(Anti-)deutsche in der Legitimationskrise
In den vergangenen Monaten kam es in Deutschland vermehrt zu innerlinken Konflikten mit den sogenannten „Antideutschen“. Selbst Strömungen und Medien, die bislang eine eher passive Haltung zu diesem komplexen nationalen Phänomen eingenommen hatten, zeigen sich mehr und mehr entsetzt über die offene Zusammenarbeit mit der Staatsgewalt und die Sympathien für den Neofaschismus. Ein Gastbeitrag von Ramsis Kilani.
Doch wenn es um die Suche nach Ursachen geht, bleibt die Empörung oft auf halber Strecke stehen, indem sie alles auf den Rassismus dieser Szene herunterbricht. Die Risse, die inner- sowie außerhalb antideutscher Kreise entstehen, haben jedoch nur am Rande mit deren internen Widersprüchen zu tun, die schon seit geraumer Zeit relativ unbehelligt nebeneinander existieren. Hinter der Vertiefung dieser Risse steht mehr: Sie sind ein Nebenprodukt der Krise des deutschen Staates und des kapitalistischen Wirtschaftssystems insgesamt.
Gar nicht mal so „anti“deutsch! – Antideutsche und der Staat
Die Widersprüche von Antideutschen in ihrem Verhältnis zum deutschen Staat, das im Eigennamen verbalradikal, in der Tat aber oft alles andere als das ist, sind allgegenwärtig. Zur Veranschaulichung, wie sich das in der Praxis äußern kann, helfen aktuelle Beispiele:
Am 27. Juli fand in Berlin als Alternative zum kommerziellen Christopher Street Day (CSD) auch der „Radical Queer March“ statt. Im Vorfeld reagierte das Organisationsteam auf Antisemitismus-Vorwürfe gegen mögliche Teilnehmende. Es setzte die zivilgesellschaftliche Kampagne für die Menschenrechte der palästinensischen Bevölkerung „Boycott, Divestment and Sanctions (BDS)“ mit Antisemitismus gleich. In Reaktion darauf planten vorwiegend migrantische Linke einen „Queers for Palestine“-Block. Die Veranstaltenden des „Radical Queer Marches“ sahen sich aufgrund der hohen Resonanz gezwungen, zurückzurudern und sich für ihre Äußerungen zu entschuldigen. Im Demozug kamen schließlich über 500 arabische, schwarze und jüdische Queers sowie Unterstützende im pro-palästinensischen Block zusammen. Einzelne Antideutsche griffen Demonstrierende an und versuchten erfolglos Plakate herunter zu reißen. Veranstalterinnen sprachen darüber hinaus mit der Polizei, die daraufhin den pro-palästinensischen Block umzingelte, in dem sich überwiegend Menschen befanden, die regelmäßig Erfahrungen mit Racial Profiling und Polizeigewalt machen. Die spärlichen Überbleibsel des „Radical Queer Marches“ zogen trotz entrüsteter „It’s not radical to call the police!“-Rufen weiter. Das anarcho-feministische Zentrum, in dem die Afterdemo-Party stattfinden sollte, sah darin ebenfalls einen Verrat an der vorgegebenen Radikalität und dem Geiste des Stonewall Riots und sagte die anschließende Feier ab: „Keine Bullen bei Pride! Wir denken nicht, dass es Zeit für eine Party ist, nach dem, was heute in #radicalqueermarch passiert ist. Also sagen wir die Party bei #Liebig34 ab.“
Solche Zusammenarbeit mit der deutschen Staatsgewalt und ihren Repräsentanten ist eine bekannte Erscheinung der letzten Jahre. Im Juni 2017 wurde in Frankfurt eine Konferenz des Koordinierungskreises Palästina Israel (KoPi) abgehalten, bei der unter anderem die israelischen Historiker Ilan Pappé und Moshe Zuckermann sprachen. Unter anderem in einer Allianz mit dem CDU-Bürgermeister Uwe Becker und rechtsgerichteten Kräften wie Honestly Concerned oder dem Internetportal haOlam versuchten antideutsche Gruppen die Veranstaltung zu verhindern. Unter dem Slogan „›Palästina‹, halt’s Maul!“, den sie auch auf einem Banner propagierte, rief die Studierendengruppe „Thunder in Paradise“ zur Teilnahme an einer Gegenkundgebung auf, die von der rechten Pressure-Group Honestly Concerned angemeldet worden war. Zuvor starteten Personen aus dem Umfeld von „Thunder in Paradise“ einen Angriff auf dem Frankfurter Uni-Campus und demolierten einen Palästina-Infostand. Die Gewaltbereitschaft der Antideutschen und ihre Zusammenarbeit mit Rechten führte zu verstärkter Mobilisierung von links. Mehr als hundert Menschen sammelten sich vor dem gefüllten Veranstaltungsgebäude, um die Konferenz vor Störungen der rechten Gegenkundgebung zu schützen.
