Hippokrates würde sich im Grabe umdrehen

03.11.2016, Lesezeit 7 Min.
Gastbeitrag

Das Rechtsmedizinische Institut der Charité führt im Rahmen der „Alterszwangsfestsetzung“ regelmäßig medizinische Gutachten durch, um das biologische Alter minderjähriger unbegleiteter Geflüchteter ohne amtliche Dokumente zu „bestimmen“. Gegen diese Praxis organisiert die Initiative Kritische Mediziner*innen Berlin am Freitag, den 4. November, um 13 Uhr eine Kundgebung am Charité Campus Virchow Klinikum. In ihrem Gastbeitrag schildern sie die Hintergründe dieser fragwürdigen und menschenverachtenden Methode.

1
Close up of young doctor holding x-ray and writing down prescription at desk.

Über 50.000 minderjährige unbegleitete Geflüchtete kamen 2015 nach Deutschland. Viele Minderjährige haben keine amtlichen Dokumente, mit denen sie ihr Alter beweisen können. Gibt ein Mensch beim Erstkontakt mit Behörden ein Alter unter 18 Jahren an, wird er der Obhut des Jugendamtes unterstellt. Wird bei der dann folgenden „qualifizierten Inaugenscheinnahme“ das angegebene Alter durch Sachbearbeiter*innen des Jugendamtes in Zweifel gezogen, kann in Berlin beim Familiengericht ein Verfahren zur Alterszwangsfestsetzung beantragt werden.

Hierbei soll durch sogennante Fachkräfte eine Aussage über das biologische Alter eines Menschen getroffen werden. Der Einzelpreis für ein solches Altersgutachten beläuft sich in Berlin auf knapp 1450 Euro. In dieser Stadt fanden laut dem Abgeordnetenhaus im Jahr 2014 bei 228 von insgesamt 1082 jungen Geflüchteten Ladungen zur Altersfestsetzung statt. Gutachten wurden bis November desselben Jahres für 136 Personen erstellt, wovon 111 mal Volljährigkeit attestiert wurde. Bei Nicht-Erscheinen trotz (wiederholter) Ladung wurde teilweise der Antrag zurückgenommen. Über die möglichen Folgen einer Verweigerung des Verfahrens von Seiten der geflüchteten Person schreibt die Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft (Berlin, Februar 2016):

Sollte die Untersuchung durch sein oder ihr schuldhaftes Verhalten nicht durchgeführt werden können bzw. sollte diese verweigert werden, ohne dass hierfür ein wichtiger Grund im Sinne des § 65 SGB I vorliegt, handelt es sich um einen Verstoß gegen die Mitwirkungspflicht. Über die Folgen fehlender Mitwirkung gem. § 66 SGB I werden die Kläger und Klägerinnen ausführlich belehrt und darauf hingewiesen, dass die Inobhutnahme ohne Mitwirkung beendet werden kann.

Der Präsident der Bundesärztekammer, Frank Ulrich Montgomery, äußerte sich dazu kritisch:

Dass Jugendliche in die Gruppe der Erwachsenen eingeteilt werden, wenn sie an der Untersuchung nicht mitwirken, konterkariert die vorgebliche ‚Freiwilligkeit‘ und ist weder menschlich noch medizinisch gerechtfertigt.

Hintergrund für die Durchführung der Alterszwangsfestsetzung ist die Differenz der Kosten, die für minderjährige oder aber für volljährige Geflüchtete „investiert“ werden. Minderjährige haben in Deutschland Anspruch auf spezielle Unterbringung in einer Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe, ein Recht auf sofortigen Zugang zu Schule und Ausbildung sowie auf einen Vormund. Kosten, die für Geflüchtete über 18 Jahren nicht aufgebracht werden müssen. Die Vorteile einer Minderjährigkeit, wie Abschiebeverbot und besonderer Schutz, sollen so wenig Menschen wie möglich zuteilwerden. Im Folgenden wird für die angewandte Methodik der Begriff „Alterszwangsfestsetzung“ anstelle von „Altersfeststellung“ verwendet, da es sich um eine willkürliche Festlegung handelt, die einer, wie teils behaupteten, wissenschaftlich fundierten Grundlage entbehrt.

In Deutschland gibt die Arbeitsgemeinschaft für forensische Altersdiagnostik (AGFAD) der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin Empfehlungen zur Methodik heraus. Während die meisten Bundesländer mittlerweile ausschließlich auf sogenannte „Clearinggespräche“ zurückgreifen, können in Berlin und Hamburg zusätzlich medizinische Gutachten auf der Basis von körperlicher Untersuchung und apparativer Diagnostik durchgeführt werden, so zum Beispiel im Land Berlin durch das Rechtsmedizinische Institut der Charité.

