Augenzeugenbericht eines homophoben Überfalls mitten in Berlin

28.09.2016, Lesezeit 4 Min.
Gastbeitrag

Am Freitag Abend wurden zwei Männer in Berlin-Kreuzberg überfallen. Unsere Autorin hat das aus der Nähe beobachtet. Ein Gastbeitrag von Maria Hennig (Name geändert).

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FILE - The July 16, 2011 file photo shows two homosexual men holding hands during Christopher Street Day in Weimar, eastern Germany. Germanyís highest court ruled Tuesday, Feb. 19, 2013 that strengthens gay couplesí adoption rights.Germany has allowed same-sex couples to register civil partnerships that legally fall short of formal marriage since 2001. Until now, it allowed people to adopt a same-sex partnerís biological child _ but not that partnerís adopted child or stepchild. (AP Photo/dpa, Michael Reichel)

Im Dunkeln liegt ein Mensch am Boden. Tritt da jemand auf ihn ein?

Ich bin gerade mit dem Fahrrad um die Ecke gefahren. Langsam überblicke ich die chaotische Szene: Es sind drei Menschen. Der am Boden Liegende rappelt sich auf. Er taumelt auf die Strasse – direkt vor ein Auto. Er läuft auf hohen Absätzen und findet kaum Halt. Er schreit um Hilfe. Sein Begleiter ist panisch und trägt ähnlich unpraktisches Schuhwerk.

Ein dritter Mann hat wohl den ersten geschlagen. Bei mir setzen Berliner Reflexe ein. Ich springe vom Fahrrad und brülle: „Hey du Wichser! Was fällt dir ein!?!“ Aber der Schläger hat seinen Job für heute erledigt und trottet entspannt davon.

Das war am Freitag Abend um zwei Uhr in der Heinrich-Heine-Straße zwischen Mitte und Kreuzberg, mitten in Berlin. Bei der Berliner Polizei hört sich das trockener an:

Die Attackierten im Alter von 23 und 25 Jahren zeigten den alarmierten Polzisten in einem Krankenhaus an, dass sie gegen 2.00 Uhr in der Heinrich-Heine-Straße unterwegs waren. An der Kreuzung (…) begegneten sie einer dreiköpfigen Gruppe, ebenfalls junger Männer. Nach Angaben der Verletzten wichen diese zunächst auf die gegenüberliegende Straßenseite aus, um einem möglichen Konflikt aus dem Wege zu gehen. Aus der Personengruppe löste sich ein Mann, folgte den beiden und schlug zuerst den Jüngeren. Anschließend attackierte der Schläger den Älteren mit zwei Schlägen ins Gesicht.

Ich war nach einem langen Kneipenabend auf dem Weg nach Hause. Plötzlich sehe ich diese Szene. Eine Minute später hocke ich auf dem Gehsteig, mit einem in Tränen aufgelösten blonden Mann im Arm. Sein Freund mit dunklem Haar und aufgeschlagener Lippe sitzt auf meiner anderen Seite. Sein Blut tropft und tropft auf den Bordstein. Er ist verletzt und doch erstaunlich entspannt.

Ich wähle den Notruf. Aus dem tiefsten Inneren fange ich an zu heulen. Der Blonde seufzt: „Es ist alles meine Schuld!“ Seine rote Bluse ist am Arm zerrissen. „Ich habe gesagt, dass wir uns so anziehen könnten.“ Doch sein Freund bleibt cool: „Es ist nicht deine Schuld, das passiert einfach.“ Wir drei sitzen da wie Waisenkinder im Schnee und weinen – bis die Notruf-Warteschleife mich nach einer Ewigkeit durchstellt. Nach einer Viertelstunde kommt ein Krankenwagen. Als die Polizei erscheint ist der Täter längst durch den Park in irgendeiner Seitenstraße verschwunden.

Meine Erkenntnisse in diesem Moment kann ich kaum in Worte fassen. Furchtbar, mit welcher Selbstverständlichkeit diese jungen Männer einer Welt gegenüberstehen müssen, die bereit ist, sie umzubringen, wenn sie Highheels tragen wollen. Furchtbar, dass man dieses Risiko ganz rational abschätzen kann. 105 homophobe Angriffe wurden 2015 in Berlin zur Anzeige gebracht, 38 davon Gewaltdelikte. Die Aufklärungsquote liegt bei 42%. Von den Gewalttäter*innen, die ermittelt wurden, sind 94% männlich. (Ein Verein schätzt die Zahl homophober Übergriffe im Jahr 2015 auf 259.)

Eigentlich waren beide Jungs auf dem Weg in den Kit Kat Club, bevor das Abendprogramm durch eine Gruppe homophober Männer in das Urban-Krankenhaus verlegt wurde. Am folgenden Abend treffe ich die Jungs wieder. Ich warte mit einer Freundin im Südblock auf die beiden. Sie kommen mit dem Taxi – nach einem solchen Vorfall trauen sie sich nicht mehr auf die Straße.

Jetzt sind wir in einem Ort, an dem sich alle sicher fühlen. Beide Jungs haben Probleme mit homophoben Familien – eine mormonisch, die andere muslimisch. Wir scherzen darüber, welche wohl schlimmer ist. Dann wollen wir den zweiten Versuch wagen: in den Kit Kat Club. Das hatte ich für den Abend gar nicht vorgesehen. Aber Berlin hätte hier einen Ruf zu verlieren und wir werden den Homophoben nicht die Stadt überlassen.

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