Auch an anderen deutschen Universitäten ist der AStA beziehungsweise StuRa oft von einer deutlich antideutschen Ausrichtung bestimmt. An der Uni Bonn organisierte das Referat für politische Bildung des AStAs im Rahmen des festival contre le racisme („Festival gegen Rassismus“) 2019 Vorträge, die sich selbst durch ihre Nähe zu rassistischen und rechten Positionen auszeichneten. Zu Zeiten, in denen die AfD in Teilen Deutschlands Gefahr läuft, 30 Prozent des Stimmenanteils zu erhalten und Geflüchtete regelmäßig Angriffen zum Opfer fallen, sah es der Bonner AStA als seine besondere Pflicht, vor dem „Antisemitismus junger Geflüchteter aus dem Nahen Osten“ zu warnen. Außerdem wurde mithilfe der Leugnung des hegemonialen antimuslimischen Rassismus erklärt, „[w]arum wir über den Islam nicht reden können“. Das war eine völlig neue Qualität der Anbiederung an rechte Ideologie. Aber auch „antirassistische“ fclr-Reihen an anderen deutschen Hochschulen transportierten Inhalte, die einen nicht-rassistischen Antisemitismusbegriff erfanden oder die kapitalistische Unterdrückungsform des Rassismus insgesamt in einem weiten Sammelsurium der „Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ untergehen ließen und relativierten.
Veranstaltungen wie diese sind keine Seltenheit und sie können nicht nur ideologische Schützenhilfe für deutsche Regierungen und den Rassismus der bürgerlichen Mitte leisten, sondern sie bilden überdies gefährliche Brücken zum Neofaschismus. In Leipzig trug Thomas Maul 2018 im antideutschen Zentrum Conne Island vor. Seine offene Sympathie für die Neue Rechte war zu dieser Zeit bereits bekannt. Wochen zuvor hatte Maul eine Rede von Alexander Gauland (AfD) geteilt und geschrieben, die AfD erscheine „immer wieder“ und „objektiv als EINZIGE Stimme der Restvernunft im Deutschen Bundestag“. Er beklagte sich über die linke „Dämonisierung der AfD“. Kurze Zeit nach dem Vortrag im Conne Island erklärte der Dresdner Politikwissenschaftler Werner Patzelt im BILD-Interview, dass die Sächsische CDU mit der AfD koalieren müsse, damit sie „sich nicht von den Parteien links von der CDU erpressbar“ mache. Die AfD in Sachsen befindet sich fest in der Hand des faschistischen „Flügels“ unter Höcke. Linke starteten in Reaktion auf die Entwicklungen die Kampagne „Conne Island Boykott – Keine Bühne für Querfront und Neue Rechte“. Bei der diesjährigen Landtagswahl in Sachsen erhielten die CDU und die AfD zusammen über 59 Prozent.
