Ägypten: Mit den Ereignissen von Port Said eröffnet sich eine neue politische Krise

05.02.2012, Lesezeit 5 Min.
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Die gewaltsamen Ausschreitungen nach einem Fußballspiel in Port Said waren kein weiterer Zusammenstoß von Fans zwei rivalisierender Fußballclubs, sondern der Beginn einer instabilen Situation, die von tiefgreifenden sozialen und politischen Widersprüchen geprägt ist.

Am Tag nach den Ausschreitungen, die zu den schwerwiegendsten der letzten Jahre gehören und mit 73 Toten und Hunderten von Verletzten endeten, ging eine riesige Masse von Menschen zurück auf die Straßen Kairos, um das Ende des Militärregimes zu fordern, dem sie vorwerfen, die Zusammenstöße provoziert zu haben. Laut den Fans des angegriffenen Clubs waren die meisten Toten ZuschauerInnen, die verzweifelt versuchten, aus dem Stadion zu fliehen, sich aber vor verschlossenen Toren wiederfanden und von der Menge totgetrampelt wurden. Es gibt verschiedene Hypothesen: von denjenigen, die vermuten, dass die Sicherheitskräfte an den Ereignissen beteiligt waren, um mit der Gewalt die Aufrechterhaltung der repressiven Maßnahmen zu rechtfertigen, bis zu denjenigen, die betonen, dass es sich um eine Rache der Polizei an den „Ultras“ handelte – die Gruppen von Fans, die bei vielen Mobilisierungen den Tahrir-Platz verteidigten, indem sie sich der Repression entgegenstellten und so eine herausgehobene Rolle in der sogenannten „Schlacht der Kamele“ spielten, in der die Banden Mubaraks besiegt wurden. Aber ungeachtet der Tatsache, wie die Ereignisse stattfanden, ist es klar, dass alle Indizien – wie in den vorigen Auseinandersetzungen, zum Beispiel beim inszenierten Angriff gegen die koptischen ChristInnen im vergangenen Oktober – in Richtung der Sicherheitskräfte weisen.

Die Muslimbruderschaft nahm die Anschuldigungen gegen die FunktionärInnen des Regimes auf und rief eine Notfallsitzung des Parlaments ein, um zu versuchen, die Situation unter Kontrolle zu bekommen.

Der Oberste Militärrat kam der Antwort der Massen auf die Ereignisse zuvor, verordnete eine dreitägige Staatstrauer, akzeptierte den Rücktritt der Regierung von Port Said und verhaftete den Chef der lokalen Sicherheitskräfte. Dennoch waren diese Maßnahmen nicht ausreichend, um den Ausbruch einer neuen politischen Krise mit ungewissem Ausgang zu verhindern.

Ein Jahr nach den Mobilisierungen, die mit dem Sturz Mubaraks endeten, ist der revolutionäre Prozess in Ägypten weiterhin offen. Die Parlamentswahlen fungierten als Stromableiter der Energien der intensiven Mobilisierungen vom November. Dank der Übereinkunft mit der Muslimbruderschaft und dem Rückhalt seitens der USA und anderer imperialistischer Mächte konnte sich die Militärjunta an der Macht halten und einen ihrer AgentInnen, Al-Ganzoury, als Premierminister einsetzen. Als Ergebnis der Wahlen verwandelten sich die zwei islamistische Parteien – die Partei der Freiheit und der Gerechtigkeit (Muslimbruderschaft) und Al-Nour (verbunden mit dem salafistischen Islamismus) – mit einer Parlamentsmehrheit von circa 70% in die wichtigsten politischen Kräfte des Landes. Aber diese Umlenkung des sozialen Unmuts konnte sich noch längst nicht konsolidieren. Die Ereignisse von Port Said waren kein isolierter Ausbruch von Gewalt. Einige Tage vorher stieß eine massive Mobilisierung, die zum Parlament marschieren wollte, um das Ende des Militärregimes zu fordern, mit einer Stoßtruppe der Muslimbruderschaft zusammen, die den Protest mit Gewalt aufzulösen versuchte. Die Mobilisierung stellte die Legitimität des Parlaments in Frage und eröffnete die Frage darüber, welche Fähigkeit die Muslimbrüder haben, um gleichzeitig als Kraft der Veränderung und als Polizei des Militärregimes gegen die radikalisiertesten Sektoren der Jugend und der ArbeiterInnen zu agieren.

Die tiefgründigen Widersprüche, die zum Ausbruch des revolutionären Prozesses führten, kehren nun mit neuer Stärke in den Mobilisierungen und Streiks wieder, wie man bei dem imposanten Protest des 25. Januars anlässlich des ersten Jahrestages des Beginns der Mobilisierungen gegen Mubarak sehen konnte: Hunderttausende Personen vereinigten sich unter der Forderung „Nieder mit dem Militärregime!“

Die Armee, die lokale Bourgeoisie, die Parteien, die den kapitalistischen Staat verteidigen – seien sie liberale oder islamistische wie die Muslimbruderschaft – und der Imperialismus suchen nach Wegen, den „Übergang“ zu einem bevormundeten bürgerlich-demokratischen Regime zu stabilisieren, welches die Rolle des Militärs als fundamentaler Institution des Regimes erhält und ihre wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen garantiert, wie zum Beispiel den Friedensvertrag mit Israel. Nach einem Jahr des Kampfes beginnt der konterrevolutionäre Charakter dieses Plans für Sektoren der ArbeiterInnen- und Jugendavantgarde offensichtlich zu werden. Sie haben daraus die Schlussfolgerung gezogen, dass diese Kräfte die Revolution enteignen und sie sich ihnen entgegenstellen müssen. Um sie zu besiegen, ist es notwendig, ein Bündnis der ArbeiterInnen und der Massen zu schmieden und einen aufständischen Generalstreik vorzubereiten, der das Militärregime mit der Perspektive stürzen kann, eine Regierung der ArbeiterInnen und der Massen zu errichten.

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