Argentinien: „Die Bosse wollen, dass wir eine Krise zahlen, die wir nicht verursacht haben“

04.03.2021, Lesezeit 5 Min.
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Seit 90 Tagen kämpfen in Argentinien hunderte Arbeiter:innen des Callcenters Hey Latam gegen die Schließung des Unternehmens. Jetzt kämpfen sie für die Gründung einer Kooperative, die ihr Wissen für die Bedürfnisse der Gesellschaft einsetzt, wie zum Beispiel Telefonhotline 144, die sich mit Fällen von geschlechtsspezifischer Gewalt befasst, oder die Covid-19-Impfung. Unsere Genossin Inés In hat einen Arbeiter des Callcenters interviewt.

Inés: Ich bin heute in Rosario, vor dem Gebäude des Call Centers Hey Latam, mit Emir, der für die Firma gearbeitet hat und uns ein bisschen von dem Arbeitskampf erzählen wird.

Emir: Hallo, wie geht’s euch allen? Mein Name ist Emir und ich bin einer der 301 Entlassenen des Call Centers Hey Latam, das ihr hinter mir sehen könnt. Vor zwei Tagen haben wir in einer Vollversammlung entschieden, die Räume des Unternehmens friedlich zu besetzen, nachdem dieses fälschlicherweise Insolvenz angemeldet hat.

Erzähl mir ein bisschen von euch.

Emir: Wir Arbeiter:innen organisieren uns seit April 2020, weil das Unternehmen mit Suspendierungen angefangen hat. Wir entscheiden alles in Vollversammlungen, haben verschiedenste Instanzen auf den Weg gebracht, viele Rechtsstreits gewonnen, obwohl der CEO Martín Stauffer uns kriminalisieren wollte.

Wie war der Tag heute?

Als allererstes sind wir nach Buenos Aires gefahren, zum Kühlhaus ArreBeef, das von dessen Beschäftigten besetzt wurde, vor dem Hintergrund, dass 1000 Personen auf die Straße gesetzt werden sollten. Wir sind dahin gereist, um unsere Unterstützung und Solidarität zu bringen, weil wir denken, dass die Vereinigung der Kämpfe der Schlüssel dafür ist, um die Bosse zu besiegen, die wollen, dass wir eine Krise bezahlen, die wir Arbeiter:innen nicht verursacht haben.

Danach hat hier in unserem Camp erst ein Treffen von zurückeroberten Fabriken und Kooperativen stattgefunden, das uns sehr gut gefallen hat und sehr produktiv war; und jetzt ein Festival.

Ich finde es sehr beeindruckend, wie viel Solidarität euch erreicht hat, sogar aus anderen Ländern, von anderen Sektoren der Arbeiter:innenklasse, Student:innen. Ich hab gesehen, dass sogar der Rektor der Universität hergekommen ist – wie kam es dazu?

Es ist unglaublich, wie viel Unterstützung wir erhalten bzw. erkämpft haben, v. a. von Student:innen, mit denen wir sehr gut vernetzt sind. Da das ein Call Center ist, sind die meisten von uns jung. Alle von uns sind auf diese Arbeit angewiesen, um zu studieren, unser Lebensprojekt zu konkretisieren und weil viele von uns aus Kleinstädten kommen, um in dieser Stadt wohnen, die Miete zahlen und essen zu können. Außerdem sind viele von uns Eltern, die natürlich ihre Kinder ernähren müssen. So kam es, dass wir viel Unterstützung verschiedener Sektoren eingeholt haben.

Einer der wichtigsten Sektoren waren Student:innen, die von Anfang an dabei waren. Im Laufe der 90 kämpferischen Tage, die hinter uns liegen und dadurch, dass wir immer bekannter wurden, sind immer mehr ASten und studentische Gruppen aller möglichen Parteien, Arten und Strömungen dazu gekommen. Vor Kurzem kam es daher zu einem Treffen mit der gesamten Studierendenschaft der Universität von Rosario, Instituten, in denen auf Lehramt studiert wird und anderen, das sehr gut und produktiv war, weil breit dazu aufgerufen wurde, sodass nicht nur Studis, sondern auch Dozent:innen kamen.

Wir haben gefordert, dass uns Arbeiter:innen Stipendien gegeben werden, weil wir seit Dezember keinen Lohn mehr erhalten, aber von diesem Job abhängen, um studieren, um unser Lebensprojekt fortführen zu können. Und wir haben von Anfang an gefordert, dass der Rektor der Uni, die hier eine der wichtigsten Institutionen ist, vorbeikommt. Eine Woche später haben wir das erreicht. Hier hat er uns versprochen, uns Sichtbarkeit zu verleihen und alle Maßnahmen, die wir im Kampf ergreifen, zu unterstützen. Außerdem versprach er, uns Lebensmittel zukommen zu lassen, damit wir hier im Camp was zu essen haben.

Die letzte Frage, die ich dir stellen möchte, ist: Was werdet ihr jetzt tun?

Wir haben den Insolvenzrichter gebeten, dass er uns zuhört, also Verhandlungen ermöglicht, dass er uns mit all jene Werkzeuge ausstattet, die wir brauchen, um als Kooperative agieren zu können. Da wir Arbeiter:innen natürlich fähig sind und alle nötigen Kenntnisse und Server haben, fordern wir von der Regierung der Stadt, der Provinz und des Landes, dass sie unsere Arbeitsplätze sicherstellen, weil wir essentielle Arbeiter:innen sind:

Wir können im Kontext der Wirtschafts- und Gesundheitskrise eine wichtige Rolle spielen. Wir könnten Impftermine vergeben – wir alle wissen, dass diese telefonisch vergeben werden und man niemanden erreicht – oder 144-Notrufe wegen genderspezifischer Gewalt entgegennehmen.

Deshalb fordern wir vom Staat, dass sie gewährleisten, dass wir arbeiten können – es steht in ihrer Macht.

Vielen Dank, Emir!

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