Ein letztes Beispiel liefern die Razzien gegen Aktive des maoistischen Jugendwiderstands Mitte dieses Jahres. Diese wurden von Antideutschen nicht nur begeistert aufgenommen, sondern darüber hinaus im Vorfeld durch eigene Recherchen, die Veröffentlichung von Namen, Fotos, Wohnorten und Arbeitsplätzen von vermeintlich Aktiven der Gruppe unterstützt. Eine anonyme Aktivistin aus dem Umfeld des Jugendwiderstands zieht im Interview mit der Jungen Welt Bilanz: „Das ist in dieser Form ein Novum. Da kommen Leute daher, die sich selbst als ›Linke‹ ausgeben und einfach den Job des Staates übernehmen, eine revolutionäre Gruppe ausforschen, um anschließend Repressionen gegen diese zu fordern. Bei allen Differenzen und Auseinandersetzungen, die es schon immer und zu jeder Zeit unter linken Gruppen gegeben hat: Das ist ein Tabubruch.“ Selbst bei linken Strömungen, die antideutsche Tendenzen bislang geduldet hatten, fand diese Position Widerhall: Trotz aller politischen Differenzen mit dem Jugendwiderstand herrschte Unverständnis für die antideutsche Unterstützung des Verfassungsschutzes, in dessen Reihen Hans-Georg Maaßen bei weitem nicht der Einzige mit rechtsextremem Gedankengut war und ist. Es gab breite Solidarität mit den Aktiven des Jugendwiderstands, die unter anderem aufgrund von Aktionen gegen einen Neonazi-Aufmarsch polizeilichen Repressionen ausgesetzt wurden. Die erhöhte Aggressivität und die offenere Bindung der antideutschen Szene an den deutschen Staat ist kein Zeichen ihrer Stärke, sondern im Gegenteil ein Symptom des Verlustes an Relevanz.
Soziale Kämpfe entziehen Antideutschen die historische Legitimationsbasis
Eine Ursache dafür, dass Antideutsche jüngst vorrangig durch solche Aktionen in Erscheinung treten und sich die Konflikte zuspitzen, ist das vermehrte Aufflammen sozialer Kämpfe, die mit linken Themen verknüpft sind. Während die vergangenen Jahre eine Durststrecke für die deutsche Linke dargestellt haben und rassistische Mobilisierung die Straße dominierte, bestehen mittlerweile gleich mehrere Bewegungen und Bündnisstrukturen, die aus linker Sicht unterstützenswert sind: Fridays for Future, Frauen*streik und #unteilbar beispielsweise. All das sind breit aufgestellte Protestwellen, die sich für gesellschaftlichen Wandel einsetzen und Zehntausende von Menschen auf die Straße bringen. Etwas also, mit dem große Teile der Antideutschen nicht umgehen können und wollen: Massenbewegungen.
Das hat historische Ursachen. Antideutsche Theorien und Praktiken haben sich in der Zeit nach der Wiedervereinigung entwickelt, die mit dem seit den späten 70er-Jahren währenden Zerfall der internationalen und insbesondere deutschen Linken zusammenlief. Vor allem im neu in die Bundesrepublik eingegliederten Ostdeutschland ging die Wende mit verlorenen Kämpfen gegen Sozialabbau und einem allgemeinen Ohnmachtsgefühl einher. Der deutsche Sozialist Volkhard Mosler weist darauf hin, dass in solchen Phasen Ideen, die die Werktätigen als revolutionäres Subjekt verwerfen, Zulauf erhalten: „Soziologische Theorien über das Ende der Arbeiterklasse sind nicht neu. Sie erfreuen sich aber schwankender Popularität. Sucht man nach den Ursachen für die Schwankungen dieser Popularitätskurve, dann ist zuerst natürlich das Auf und Ab der Klassenkämpfe selbst zu nennen.“
Mit dem Aufkommen realer Kämpfe, die Teilerfolge erzielen können, wird der antideutschen Ideologie eine ihrer Legitimationsgrundlagen entzogen. Menschen machen auf der Straße wieder die Erfahrung, dass sie selbst ihre Geschichte machen und dass in ihren gemeinsam geführten Kämpfen das Potential steckt, Antisemitismus, andere Formen des Rassismus und weitere Unterdrückungsverhältnisse des kapitalistischen Systems sowie der Klassengesellschaft zu überwinden. Antideutsche können ihnen nichts anbieten außer Theorien, die im Widerspruch zu ihren real gemachten Erfahrungen stehen. Die wenigen Antideutschen, die dennoch in neuen Bewegungen und Bündnissen aktiv werden, tun sich in der Regel vielmehr durch hinderliche Spaltungsversuche hervor als durch die Qualität ihrer politischen Arbeit. Diese Versuche der Spaltung führen mittlerweile seltener zu Aktionen gegen die von Antideutschen angegriffenen marginalisierten Minderheiten, sondern im Gegenteil häufiger zur Isolation, dem Ausschluss oder dem selbstgewählten Ausstieg der antideutschen Akteure selbst.
