Austritt aus Istanbul-Konvention: Erdoğan knechtet Frauen

20.03.2021, Lesezeit 4 Min.
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Foto: Huseyin Aldemir / Shutterstock.com

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat den Austritt aus der Istanbul-Konvention, die Frauen vor Gewalt schützen sollte, per Dekret vollzogen. Die Türkei hat seit Jahren die internationale Spitzenposition bei Feminiziden. Nun steht die Türkei vor großen Anspannungen.

Die Istanbul-Konvention wurde 2011 von der Türkei unterzeichnet. Die von der EU vorgelegte Konvention beinhaltet Rechtsnormen gegen Gewalt an Frauen und häusliche Gewalt. Viele Frauen in der Türkei haben sie seit Inkrafttreten im Jahre 2014 trotz des Widerstandes der türkischen Regierung in Anspruch genommen.

Seit langem forderten die islamischen und traditionellen Kräfte den Austritt aus der Istanbul-Konvention. Sie sagen, diese fördere die Homosexualität, die Auflösung der türkischen Familien und Scheidungen. Jegliches selbstbewusste Auftreten der Frauen wird von der AKP als eine Bedrohung ihrer Basis gesehen, wo Frauen traditionell die untergeordnete Rolle in der Familie darstellen. Die Zahlen zeigen die Realität der Familie:

2018 sind nach offiziellen Zahlen 440 Frauen von Männern ermordet worden, 2019 waren es 474. Im Jahr 2020 waren es 300 Frauen. Laut der Plattform „Wir stoppen die Frauenmorde“ (Kadın Cinayetlerini Durduracağız Platformu) waren 97 der Täter ihre Ehemänner (weitere 21 Ex-Ehemänner), 54 ihre Partner (weitere 8 Ex-Partner). 38 Frauen wurden von einem Bekannten, insgesamt 56 Frauen von Familienangehörigen ermordet. Das Verhältnis der übrigen 23 Männer zu den getöteten Frauen bleibt in der Statistik unklar. 181 Frauen wurden in der eigenen Wohnung ermordet.

Das türkische Gesetz 6284 wurde auf Grundlage der Istanbuler Konvention verabschiedet. Es zwingt gewalttätige Männer Abstand zu halten, stärkt den persönlichen Schutz und materielle Unterstützung der Frauen, gewährt ihnen darüber hinaus eine neue Identitätsnummer. In den letzten Jahren stand zur Diskussion, den Schutz der Frauen zu verbessern, die rechtlichen Grundlage auszuweiten und vorhandene Gesetze vollständig einzusetzen. Doch der türkische Staat hat mit allen Mitteln versucht, die Anwendung dieser Konvention zu verhindern und zu verzögern. So wurden zum Beispiel viele Beschwerden von Frauen abgewiesen und sie wurden wieder in ihre Wohnungen zurückgeschickt, in denen sie Gewalt erlebten.

Was bedeutet dieser Austritt?

Der Austritt aus der Istanbuler-Konvention bedeutet einen Rückschlag der Frauenbewegung in der Türkei. Dennoch ist sie nicht nur die Folge der sexistischen und reaktionären Frauenpolitik der AKP, sondern eine Folge der gesamten Entwicklung in der Türkei – besonders in den letzten Jahren. Diese Woche wurde gegen die drittgrößte Partei HDP ein Verbotsverfahren eröffnet. Die kriegerischen Umtriebe und Aktivitäten des türkischen Staates in Rojava, im Mittelmeer und im Arzach-Krieg stärken die reaktionären Kräfte in der Türkei. Es sind tausende politische Aktivist:innen, vor allem der HDP und kritische Journalist:innen in türkischen Gefängnissen. Die Unterdrückung der Universitäten in der Türkei, zuletzt der Boğaziçi Universität in Istanbul, zielt darauf, LGBTQ-Themen aus den Universitäten endgültig zu entfernen. Die Morde an Arbeiter:innen in der Türkei sind erschreckend hoch. Allein 2019 sind 1736 Arbeiter:innen auf ihrer Arbeitsstelle durch sogenannte Arbeitsunfälle ermordet worden. 98 Prozent von ihnen hatten keine Gewerkschaftsmitgliedschaft. In den letzten Monaten musste zwei Mal der Chef der Zentralbank und sein Schwiegersohn als Wirtschaftsminister zurücktreten. Erdoğan gelingt es nicht, die türkische Lira vor Verlust gegenüber ausländischen Diversen zu schützen.

Dieser schwierigen Lage versucht Erdoğan mit restriktiven Maßnahmen entgegenzutreten. Seit langem kann er den Massen keine reale Verbesserung ihrer Lage versprechen, daher fantasiert er gleichzeitig von zukünftiger Raumfahrt ins All und angeblich frisch entdeckten Gas- und Öl-Quellen in und um der Türkei. Laut Umfragen könnte er bei einer Wahl nicht mehr sein Amt behalten. Er schreckt nicht zurück, jegliche Maßnahmen zu ergreifen, um seine Basis zu konsolidieren und die „Anderen“ zu marginalisieren und zu kriminalisieren. Bisher hat nur der Krieg ihm geholfen, breitere Teile für sich zu gewinnen und die parlamentarische Opposition zu disziplinieren, die sowieso sehr national ausgerichtet sind, mit Ausnahme der HDP.

Doch Erdoğan ist geschwächt. Die Frage in der Türkei ist derzeit, wie lange die Corona-Maßnahmen einen Massenwiderstand gegen ihn und die AKP noch hinauszögern.

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