„Hier atmen wir den Kampf“ – Landbesetzungen in Argentinien

15.10.2020, Lesezeit 10 Min.
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„Acá se respira lucha“ bedeutet so viel wie „Hier atmen wir den Kampf“. So ließe sich die Situation im eine Stunde Autofahrt von Buenos Aires entfernten Guernica beschreiben, wo Tausende aus der Not heraus ein seit Jahrzehnten ungenutztes Stück Land zu ihrem Zuhause gemacht haben und verteidigen.

Bild: La Izquierda Diario.

Was bisher geschah

Auch in Argentinien hat die Pandemie schon zuvor bestehende Ungleichheiten verschärft: Durch Massenkündigungen verloren vier Millionen ihre Arbeitsplätze und die Arbeitslosigkeit stieg von zehn auf 13 Prozent an. Lohnkürzungen, die Intensifizierung der Prekarisierung und die nicht ausreichenden staatlichen Hilfen haben dazu geführt, dass inzwischen 40,9 Prozent der Bevölkerung als arm eingestuft werden. Viele von ihnen konnten daher ihre Miete nicht mehr zahlen, mussten aus ihren Wohnungen ausziehen. In der verzweifelten Suche nach einem Weg aus dieser untragbaren Situation, haben Tausende ungenutzte Ländereien besetzt.

Im Fokus der Besetzungen steht seit fast zwei Monaten Guernica – eine Kleinstadt im Großraum Buenos Aires, die in etwa 45 Kilometer von der Metropole entfernt ist. Am Stadtrand haben ca. 2.500 Familien Häuser gebaut, aus allem, was sie noch hatten oder gefunden haben. Inzwischen ist die Besetzung zu einem eigenen Viertel geworden. Genauer gesagt sind es sogar vier, in denen die 10.000 Menschen, von denen 3.000 Kinder und Jugendliche sind, leben. Eine Erhebung ihrer Daten hat ergeben, dass die meisten von ihnen informell arbeiten oder arbeitslos und viele (alleinerziehende) Frauen sind, die vor patriarchaler Gewalt fliehen mussten.

Wem die Ländereien gehören, ist unklar. Obwohl kein Eigentumsnachweis vorgelegt werden konnte, bereitet die vermeintlich progressive Regierung unter Präsident Alberto Fernández (Frente de Todos) eine Räumung des Geländes vor. Das ist insofern nicht verwunderlich, dass die einzige Reaktion seitens Justiz und bürgerlicher Politik seit Wochen aus Kriminalisierung, Stigmatisierung und der Räumungsdrohung besteht. Deren Datum wurde als Produkt des anhaltenden Widerstands seitens der Besetzer:innen sowie solidarischen, linken Parteien, Menschenrechtsorganisationen und Einzelpersonen bereits zwei mal verschoben. Nichtsdestotrotz sollen die Bewohner:innen der Viertel ab heute, dem 15. Oktober, abtransportiert werden – wenn nötig mit Gewalt.

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Diese sind keineswegs Straftäter:innen, auch wenn das der Hauptinhalt des vorherrschenden Diskurses in den bürgerlichen Medien ist. Vielmehr stellen sie einen der von der Gesundheits- und Wirtschaftskrise am Härtesten getroffenen Teil der Arbeiter:innenklasse dar – und gleichzeitig momentan den, der sich am vehementesten wehrt. Denn ob sie wollen oder nicht, stellen sie mit der Ankündigung, sich gegen jegliche Repression wehren zu wollen, das Privateigentum infrage. Etwa 20 Prozent der Bevölkerung sind ebenfalls der Überzeugung, dass das Recht auf Wohnraum für die große Mehrheit gegenüber der reichen Minderheit, die sich im Vorort gated communities und Wochenendvillen bauen, zu verteidigen ist.