Trotz der anfänglich günstigen gesellschaftlichen Verhältnisse ist stets deutlich gewesen, dass eine Strömung, der in weiten Teilen Elemente wie die Ablehnung von breiter Organisierungs-, Bewegungs- und Basisarbeit sowie ein ausgeprägtes Sektierertum innewohnt, sich nicht auf Dauer reproduzieren könnte. Was die antideutsche Ideologie konservieren konnte, war der Umstand, dass sie sich in einer krisengeplagten autonomen Szene mit unzureichender theoretischer Aufarbeitung und einer studentischen Elite mit bürgerlichem Hintergrund festsetzen konnte. Dieses Zusammenlaufen hat langfristig aber auch dazu beigetragen, dass sich die antideutsche Subkultur heute in einen mehr oder weniger unpolitischen, hedonistischen Lifestyle entwickeln konnte. In dieser Szene fehlt praktische Bewegungsarbeit und der Kontakt zu Menschen außerhalb des eigenen Kreises meist völlig. Ein nicht unbedeutender Umstand, der Antideutsche und Menschen, die antideutschen Argumentationsmustern aufliegen oder sie tolerieren, anfälliger für eine konterrevolutionäre Haltung macht, ist ihre soziale Basis, die Klassenlage. Der absolute Großteil ist weiß, männlich, in so gut wie jeder Hinsicht privilegiert und studiert, oft im gesellschaftswissenschaftlichen Bereich. Für viele kann so die theoretische Ideologieproduktion im Sinne der herrschenden Klasse eine relativ komfortable Nische innerhalb des Kapitalismus bieten.
(Anti-)Deutsche Widersprüche in der Krise
Beim Umgang mit den daraus erfolgenden Widersprüchen gilt es zu differenzieren. Den offener rassistischen und rechten Unterströmungen der Antideutschen, die sich beispielsweise um die Zeitschrift Bahamas oder das Zentrum Conne Island formieren, fiel es leichter, den eigenen Widersprüchen zu begegnen: Sie entledigten sich stückweise der verbleibenden progressiven Elemente, lehnten teils die Eigenbezeichnung als links ab, kritisierten die CDU-Bundesregierung von rechts und traten in direkten Austausch mit Neofaschisten. Der Erfinder der Selbstbezeichnung „antideutsch“, Jürgen Elsässer, ist heute bekennender Rechtspopulist. Andere schreiben mittlerweile für den Springer-Verlag.
Schwieriger hatten und haben es hingegen solche, die sich selbst als „Linksantideutsche“ oder „antinational“ etikettieren. Dazu gehören auch solche, die diese Bezeichnung sogar vehement abstreiten, aber trotzdem antideutsche Argumente reproduzieren, die im Rest der internationalen Linken völlig undenkbar wären. Ein Grund für interne Schwierigkeiten liegt in der allgegenwärtigen Zereißprobe, der die eigenen Widersprüche ausgeliefert sind: „Antikapitalismus – Aber sicher doch! Nur bitte rein im ›Abstrakten‹, ohne die Machtfrage zu stellen, ohne zu akzeptieren, dass es eine herrschende Klasse gibt, in der ganz konkret Menschen von der Ausbeutung anderer profitieren. Kommunismus – Gerne! Aber doch bitte ohne Aufstand der verarmten Massen, denn sie sind der Keim des Antisemitismus und Faschismus. Auch ohne die Einbindung jüdischer Menschen – sie müssen sich in einem isolierten Ethnostaat, einem ›Schutzraum‹, sammeln und ihm vehement die Treue schwören, weil jüdische Menschen irgendetwas an sich hätten, dass es ihnen unter jeglichen gesellschaftlichen Umständen unmöglich macht, mit nicht-jüdischen Menschen zusammenzuleben und weil man Antisemitismus nicht bekämpfen geschweige denn überwinden kann. Refugees Welcome und Antirassismus – na, logo! Aber eben nicht überall und nicht für die größte Flüchtlingsgruppe der Welt!“ So sind zwar auch weite Teile des liberalen Flügels der Antideutschen im Inland gegen den rassistischen Pegida-Wahn von ethnischer Bevölkerungsmehrheit und einem angeblichen „Volkstod“. Im Falle Israels, dessen jüdische Mehrheit durch Massenvertreibung und die Verhinderung des Rückkehrrechts von Geflüchteten überhaupt erst erzwungen wurde, teilen sie ihn aber. Die Forderung nach einem kapitalistischen jüdischen Kolonialstaat als vermeintlichen ›Schutzraum‹ führt im Endeffekt dazu, dass revolutionären jüdischen Linken die Daseinsberechtigung abgesprochen wird, Jüdinnen und Juden aus linken Bewegungen ausgeschlossen werden sollen und Antideutsche jüdischen Menschen paternalistisch vorschreiben, nationalistisch und rechts sein zu müssen, um ihre Aufgabe zu erfüllen. Es führt auch dazu, dass Antideutsche quasi keinen Kontakt zu jüdischen Linken und jüdischen Menschen im Allgemeinen haben, so dass eine reine Fetischisierung eines abstrakten Bild ›des Juden‹ entsteht. Im Ernstfall muss dadurch bei vielen Antideutschen tatsächlich selbst die Rede von im Kern antisemitischen Ideen sein.
