Black Lives Matter: Ihre Gewalt und unsere

01.06.2020, Lesezeit 6 Min.
1
Protesters react as they set fire to the entrance of a police station as demonstrations continue after a white police officer was caught on a bystander's video pressing his knee into the neck of African-American man George Floyd, who later died at a hospital, in Minneapolis, Minnesota, U.S., May 28, 2020. REUTERS/Carlos Barria

Bürgerliche Politiker*innen jeder Couleur verurteilen Gewalt. Aber sie meinen niemals die tägliche Gewalt, die von der Polizei ausgeübt wird. Sie verurteilen den Widerstand gegen die Gewalt des Staates.

Die bürgerliche Gesellschaft hat eine sehr merkwürdige Art, über Gewalt zu sprechen. Als nach der Ermordung von George Floyd durch einen Polizisten tausende Menschen auf die Straßen strömten, um ihre Wut zum Ausdruck zu bringen und Gerechtigkeit zu fordern, veröffentlichte die bürgerliche Presse Artikel mit Schlagzeilen wie dieser: „Gewaltausbruch in Minneapolis nach Tod eines verhafteten Schwarzen“.

Was für eine skurrile Wortwahl! Die Schlagzeile verschweigt nicht nur, wie es zu diesem Tod kam. Offenbar ist es auch keine Gewalt, wenn ein Staatsbeamter einen gefesselten Mann zu Tode würgt. Nein, die Gewalt habe erst danach begonnen.

Diese Parteilichkeit verdeutlicht, wie die bürgerliche Gesellschaft funktioniert. Ein Schwarzer, der vom Staat ermordet wird, ist nicht weiter bemerkenswert; aber wenn Leute Sachen aus einem Discounter mitnehmen, ohne dafür zu bezahlen, ist das eine Katastrophe. Menschen sind entbehrlich, aber Eigentum ist heilig.

Tatsächlich behandelt die kapitalistische Gesellschaft jegliche strukturelle Gewalt als so vollkommen selbstverständlich, dass sie nicht einmal diese Bezeichnung verdient. Wenn Polizist*innen am helllichten Tag einen Mord begehen, kann dieser, wenn es ausreichende Proteste gibt, als „unverhältnismäßige Gewaltausübung“ verurteilt werden. Was aber, wenn sich die Polizei an alle Regeln und Gesetze hält? Wenn zum Beispiel eine Familie zwangsgeräumt wird – ist das keine Gewalt? Was ist mit einem Supermarkt, der hungrigen Menschen den Zugang zu Lebensmitteln verwehrt? Was ist mit einer Regierung, die es zulässt, dass 100.000 Menschen durch eine Pandemie sterben? Ist das keine Gewalt?

Bertolt Brecht hat es auf den Punkt gebracht: „Es gibt viele Arten zu töten. Man kann einem ein Messer in den Bauch stechen, einem das Brot entziehen, einen von einer Krankheit nicht heilen, einen in eine schlechte Wohnung stecken, einen durch Arbeit zu Tode schinden, einen zum Selbstmord treiben, einen in einen Krieg führen usw. Nur weniges davon ist in unserem Staate verboten.“

Als Reaktion auf die Proteste sprechen bürgerliche Politiker*innen sich jetzt gegen Gewalt aus. Aber natürlich meinen sie nicht die tägliche Gewalt, die von der Polizei ausgeübt wird. Sie beziehen sich nicht auf die Massaker, die vom US-Militär begangen werden, oder auf die wirtschaftlichen Verwüstungen, die von amerikanischen Konzernen angerichtet werden. Nein, ihre größte Sorge ist wie immer Sachbeschädigung.

So twitterte beispielsweise die progressive Demokratin Ilhan Omar, Abgeordnete im US-Repräsentantenhaus aus Minneapolis, am Donnerstag: „Wir sollten und müssen friedlich protestieren. Aber lasst uns den Kreislauf der Gewalt endlich beenden.“ Die demokratische Bürgermeisterin von Atlanta, Keisha Lance Bottoms, sagte: „Das ist nicht im Geiste von Martin Luther King Jr.“

Aber was war der Geist von Martin Luther King Jr.? Er war kein Sozialist, aber er hatte verstanden, dass unterdrückte Menschen sich gegen ihre Unterdrückung wehren müssen. Dafür wurde er von den politischen Verantwortlichen wegen seiner angeblichen Gewalt verurteilt. Am 12. April 1963 forderte eine Gruppe von acht Geistlichen King dazu auf, die geplanten Demonstrationen für Bürger*innenrechte in Alabama abzusagen. Sie bezeichneten die Demonstrationen als „vorschnell und unvernünftig“, weil sie „zu Hass und Gewalt aufstacheln, ungeachtet dessen, wie friedlich diese Aktionen im Einzelnen sein mögen.“ Sie prangerten die Mobilisierungen als „überzogene Maßnahmen“ an und schlugen vor, dass schwarze Menschen „friedlich Gehorsam leisten“ und sich auf die Justiz verlassen sollten.