Was wäre wenn, …

… geräumt würde?
Auch wenn es ein erster Erfolg des Kampfes war, die Vertreibung herauszuzögern, ist nicht auszuschließen, dass sie nicht verhindert werden kann. Es ist jedoch auch nicht von der Hand zu weisen, dass die Regierung dann hohe Kosten zu zahlen hätte. Denn unter den übrigen 80 Prozent, die heute noch behaupten, die Räumung zu unterstützen, gibt es zweifelsohne einen Teil, der mit ihr brechen würde. Mit der Polizei und dem Militär, die Bewohner:innen allein durch ihre Präsenz seit Langem belagert, schikaniert und somit bewusst einschüchtert, gegen Tausende von unbewaffneten Menschen vorzugehen, ist eine Sache. Sie in dem Wissen, dass sie keinen Ort haben, an den sie dann ziehen können, auf die Straße zu setzen, eine andere. Einem Sektor der Bevölkerung, die noch Illusionen in die Regierung haben, würde somit sicherlich ein für alle mal klar, dass es statt individuellen Lösungen für ein strukturelles Problem kollektive braucht.

… Guernica siegt?

Die Regierung fürchtet, dass sich das Phänomen ausweiten könnte, wenn sie es nicht tut. Sie versucht deshalb vergeblich, die Bewohner:innen zu spalten und zu ermatten. Zwei der vier Viertel existieren schon länger als die anderen beiden. Ihre Bewohner:innen sind besser organisiert und vernetzt. Viele der Regierung relativ nahestehende, populistische Gruppen organisieren seit Monaten Suppenküchen, aber auch Plena. In diesen benennen sie sich allerdings nicht selten bürokratischerweise selbst zu Delegierten, um sich so die Führung des Kampfes zu sichern. Doch bereiten sie sich weder selbst noch jene, die sie angeblich vertreten, ernsthaft auf diesen vor. In Bezug auf die Räumung ist die Rede von Menschenketten.

Wenn wir uns vor Augen führen, dass sie den Bewohner:innen auch nahe gelegt haben, schlechte Angebote anzunehmen, ist das weniger überraschend. Vertreter:innen der Provinzregierung (der Regierungspartei angehörig) hatten einigen 50.000 Pesos (550 Euro) zugesichert, um auf dem Grundstück von Familie oder Freund:innen zu bauen, anderen Plätzen in Notunterkünften versprochen, „falls sie nicht woanders unterkommen können“ und allen, sich für Sozialwohnungen zu registrieren – ganz so, als ob sie das nicht schon jahrzehntelang wären. Ihr Zynismus kennt dabei keine Grenzen. Denn wer es sich im Garten von Bekannten hätte gemütlich machen können, wäre heute sicherlich nicht in einer Hütte, die Regen nicht standhalten kann. Und inmitten einer Pandemie, in der das südamerikanische Land Platz drei der Liste mit den meisten Fällen pro Einwohner:innenzahl einnimmt, ist das fast eine Beleidigung.

Der Ausgang des Kampfes um das offensichtlicherweise niemandem gehörenden Gebiet am Stadtrand Guernicas, das aber zweifelsohne Spekulationsobjekt ist, wird die politische Situation der nächsten Monate bestimmen. Eine Niederlage würde die Bosse darin bestärken, Arbeits- und Lebensbedingungen weiterhin und wahrscheinlich sogar noch stärker zu beschneiden. Ein Triumph hingegen würde die gesamte Arbeiter:innenklasse stärken. Er würde ein Beispiel dafür setzen, dass kämpfen sich lohnt. Dass wir, die Klasse, die von unserer Arbeit lebt, Angriffe erfolgreich abwehren können und die Erkenntnis mit sich bringen, dass uns das nur vereint gelingt.

Was tun?

Hand aufs Herz. Das Fünftel der Bevölkerung, das hinter Guernica steht, ist nicht viel. Doch auch wenn es nicht einfach ist, gegen den Strom zu schwimmen, gilt es, nicht aufzugeben.

Die Partei der Sozialistischen Arbeiter:innen (PTS) hat noch Atem. Seit Beginn der Besetzung gibt ihre Zeitung La Izquierda Diario den Bewohner:innen, die gerade eine beschleunigte Erfahrung mit einer Regierung machen, die sie größtenteils selbst ins Amt gewählt haben, eine Stimme. Die für die Partei im Parlament sitzenden Abgeordneten haben sich vor Ort ein Bild gemacht und den Kämpfer:innen ihre volle Unterstützung zugesagt. Dort setzen sie sich konsequent sowohl für eine Besteuerung großer Vermögen als auch für ein Ende der Zahlung von Auslandsschulden an den Internationalen Währungsfond ein – denn mit einem Neuntel von dem, was allein in diesem Jahr an den IWF abgegeben wurde, könnte ein ernsthaftes Programm sozialen Wohnungsbaus für alle problemlos finanziert werden. In Reden proklamierten sie zudem die Notwendigkeit von Einheit – nicht nur der Menschen aus den verschiedenen Vierteln vor Ort, sondern auch die der Arbeiter:innen, die von der Krise noch nicht so hart getroffen wurden mit all jenen, die momentan arbeitslos sind, für Tochterfirmen oder direkt ohne jegliche vertragliche Absicherung schuften.

