Arbeiter:innen gegen Apps

31.07.2021, Lesezeit 10 Min.
1
Sao Paulo 25. Juli, 2020. Lebensmittellieferant:innen und Transportdienstleistungsarbeiter:innen protestieren gegen Arbeitsbedingungen der App-Firmen. Arbeiter:innen fordern bessere Bezahlung und Gesundheitsmaßnahmen. | Bildquelle: BW Press / Shutterstock.com

Der Kampf gegen den US-Plattformriesen Amazon und der erste lateinamerikanische Streik gegen eine Liefer-App bei Rappi. Ein Rückblick.

Eine junge Frau tritt energisch in die Pedale ihres Fahrrads. Sie ist in eine unübersehbare neon-orangefarbene Uniform gekleidet und trägt eine große Schachtel in der gleichen Farbe als Rucksack. Ein Beifahrer in einem schlecht geparkten Auto öffnet ohne zurückzublicken die Tür, die Frau hat keine Zeit zu reagieren, prallt auf und fällt zu Boden, wobei sie mehrere Prellungen erleidet. Als sie wieder auf die Beine kommt, schaut sie auf ihr Handy und seufzt genervt: Die Liefer-App, für die sie arbeitet, hat sie gerade für eine Stunde gesperrt. Sie hat den Auftrag nicht erfüllt. Sie ist blockiert.

Die Szene könnte gut aus einer Folge von Black Mirror stammen, der britischen Serie, die mit ihren technologischen Dystopien das Publikum fasziniert. Aber nein, sie ist echt. Von dem Vorfall erzählte eine Arbeiterin von Rappi, einer Liefer-App, in der argentinischen Radiosendung Radio Con Vos von Alejandro Bercovich im Juli 2018. Dort berichtete sie zusammen mit einem Kollegen über etwas, das man als doppeltes Novum in Argentinien bezeichnen könnte: den ersten Streik gegen eine Plattform einerseits; den Kontext des Aufstiegs der Gig Economy im Land andererseits. Doch was ist die Gig-Economy oder – um einen genaueren Begriff zu verwenden – der Plattform-Kapitalismus? Dazu schauen wir uns die Beispiele von Amazon und Rappi an.

Amazon: Kampf gegen den Reichsten

Jeff Bezos, der reichste Mann der Welt – mit einem Vermögen von 200 Milliarden Dollar –, ist der Gründer und CEO von Amazon, einem Internetunternehmen, das aufgrund seiner Größe nur mit Google, Facebook und Apple verglichen werden kann. Es handelt sich um ein Unternehmen, das E-Commerce und Online-Computerdienstleistungen anbietet.

Amazon verfügt in dutzenden Ländern über 175 Lagerhäuser, in denen sich Millionen von Produkten unterschiedlichster Art sammeln. Sein Ziel ist es, dass die Nutzer:innen von ihrem Computer oder Handy aus bestellen können, was sie wollen, und es in kürzester Zeit erhalten, unabhängig davon, wo sie sich auf der Welt befinden. Diese Fähigkeit hat das Unternehmen jedoch nicht nur wegen seiner weltumspannenden Größe, sondern auch wegen der Beziehung zu seinen Beschäftigten. In diesem Sinne äußert sich die Historikerin und Journalistin Josefina L. Martinez in einem Artikel der Zeitschrift Contexto:

Das Geheimnis von Amazon liegt nicht nur in einem beispiellosen logistischen Netzwerk, sondern auch in der starken Prekarisierung seiner Arbeiter:innen. Gleichzeitig versucht das Unternehmen mit dieser globalen Struktur die Auswirkungen von Streiks zu begrenzen.1

Bezos‘ Unternehmen beschäftigte 2020 weltweit knapp 1,3 Festangestellte in Voll- und Teilzeit. Dazu kommen Leiharbeiter:innen, die für kurze Zeiträume eingestellt werden, beispielsweise vor Weihnachten, und oft eingesetzt werden, um Streiks zu brechen. Seit Jahren finden unregelmäßig Streiks gegen die schrecklichen Arbeitsbedingungen in der Paketlogistik statt. Martinez erklärt:

In Wirklichkeit verbirgt sich hinter Amazons ‚innovativem‘ Narrativ eine Ausbeutung, die eher an das 19. Jahrhundert erinnert, mit Tausenden von prekären Arbeiter:innen in großen Lagerhäusern in verschiedenen Ländern der Welt.2

Da Amazon international strukturiert ist, kann das Unternehmen zum Schutz seiner Gewinne bei Konflikten die Verteilung der Waren auf andere Logistikzentren innerhalb oder außerhalb des Landes umleiten. Doch inzwischen nehmen die lokalen Konflikte internationale Dimensionen an, wie beispielsweise die Streiks der Arbeiter:innen des riesigen Lagerhauses in der spanischen Stadt San Fernando de Henares im Jahr 2018.