Natürlich folgte King diesem Rat nicht. Er verteidigte die Aufstände als „die Sprache der Ungehörten“ und prangerte anschließend die entsetzliche Gewalt der US-Regierung in Vietnam an. Erst nach seiner Ermordung wurde King in eine harmlose Ikone verwandelt – eine Lichtgestalt, die angeblich nichts als passiven Widerstand predigte.

Progressive Demokrat*innen wie Omar rufen nicht zum Frieden auf – sie rufen die Menschen auf, dem System, das sie ermordet, friedlichen Gehorsam zu leisten. Omar will, dass die US-Bundesregierung die Polizeimorde untersucht. Doch jahrzehntelange Polizei-„Reformen“ haben nur gezeigt, dass diese Institution nicht reformiert werden kann. Die Polizei von Minneapolis wird von einem schwarzen Polizisten geleitet, der sie einst wegen ihrer rassistischen Praktiken verklagte. Und doch: Die kapitalistische Polizei kann selbst mit der fortschrittlichsten Führung keine andere Funktion haben, als kapitalistisches Eigentum zu schützen. Das bedeutet, die ärmsten Schichten der Arbeiter*innenklasse, insbesondere die Schwarzen, zu unterdrücken.

Als Sozialist*innen verurteilen wir Gewalt – wir verurteilen die Gewalt, die das kapitalistische System jeden Tag gegen Milliarden von Menschen verübt. Wir verurteilen es nicht, wenn die Arbeiter*innenklasse und die Armen beginnen, sich gegen die Gewalt dieses Systems zu wehren.

Ein Aufstand dient dazu, die Aufmerksamkeit der herrschenden Klasse zu gewinnen. Er kann sie sogar zu Zugeständnissen zwingen. Aber ein Aufstand kann das System der Unterdrückung und Ausbeutung nicht beenden. Dazu müssen wir die Wut auf den Straßen von Minneapolis mit sozialistischer Organisierung verbinden. Die Politiker*innen der Demokratischen Partei (auch diejenigen, die sich als „Sozialist*innen“ bezeichnen) werden die Menschen immer dazu auffordern, die Institutionen zu akzeptieren, die sie unterdrücken. Echte Sozialist*innen hingegen wollen Organisationen aufbauen, die unabhängig von der herrschenden Klasse, ihrem Staat und allen ihren Parteien sind.

Eine winzige Minderheit von Kapitalist*innen beutet die Arbeit der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung aus. Um ihre Herrschaft aufrechtzuerhalten, unterhalten sie einen enormen Repressionsapparat, einschließlich Polizei, Gefängnissen, Armeen, Gerichten usw. – das ist ihr Staat. Die Kapitalist*innen treiben unsere gesamte Zivilisation in die Katastrophe. Aber sie werden ihre Macht niemals freiwillig aufgeben. Während der gesamten Menschheitsgeschichte hat keine herrschende Klasse jemals einfach aufgegeben, ohne gestürzt zu werden. Wie Karl Marx schrieb: „Die Gewalt ist der Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht.“ Aus diesem Grund muss die Arbeiter*innenklasse den Formationen bewaffneter Menschen, die den Kapitalist*innen unterstehen, die Stirn bieten.

Wenn Arbeiter*innen eine Polizeistation in Brand stecken, werden die Medien der Kapitalist*innen das „Gewalt“ nennen – aber es ist nichts anderes als Selbstverteidigung gegen die tägliche Gewalt, die vom Kapitalismus verübt wird. Wir müssen den kapitalistischen Staat beseitigen und ihn durch eine Gesellschaft ersetzen, die von den Arbeiter*innen selbst geführt wird. Genau darum geht es in der sozialistischen Revolution. Und die Flammen auf den Straßen von Minneapolis zeigen, dass die sich verschärfende Krise des Kapitalismus die amerikanische Gesellschaft diesem Ziel ein kleines Stück näher treibt.

Dieser Artikel erschient zuerst bei LeftVoice am 31.05.2020. Übersetzung: Felix Leopold

Mehr zum Thema