Trotz alledem bleibt bei sogenannten „Linksantideutschen“ aber weiterhin der Versuch bestehen, die Deutungshoheit über das zu erlangen, was „Linkssein“ bedeuten soll und besonders infolge der faschistischen Umtriebe im Conne Island brach der Konflikt zwischen „Rechtsantideutschen“ und „Linksantideutschen“ stärker auf. Inwieweit aber eine begriffliche Unterscheidung der beiden Konfliktparteien für linke Außenstehende Sinn macht, bleibt fraglich. In der Praxis kann eine Unterscheidung oft ihre Trennschärfe verlieren. So zeigen die Beispiele des „rechtsantideutschen“ Conne Islands und des „linksantideutschen“ Bonner AStAs, dass beide Tendenzen Gefahr laufen, herrschaftsdienliche und sogar neofaschistische Ideen zu bedienen. Vielmehr sollte die Differenzierung als Skala mit relativ fließenden Übergängen wahrgenommen werden: Die Widersprüche werden hin zum linken Rand größer, während die konsequent gefestigte rassistische und pro-imperialistische Weltanschauung hin zum rechten Rand zunimmt. Dazwischen existieren aber viele Zwischenabstufungen und Grauzonen.
Eine machtpolitische Verschiebung, die für jede Art von Antideutschen zur Notwendigkeit wird, aber vor allem für solche, die noch auf das Erlangen einer linken Deutungshoheit bedacht sind, resultiert vor allem aus dem Mangel an Internationalismus. Die Strömung bleibt ein rein deutschsprachiges Phänomen, dessen antipalästinensische und pro-zionistische Positionierung in der internationalen Linken der über 190 anderen Staaten und Gebiete nicht mehr als abfälliges Kopfschütteln ernten kann. Sie hat daher unüberwindbare Schwierigkeiten, Verbindungen zu internationalen sozialistischen Gruppen und Organisationen aufzubauen. Ein Beispiel hierfür liefert die sofortige Ausladung Jutta Ditfurths von einer Konferenz in 2017, nachdem die katalanische CUP von ihrer Haltung zum palästinensischen Befreiungskampf und BDS erfahren hatte. Auch im Inland herrscht eine Kluft zu international organisierten und migrantischen Linken, die sich vom Rassismus dieser Szene diskriminiert fühlen, wie beispielhaft die Geschehnisse um den „Radical Queer March“ deutlich zeigten. Eine politische Verlagerung kann für Antideutsche zum einen auf rechte Kräfte im Ausland erfolgen, die bezüglich Israel/Palästina mehr Positionen mit „Linksantideutschen“ teilen als die internationale Linke. Zum anderen gehen sie aber vor allem nationale Bündnisse mit bürgerlichen Kräften bis weit ins rechte und sogar neofaschistische Lager sowie die Zusammenarbeit mit der Polizei und dem Verfassungsschutz ein. Daher rührt auch eine eigentliche politische Handlungsfähigkeit und Gefahr der antideutschen Strömung in Bezug auf die Linke – nicht in ihrer zahlenmäßigen Größe oder Organisation, sondern in der Kompatibilität mit und in der Verbindung zur bürgerlichen Staatsgewalt mitsamt der Staatsräson, die den deutschen Nationalismus und Imperialismus aufrecht erhalten soll.