Auslöser der Konfrontation war der Versuch des Unternehmens, die Arbeitsverträge einseitig zu ändern, was ein Einfrieren der Löhne und eine Beschneidung der erkämpften Rechte zur Folge hatte: Beispielsweise wurde die Möglichkeit eingeschränkt, Krankheitstage zu beantragen, was bei einer Tätigkeit, die aufgrund ihrer körperlichen Anforderungen ständig „kaputte“ Arbeiter:innen hervorbringt, dringend notwendig ist.

Die Besonderheit des Konflikts war, dass es enorme Solidaritätsbekundungen von Arbeiter:innen aus anderen europäischen Ländern gab. Bei den 48- und 72-stündigen Arbeitsniederlegungen im März bzw. Juli 2018 erhielten die Arbeiter:innen von San Fernando Unterstützung von ihren deutschen Kolleg:innen – die in sechs Logistikzentren solidarisch streikten – und von ihren polnischen Kolleg:innen, die beschlossen, nur Dienst nach Vorschrift zu leisten.

Obwohl Amazon an seiner Entscheidung festhielt, die Arbeitsverträge zu ändern und die Arbeiter:innen von San Fernando noch prekärer zu machen, stellen die verschiedenen Kampfaktionen wertvolle Erfahrungen dar, die die Möglichkeit eröffnen, das Kräfteverhältnis zu verändern. Die Internationalisierung des Kampfes im Angesicht einer wahrhaft globalen Krake ist in diesem Sinne ein Fortschritt.

Auch in Deutschland kämpfen Amazon-Arbeiter:innen seit Jahren gegen den Online-Riesen und fordern unter anderem einen Tarifvertrag. Über den langen Kampf bei Amazon haben wir bei Klasse Gegen Klasse viel geschrieben. Aktuelle Artikel dazu finden sich unter diesem Link.

Rappi: der erste lateinamerikanische Streik gegen eine App

Rappi ist ein kolumbianisches „Online-Lieferunternehmen“, das im März 2018 nach Argentinien kam. Es handelt sich um eine mobile App, die Benutzer:innen und Zusteller:innen miteinander verbindet und einen Prozentsatz der Kosten für jede Lieferung einnimmt. Ungewöhnlich ist, dass die Arbeiter:innen von Rappi nicht nur ihre persönlichen Handys und ihre eigenen Fahrräder oder Motorräder benutzen, sondern auch Uniformen und Rucksäcke von der Firma selbst kaufen müssen! Das ist nicht nur finanziell profitabel für Rappi: Es ist auch eine Möglichkeit, kostenlos auf der Straße zu werben, da die Kleidung ihr Logo (und einige unglaubliche Slogans wie „Wir liefern mit Liebe“) trägt.

Die Anmeldung als Fahrer:in in dieser Anwendung ist einfach: Lade die App herunter, gib deinen Ausweis oder, wenn man Ausländer:in ist, ein Aufenthaltsdokument an, lade ein Foto hoch und rufe dann ein Training auf. Ulises Valdez betont in einem Artikel in La Izquierda Diario:

Die Option, ein Aufenthaltsdokument angeben zu können, ist nicht zufällig: Viele junge Migrant:innen haben keine andere Wahl, als diese prekären Jobs anzunehmen.3

Es ist in der Tat sehr schwierig, einen festen Arbeitsvertrag zu bekommen, wenn man sich in dieser Situation befindet. In einem Radiointerview in der Sendung El Lobby bestätigt Roger Rojas, ein Rappi-Mitarbeiter und venezolanischer Einwanderer, diese Aussage:

Man kann sagen, dass bei diesen Apps mehr als 50 oder 60 Prozent Migrant:innen sind, die doppelt so viele Bedürfnisse haben, weil sie niemanden im Land haben, der sie unterstützt. Wir sind Menschen, die, wenn uns etwas zustößt, allein sind. Und das führt dazu, dass sich viele von uns für die Angst entscheiden und sich nicht äußern.4

