Argentinien-Wahl: Die Krise der traditionellen Parteien hat der extremen Rechten den Weg geebnet

16.08.2023, Lesezeit 7 Min.
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Foto: Ilan Berkenwald / flickr.com

Am Sonntag gewann der rechtsextreme Javier Milei überraschend die argentinischen Vorwahlen. Warum das kein Zufall, sondern ein Ausdruck der Polarisierung nach rechts ist, und darüber, welche Rolle die Linke spielt.

Am Sonntag wurde in Argentinien gewählt. Bevor im Oktober an den Wahlurnen entschieden wird, ermöglichten die Vorwahlen (PASO) den Argentinier:innen, die Kandidat:innen auszuwählen, die dann antreten können. Von den 17 Kandidat:innen, die an den PASO teilnehmen, können nur fünf politische Koalitionen bei den allgemeinen Wahlen im Oktober antreten. Darüber hinaus konnten die Wähler:innen sich auch zwischen den Politiker:innen entscheiden, die sich innerhalb der verschiedenen parteipolitischen Zusammenschlüsse hatten aufstellen lassen.

Die Ergebnisse bringen eine tiefe politische Polarisierung im Land zum Ausdruck. Überraschenderweise gewann der extrem Rechte Javier Milei die Wahl mit fast 30 Prozent der Stimmen. Ein enormer Erfolg für die ultra-liberalen Ökonom:innen, die sich selbst als „Libertäre“ bezeichnen. Milei ist durch sein aufbrausendes Temperament und seine heftigen Ausfälle gegen die „Kaste“, aber auch gegen Frauenrechte oder die Unterstützung für Arbeitslose bekannt geworden. Mit 28 Prozent der Wähler:innenstimmen wurde die „klassische“ politische Rechte, Juntos Por el Cambio (JxP), zweitstärkste Kraft. Die Nase vorn hatte Patricia Bullrich, die die Rechte bei den Wahlen im Oktober vertreten wird.

Die regierende peronistische Partei hingegen steht vor einer tiefen Krise. Sie hatte den amtierenden Wirtschaftsminister Sergio Massa aufgestellt, der als Favorit für die Präsidentschaftswahlen gelten sollte. Während er bei den internen Wahlen gegen Juan Grabois auch deutlich gewann, konnte die Unión por la Patria (UxP) aber insgesamt nur 27 Prozent aller abgegebenen Stimmen auf sich vereinen. Die linke Frente de Izquierda y de los Trabajadores (FIT-U) erhielt landesweit 2,7 Prozent der Stimmen, wobei die von Myriam Bregman von der Partido de los Trabajadores Socialistas (PTS) angeführte Liste die internen Wahlen der FIT-U gegen die von Gabriel Solano von der Partido Obrero (PO) deutlich gewann. Die Liste der FIT-U wird die einzige landesweite politische Kraft sein, die sich im Oktober gegen die von allen anderen Kandidat:innen unterstützten Austeritätspläne stellt.

Wahl geprägt von Kapitalisierung der sozialen Wut durch die Rechte

Diese Ergebnisse geben einen Eindruck davon, wie tief die Wirtschaftskrise ist und welche Auswirkungen sie auf das politische Panorama hat. Denn hinter der reaktionären Flutwelle kam am Sonntag die tiefe Unzufriedenheit mit den zwei historischen Regierungskoalitionen des südamerikanischen Landes zum Ausdruck, die Millionen spüren. JxC war aus Cambiemos entstanden – ein Wahlbündnis, das den „argentinischen Bolsonaro“, Ex-Präsident Mauricio Macri, ins Amt gehoben hatte. Zusammen mit dem linkspopulistischen Peronismus erhielten die Konservativen nun eine Quittung für all die Krisen, für die sie die volle Verantwortung tragen. Aufgrund der galoppierenden Inflation gingen die Reallöhne in den letzten Jahren stetig zurück. Die Rezession schlägt sich auch in einem deutlichen Anstieg der Armutsrate und einer massiven Verschlechterung der Lebensbedingungen der Bevölkerung nieder.

UxP hatte davon gesprochen, dass mit dem Amtsantritt von Alberto Fernández im Jahr 2019 wieder „glückliche Zeiten“ anbrechen würden. Die Fußball-Weltmeister:innen würden sich das Grillen wieder leisten können, ihre Kühlschränke würden voll sein. Doch der Peronismus an der Regierung verfolgte eine Politik, die durch Sparmaßnahmen und die Abwertung des Pesos gekennzeichnet war. Eine Politik der vollständigen Unterordnung unter den Internationalen Währungsfonds (IWF), der dem hoch verschuldeten Land eine ultraliberale Politik diktierte. Gleichzeitig nahm genau diese politische Kraft durch ihren Einfluss auf die wichtigsten Gewerkschaften eine große Rolle bei der Eindämmung der allgemeinen gesellschaftlichen Verärgerung ein. Zusammen verhinderten sie, dass sich die Beschäftigten und die verarmte Bevölkerung auf der Straße ausdrücken konnten.