Ein erneutes Anrecht auf deutsche Weltmachtambitionen wird nämlich durch das Verhältnis des neuen „geläuterten“ Deutschlands zu Israel legitimiert. Dazu dient dem bürgerlichen Establishment die staatstragende antisemitische Ideologie, dass der Staat Israel „der neue Jude“ sei, obwohl der Großteil jüdischer Menschen nicht in Israel lebt. In ihrem nationalistischen und imperialistischen Narrativ sucht die „wohlwollende“ Großmacht Deutschland in einem Bruch mit der NS-Vergangenheit neuerdings angeblich diesen „neuen Juden“ zu schützen. So soll zum einen auf internationaler Ebene die Idee schmackhaft verkauft werden, dass eine deutsche Großmacht wieder „Verantwortung“ in aller Welt übernehmen könnte. Zum anderen soll im Inland ein neuer nationalistischer Patriotismus durchgesetzt werden, der auf der Beziehung zu Israel basiert, einen pseudo-selbstkritischen „Wir sind wieder wer!“-Nationalstolz etablieren und aus diesem auch deutlich Menschengruppen ausschließen soll: Muslimische Menschen, arabische Geflüchtete, linke Jüdinnen, nicht-weiße Emigrierte und konsequente Linke, die auch in diesem Kontext solidarisch mit den kolonisierten Unterdrückten bleiben. Das nationale Narrativ konnte in Deutschland schlüssig und effektiv aufgebaut werden und es dient der herrschenden Klasse Deutschlands sowohl nach Außen als auch nach Innen zur Rechtfertigung repressiver Maßnahmen. Die sogenannten „Antideutschen“ sind insofern also eigentlich das tragische Produkt deutscher Machtverhältnisse und der Resignation vor ihnen. Die Strömung ist durch Ex-Linke initiiert worden, die sich in der Krise nicht mehr vor deutschen nationalistischen Ideen abschirmen konnten, vor ihnen eingeknickt sind und sie übernommen haben. Die Zu- oder Abnahme der Relevanz dieser antideutschen Strömung muss also immer vorwiegend vor diesem Hintergrund verstanden werden.
Die Kapitulation vor der nationalistischen und imperialistischen Herrschaftsdoktrin des deutschen Staates konnte in diesen Teilen der deutschen Linken in den Krisenzeiten der 90er-Jahre Fuß fassen. Aktuell befindet sich allerdings der deutsche Staat, der Kapitalismus insgesamt und damit auch die verknüpften Ideologien selbst in einer Krise. Die Weltwirtschaftskrise verschärft sich weiter. Seit April 2019 ist auch auf nationaler Ebene wieder ein leichter Rückgang der Wirtschaftsleistung zu verzeichnen. Das Statistische Bundesamt weist zudem auf Frühindikatoren in unterschiedlichen Branchen hin, die die Stützen der deutschen Wirtschaft bilden. Der Auto- und der Chemieindustrie und den Maschinenbauern etwa bricht die Nachfrage weg. Entlassungen, Schichtkürzungen und die Verlagerung auf Kurzarbeit sind für verschiedene Kapitalfraktionen logische Konsequenzen. In einem Land, das bereits seit Jahren den größten Niedriglohnsektor Europas betreibt, sind das Faktoren, die zu verstärktem Unmut führen können. Die stärkeren Repressionen gegen linke, kurdische und palästinensische Gruppen sind wie verschärfte Polizeigesetze nicht zuletzt auch vor diesem Hintergrund zu betrachten.