Unsere Genoss:innen riefen aus demselben Grund alle von der Krise betroffenen Sektoren zu Mobilisierungen auf, wie dem Virus tagtäglich ausgesetzte Arbeiter:innen; die sich seit ihrem Beginn organisierende, prekarisierte Jugend; Angehörige von Opfern staatlicher Gewalt; Student:innen, die aus ökonomischen Gründen ihr Studium pausieren oder gar aufgeben mussten; Frauen und Migrant:innen. Einerseits, um den Rechten die Straßen streitig zu machen, die auf der in die Geschichte eingegangenen Plaza de Mayo Masken verbrennen; die wenigen Fortschritte in Bezug auf die Legalisierung von Abtreibung ablehnen; Vicentin, ein Unternehmen, das enteignet werden sollte, verteidigten und sich dementsprechend auch im aktuellen Konflikt auf der Seite des Kapitals verorten. Andererseits, um die materielle Kraft der Linken zu zeigen, die über Tausende organisierte Mitglieder in Gewerkschaften, Universitäten und Nachbarschaften verfügt.

Neben einer aktiven Politik in Richtung der Gewerkschaften, Betriebsräte, Asten, Intellektuellen, Künstler:innen und sonstigen öffentlichen Figuren dahingehend, dass sie sich gegen die Räumung und für das Recht auf Wohnraum aussprechen, mobilisieren und an den zahlreichen Unterstützungskampagnen teilnehmen, sind die Mitglieder der PTS zusammen mit ihrer Peripherie aber vor allem oft selbst nach Guernica gereist. Dort haben sie sich moralisch und materiell solidarisch gezeigt. Zusammen haben sie den Bewohner:innen Sach- und Geldspenden zukommen lassen. Ärzt:innen, Krankenpfleger:innen, Medizinstudent:innen und Auszubildende haben ein Erste-Hilfe-Zelt aufgebaut und (werdende) Psycholog:innen Beratungsangebote geschaffen. Auch Lehrer:innen, Sozialarbeiter:innen und Pädagog:innen haben ihre Kenntnisse jenen zur Verfügung gestellt, die sie im Gegensatz zur Bourgeoisie wirklich gebrauchen, indem sie die Kinder vor Ort unterrichteten und ihnen spielerisch ihre Rechte beibrachten.

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Die Frage, wie der Kampf ausgeht, hängt also von der Kraft der Besetzer:innen und der solidarischen Linken und Arbeiter:innen statt. Doch unabhängig von dem Ausgangs dieses Kampfes hat sich wieder einmal gezeigt, dass kapitalistische Regierungen – selbst die, die sich als „progressiv“ geben –, wenn es hart auf hart kommt, die Interessen der Konzerne und Großgrundbesitzer:innen verteidigen werden. Die Pandemie, die in Lateinamerika besonders hart wütet, verschärft die Widersprüche in der ohnehin schon ungleichsten Region der Welt.

Die Stärkung von Kräften, die auf der Straße, in den Betrieben und im Parlament dafür kämpfen, dass die Kapitalist:innen für die Krise zahlen, wird notwendig sein, damit Guernica und die zukünftigen Besetzungen siegen und das Recht auf Wohnen verteidigt wird. Diese Kraft baut die PTS gemeinsam mit anderen Parteien in der Front der Linken und der Arbeiter:innen – Einheit (FIT- Unidad) auf. Auch in Deutschland, wo die Pandemie die soziale Ungleichheit und die Wohnungsnot verstärkt, hat sich gezeigt, dass die etablierten Parteien keine Antworten auf diese Frage liefern wollen. Es bedarf einer Kraft unabhängig der Regierungsparteien, die sich kompromisslos für die entschädigungslose Enteignung der Immobilienkonzerne und einen durch Reichensteuern finanzierten massiven sozialen Wohnungsbau einsetzt.

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