängig machen. Eine Garantie, dass es keine Amnestie gibt, können nur die unabhängigen Methoden des Klassenkampfes geben. Deshalb ist die Politik von Teilen der PT und der eigenen Gewerkschaften, die Mobilisierung der Lieferant:innen zu verurteilen, absurd.

Diejenigen, die sagen, dass die Mobilisierungen der Arbeiter:innen die extreme Rechte stärken werden, sind diejenigen, die sie selbst am meisten stärken. Deshalb wollen wir mit allen Arbeiter:innen und Jugendlichen dialogisieren, die gegen die extreme Rechte auf die Straße gehen wollen, um zu zeigen, dass der Ausweg nicht mit der föderalen Intervention im autoritären Wiederaufflammen der Verteidigung der bürgerlichen nationalen Einheit, sondern in einem unabhängigen Weg liegt.

Nur mit dieser unabhängigen Mobilisierung der Arbeiter:innenklasse, die Jugendliche, Frauen, Indigene, Schwarze und LGBT-Personen vereint, werden wir in der Lage sein, diesen reaktionären Mobilisierungen ein Ende zu setzen. Sie dienen nur dazu, das Projekt der extremen Rechten dauerhaft am Leben zu erhalten und ein hochgradig degeneriertes politisches Regime aufrechtzuerhalten, das Arbeiter:innen und arme Menschen in Hunger und Arbeitslosigkeit hält, während Unternehmer:innen und die Agrarindustrie Millionengewinne machen. Es ist notwendig, einen Kampfplan voranzutreiben, der an die Wurzel des Problems geht: damit die Kapitalist:innen für die Krise zahlen, damit die Putschdrohungen der extremen Rechten verhindert werden und damit wir gegen Unterdrückung und für die Verteidigung der Umwelt kämpfen können.

Diese Erklärung erschien zuerst am 9. Januar 2023 auf Portugiesisch bei Esquerda Diário.

 

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