Wissenschaftlich fragwürdige und gefährliche Methoden

Laut der AGFAD ist die Röntgenuntersuchung des Handskeletts, eventuell erweitert um eine röntgenologische Untersuchung des Zahnskeletts oder eine CT-Aufnahme der Schlüsselbeine, die beste Methode zur „forensischen Altersschätzung“. So argumentiert die Fachgesellschaft in den aktualisierten Empfehlungen von 2008, dass Knochenreife genetisch determiniert sei: „So decken sich Wachstumskurven eineiiger Zwillinge sehr weitgehend“. Dass jedoch bei der Alterszwangsfestsetzung nicht Zwillinge, sondern Individuen verglichen werden, deren externe lebensraumspezifische Umwelteinflüsse sich stark voneinander unterscheiden, wird außer Acht gelassen. Auch, dass kaum aussagekräftige, aktuelle Referenzstudien und bevölkerungsspezifische Vergleichswerte vorliegen, kümmert wenig. Es liegen zwar Studien für deutsche, japanische und „schwarzafrikanische“ Subpopulationen vor, doch werden diese auch herangezogen, um Menschen aus dem arabischen Raum einzuschätzen.

Zudem zeigen sich in allen Studien hohe Standardabweichungen von plus minus zwei bis drei Jahren, so dass es nicht möglich ist, punktgenaue Rückschlüsse auf das Geburtsdatum zu ziehen, wie es aufgrund der weitreichenden Konsequenzen bei Festsetzung der Volljährigkeit aber notwendig wäre. Beispielhafte Studien konnten zeigen, dass sich allein bei der Altersdefinition der linken und rechten Schlüsselbeingelenke das geschätzte Alter desselben Individuums um bis zu drei Jahre unterscheiden kann. Es ist somit keinesfalls garantiert, dass das festgesetzte Alter dem tatsächlichen Alter der geflüchteten Person entspricht.
Weiterhin lässt sich die Strahlenbelastung anführen, welcher die Betroffenen durch Röntgen oder CT ausgesetzt sind. Laut § 23 der Röntgenverordnung (RöV), darf Röntgenstrahlung am Menschen unmittelbar nur angewendet werden, wenn „der gesundheitliche Nutzen der Anwendung am Menschen gegenüber dem Strahlenrisiko überwiegt.“ Es ist allerdings nicht ersichtlich, worin der gesundheitliche Nutzen für Beroffene bei der Alterszwangsfestsetzung liegt.

Alternative bildgebende Verfahren wie MRT- oder Ultraschall-Untersuchungen würden den*die Geflüchteten zwar weniger belasten, wie die AGFAD argumentiert, trotzdem bleibt auch hier die Alterszwangsfeststellung als Voraussetzung für den Anspruch auf „Grundrechte“ bestehen, ohne die persönliche Situation der Betroffenen zu betrachten. Genauso beinhaltet auch die MRT-Untersuchung die Ungenauigkeit der Festsetzung und die Gefahr der Retraumatisierung.

Ferner basiert das aktuelle Verfahren der Alterszwangsfestsetzung auf fragwürdiger wissenschaftlicher Grundlage. Es liegt lediglich eine verschwindend geringe Zahl an veralteten Studien vor, auf die sich die Verfahren berufen können. Es ist keineswegs wissenschaftlich garantiert, dass das Alter, welches durch die Verfahren bestimmt wird, das wirkliche Alter des oder der Geflüchteten ist. Während beim 117. deutschen Ärztetag 2014 beschlossen wurde, dass das Knochenröntgen oder CT bei unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten unter anderem wegen der mangelnden Genauigkeit „medizinisch nicht vertretbar sei und zu diesem Zwecke nicht mehr angewendet werden dürfe“, beruft sich die AGFAD darauf, dass diese Beschlüsse nicht bindend seien und vertritt eine Weiterführung der gängigen Praxis.

Widerstand formiert sich

Viele renommierte Organisationen und Gremien haben sich bereits gegen die Methoden der Alterszwangsfestsetzung ausgesprochen, darunter die Bundesärztekammer, die Ärzt*innenorganisation IPPNW, die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie und der Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge e.V.. Ebenso haben sich auch ärztlichen Mitarbeiter*innen der Charité (als Mitglieder oben genannter Organisationen bzw. Gremien) dagegen positioniert.

Die Kritischen Mediziner*innen sind der Meinung, dass die aktuellen Methoden, die im Zuge der Alterszwangsfestsetzung angewendet werden, hinsichtlich juristischen, medizinethischen und medizinischen Gesichtspunkten ungeeignet und menschenverachtend sind. Wir sprechen uns gegen jede Form von Alterszwangsfestsetzung aus, die über ein kontrolliertes, transparentes, humanes Gespräch, geführt von geschultem Fachpersonal, hinaus geht. Wir fordern bedürfnisorientierte Rechte für unbegleitete Minderjährige und Geflüchtete im Allgemeinen.

Kundgebung Alterszwangsfestsetzung stoppen 2.0


Freitag, 4. November, 13 Uhr vor dem Forum 3 am Charité Campus Virchow Klinikum (CVK), Amrumer Str. 37, 13353 Berlin [Facebook-Event]

Weitere Informationen und Quellen bezüglich der Thematik auf http://kritischemedizinerinnen.blogsport.eu/positionen

Mehr zum Thema