Die Einschränkung der Meinungsfreiheit und die Raumverbote insbesondere gegen die BDS-Bewegung sind aber nicht alleine mit der internen Angst vor der Wirtschaftskrise des deutschen Staates zu erklären. Auch die internationalen Kräfteverhältnisse haben sich verschoben. Der Griff des US-amerikanischen Imperialismus um den Nahen Osten hat viel an Härte einbüßen müssen. Auch hier ist die gesteigerte Radikalisierung der US-Interventionen im Nahen Osten kein Zeichen von Stärke. Die medialen Bilder von Trumps Jerusalem-Entscheidung und des großen Marsches der Rückkehr, bei dem palästinensische Demonstrierende von der hochgerüsteten israelischen Armee am Grenzzaun des belagerten Gazastreifens niedergeschossen werden, können selbst im deutschen Kontext nur schwerlich die koloniale Unterdrückung vor Ort leugnen. Der deutsche Imperialismus ist teilweise an die US-amerikanische Hegemonie in der Region und ihren imperialen Wachhund Israel gebunden. Er verfolgt auf der anderen Seite aber auch eigene Interessen, die beispielsweise nicht mit einer Verschärfung des Konflikts um Jerusalem übereinstimmen. Das Vorgaukeln einer angestrebten Zweistaatenlösung, das der rechtsradikalen Regierung unter Netanjahu ebenso wie den Vorgängern der „Linkszionisten“, wie Rabin oder Peres, als Feigenblatt für fortgeführte Kolonisierung diente, verliert durch solche Entwicklungen an Überzeugungskraft.
Indes geht der deutsche Staat wegen der Risse in der Legitimationsbasis seiner Herrschaft im In- wie im Ausland rabiater und brutaler vor. Er versucht palästinensische Linke wie Khaled Barakat oder Rasmea Odeh ohne juristische Grundlage auszuweisen und Palästinasolidarität mit repressiver Gewalt und Verboten mundtot zu machen. Antideutsche binden sich als Nebenprodukt deutscher Herrschaftsverhältnisse mit den beispielhaften Querfront-Taktiken und der offeneren Zurschaustellung rassistischer Ressentiments vermehrt an diesen Kurswechsel.
Dabei bietet die Zuspitzung der eigenen Widersprüche und die Legitimationskrise für den linken Rand der „Linksantideutschen“ auch eine Alternative zum offenen Abdriften ins rechte Lager. Diese liegt im Erkennen der eigenen Widersprüche, im Internationalismus und im revolutionären Sozialismus. Ihnen kann durch gezielte politische Anstrengung und Aufbauarbeit noch klargemacht werden, dass Deutsche in ihrer nationalistischen und pro-kolonialistischen Positionierung zu Israel/Palästina analytisch nicht progressiver und entwickelter sind als der Rest der weltweiten Linken, sondern das Gegenteil der Fall ist. Eine Rolle wird spielen, wie verfestigt und geschlossen ein rassistisches Weltbild bei den jeweiligen antideutschen Individuen bereits ist. Wahrscheinlich ist, dass viele infolge einer Vertiefung des Bruches offen ins rechte Lager übergehen, während einige für konsequente linke Politik gewonnen werden könnten. Für Aktive, die eine solche Politik bereits verfolgen, sollten die jüngsten Entwicklungen zu einer taktischen Neuausrichtung beziehungsweise Verschärfung führen: Die konkrete Arbeit in Bewegungen und Bündnissen ist wichtiger und aktueller denn je. Der Konfrontation mit antideutschen Widersprüchen aller Coleur kann und muss von uns zugunsten einer sozialistischen Ausrichtung der deutschen Linken offener begegnet werden. Aktuell entstehen innerhalb verschiedener Bewegungen immer öfter Zusammenschlüsse von sozialistischen Linken, die bereit sind, dieses Problem konkret anzugehen, was unterstützenswert ist. Darüber hinaus müssen antideutsche Widersprüche im Gesamtkontext der kapitalistischen Krise und unserem Konflikt mit diesem Wirtschaftssystem um eine solidarische und gerechte Alternative für alle verstanden werden. Denn Antideutsche sind am Ende des Tages ein Nebenprodukt historischer Prozesse in Deutschland und einer nationalen Herrschaftsideologie, die wir in erster Linie erkennen und verstehen müssen, um ihr effektiv begegnen zu können. Die Devise für konkrete politische Konflikte muss daher lauten: Als Linke positionieren wir uns bedingungslos auf der Seite der rassistisch Diskriminierten, nicht auf der Seite des Staates. Das kann und muss im Ernstfall bedeuten, auch in breiten Bündnisstrukturen auf Antideutsche zu verzichten, die die Seite des deutschen Staates wählen und mit ihm zusammen Linke und unterdrückte Minderheiten angreifen und versuchen soziale Bewegungen zu spalten.
Dieser Artikel erschien zuerst in der Freiheitsliebe.