In diesem Zusammenhang profitierte Milei von der finanziellen und medialen Unterstützung, die er seit 2019 von den großen Medienkonzernen erhalten hatte. Diese haben somit aktiv zum Aufbau eines extrem konservativen politischen Klimas beigetragen. Mileis Erfolg ist in diesem Sinne Teil eines umfassenderen Rechtsrucks fast aller argentinischen Parteien und trägt dazu bei, die politische Agenda auf die Flexibilisierung der Arbeit, des Abbaus öffentlicher Arbeitsplätze und die Dollarisierung zu konzentrieren, die allesamt verheerende Folgen hätten.

In dieser Hinsicht ist es zwar unbestreitbar, dass ein nicht unbeachtlicher Prozentsatz der Bevölkerung der Ideologie Mileis zustimmt. Doch existiert auch eine deutliche Diskrepanz zwischen der Anzahl der für ihn abgegebenen Stimmen und der tatsächlichen Unterstützung für sein reaktionäres Programm. Diese zeigt sich unter anderem im Auseinanderklaffen des Erfolges des Kandidaten bei den Präsidentschaftswahlen und dem viel niedrigeren Ergebnis seiner Provinzabgeordneten. Das Gefälle deutet auf das Primat des Anti-Establishments und damit auf den Willen hin, die politischen Allianzen zu bestrafen, die das Land an den Abgrund getrieben haben. Daher geht der Aufstieg der Rechten auch mit einem Anstieg von Nichtwähler:innen einher.

So erklärt auch Eduardo Castillo La Izquierda Diario:

In ideologischer Hinsicht ist die Wahl von Milei Ausdruck eines Erstarkens des Individualismus in Teilen der Gesellschaft. Dies ist bis zu einem gewissen Grad ein logisches Ergebnis. Im Laufe der letzten Jahre waren die gewerkschaftlichen und sozialen Organisationen kein Vehikel für die Lösung wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Probleme. Im Gegenteil: Sie waren ein riesiges Hindernis auf dem Weg, diesen Forderungen Ausdruck zu verleihen. […] Jedoch kann die Wahl Mileis nicht linear als ein Rechtsruck in jeder Hinsicht gelesen werden.

Die Linke bereitet sich auf den Oktober vor

Die FIT-U konnte fast 630.000 Stimmen auf sich vereinen. Der Kampf um die Repräsentation der Wahlfront fand dabei zwischen der PTS (Teil der FT und damit Schwesterorganisation von Klasse Gegen Klasse) und Izquierda Socialista (Teil der UIT-CI) auf der einen Seite und der PO und dem Movimiento Socialista de los Trabajadores (MST, Teil der LIS) auf der anderen Seite statt. 70 Prozent der FIT-U-Wählenden brachten Bregman den Sieg über Solano.

So scheint die Formel „Myriam Bregman plus Nicolas del Caño“, die auf den Wahlscheinen im Oktober stehen wird, der einzige Vorschlag zu sein, der sich den Kürzungsplänen von JxC und UxP widersetzt. Letztere hatten beide für den IWF und die großen Wirtschaftsgruppen regiert. Aber unsere Genoss:innen sind auch die Einzigen, die klar darauf hinweisen, dass die argentinischen Eliten von Milei bis Massa gerade eine Scheindebatte führen. Denn es ist in erster Linie eine Debatte darüber, wie genau die Angriffe auf die Lohnabhängigen und die Bevölkerung in Argentinien aussehen sollen. Schließlich präsentiert nur die FIT-U einen echten Notfallplan zur Überwindung der Krise: Beginnend mit der Verweigerung, die Auslandsschulden zu bezahlen, über eine Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich und die Verteilung der Arbeit auf alle Schultern sowie den Widerstand gegen die Ausplünderung der natürlichen Ressourcen des Landes wie Lithium durch ausländische Großkonzerne bis hin zur Verteidigung der Rechte von Frauen und Queers gegen die reaktionäre Agenda der rechten Kräfte.

Dieser Artikel erschien zuerst am 15. August 2023 auf Französisch bei Révolution Permanente.

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