Doch genau das taten sie am 15. Juli 2018: Sie hielten – im wahrsten Sinne des Wortes – „das Motorrad an“ und erhoben ihre Stimme gegen das kolumbianische Unternehmen. In einem Bericht auf dem Twitter-Profil La Cartelera de Trabajo haben diese jungen Leute ihre Situation und – ungewollt – die aller Arbeiter:innen in der App-Welt auf eine einfache Formel gebracht: „Wenn sie uns als Freiberufler:innen betrachten, sollen sie uns nicht kontrollieren. Wenn sie uns kontrollieren, sollen sie uns als abhängig Beschäftigte bezahlen“. Natürlich hat jede:r Kurier:in unter den Allgemeinen Geschäftsbedingungen von Rappi eine „freiwillige“ Beziehung zur Plattform: Er verbindet sich, wann er will, er kann Aufträge ablehnen, und sie hat keinen Einfluss auf seine Verdienstmöglichkeiten oder seine Leistung.

Da diese Apps jedoch nicht auf Zusammenarbeit, sondern auf Profit aufbauen, trat bald die „unsichtbare Hand des Algorithmus“ auf den Plan. Maria Fierro, eine Rappi-Mitarbeiterin, erzählte in Bercovichs Sendung, wie die Plattform begann, Aufträge umzuverteilen und die schlechtesten Fahrten den erfahrensten Kurier:innen zuzuweisen, um neuere Fahrer:innen mit profitableren Fahrten zu gewinnen. Außerdem sank, wenn ein:e Rappi-Fahrer:in eine Fahrt nicht annahm, seine Punktzahl, sein Rang, so dass er:sie weniger Aufträge erhielt.

Diese Manipulation der Spielregeln war es, die zusammen mit der Unsicherheit, dem körperlichen Risiko (Rappi stellt keinen Schutz wie Helme oder Knieschoner zur Verfügung und übernimmt bei Unfällen keine Verantwortung.) und den langen und anstrengenden Tagen die Wut eskalieren ließ und schließlich den Konflikt auslöste. Über eine Whatsapp-Gruppe organisierten die Fahrer:innen einen Streik während der Hauptarbeitszeit. Ihre Methode war es, sich an bestimmten Punkten in Buenos Aires zu versammeln, die App zu aktivieren, aber keine Bestellungen entgegenzunehmen.

Rappi erfuhr von dem Protest im Voraus und erhöhte für diesen Tag den Anteil, den jede:r Arbeiter:in pro Lieferung bekommt, um den Protest zu sabotieren. Die Protestmaßnahme war jedoch erfolgreich und bedeutete Chaos für das Unternehmen, das die vielen Aufträge nicht bewältigen konnte. Dies zwang das Unternehmen am Folgetag an den Verhandlungstisch, wo die Arbeiter:innen zusammen mit Vertreter:innen der Lieferant:innen-Gewerkschaft eine Liste von Forderungen vortrugen, wie z.B. eine Erhöhung des Wertes jeder Fahrt, die Abdeckung des Berufsrisikos und Transparenz bei der Zuteilung von Lieferungen.

Auch nach dem ersten Streik gegen eine Plattform im Land sind die Probleme der Rappi-Fahrer:innen noch lange nicht gelöst. In jedem Fall ist es erwähnenswert, dass dieses üble Spiel der App (die sich maßgeblich auf gesetzliche Schlupflöcher und die staatliche Förderung dieser prekären Arbeitsplätze stützt) eine erste Grenze gefunden hat – und zwar die unabhängige Organisation der Arbeiter:innen, die für ihre Forderungen zu kämpfen. Es bleibt abzuwarten, wie sich die Gewerkschaftsbürokratien gegenüber diesem neuen Sektor der Arbeiter:innenklasse verhalten werden, bei dem alles darauf hindeutet, dass er weiter wachsen wird.

Dieser Artikel ist eine gekürzte Version des Beitrags „Die alten Wege des neuen Plattform-Kapitalismus“ von Julian Tylbor, der auf Spanisch erstmals 2018 bei La Izquierda Diario erschien. Für die deutschsprachige Übersetzung wurden Kürzungen vorgenommen und Zahlen aktualisiert.

Fußnoten

1. „¡Bienvenida, clase obrera! Huelgas simultáneas en Amazon Europa“, revista Contexto, 18.7.2018. Eigene Übersetzung.

2. „Amazon: 48 horas de huelga contra ‚el peor empleador del mundo’“, revista Contexto, 20.3.2018. Eigene Übersetzung.

3. „Rappi: así funciona la empresa de pedidos online que ya tuvo su primer paro en Argentina“, La Izquierda Diario, 17.7.2018. Eigene Übersetzung.

4. Verfügbar bei Radiocut.fm.

Mehr zum Thema