9 Cent Abrechnung – Interview mit einem Gorillas-Rider

16.11.2021, Lesezeit 10 Min.
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Foto: Simon Zamora Martín

Ein Fahrer des Lieferdienstes Gorillas berichtet über die Arbeitsbedingungen des Startups, wie es zu skandalösen Falschabrechnungen von 9 Cent kommt, und wie sich die Arbeiter:innen organisieren. Interview: Anai Paz.

Als ich auf Twitter von deiner letzten Lohnabrechnung gelesen habe, habe ich es kaum glauben können. Neun Cent hast du nur bekommen! Hast du eine Erklärung dafür? War es nur ein Versehen?

Ich war auch erst baff, weil das auf die Fürsorge für Riders bezogen nochmals ein echter Tiefschlag war. Ich habe meinen Vertrag ändern lassen, sowohl die Stadt als auch die Stundenanzahl. Aber Gorillas hat meinen Vertrag erst mehrfach falsch geändert: zuerst nur die Stundenzahl und nicht die Stadt, dann die Stadt, aber nicht die Stundenzahl etc. Schlussendlich habe ich dann einen Vertrag ausgestellt bekommen, bei dem alles stimmte. Mit der neuen Stadt hätte ich auch ein neues Warenhaus und neue Schichten zugeteilt bekommen müssen. Das kam allerdings nicht. Ich fragte nach und bekam keine Antwort. Ich fragte nochmals nach und bekam wieder keine Antwort. Stattdessen wurden mir weiterhin Schichten in meiner alten Stadt gegeben. Immerhin mit der neuen Stundenzahl, aber halt in der falschen Stadt. In meinen Nachfragen habe ich dies auch immer wieder erwähnt. Allerdings weiterhin keine Antwort. Stattdessen wurden einfach meine Schichten in der früheren Stadt gelöscht und keine neuen in der neuen Stadt eingetragen. Ganz ohne Rückmeldung, was jetzt passiert. Nun war ich schon zwei Wochen in der neuen Stadt und hatte noch nicht ein Mal gearbeitet. Dies bedeutet den Verlust des Gehalts von zwei kompletten Wochen, also quasi mein halbes Gehalt für den Monat. Im Regelfall nimmt schon alleine die Miete die Hälfte des Gehalts in Anspruch und wovon man den Rest des Monats leben soll, ist Gorillas natürlich egal.

Ich habe dann am 23ten des Monats meine erste Schicht bekommen, nachdem ich mich ein letztes Mal gemeldet habe und meinte, ich kündige, wenn ich nicht innerhalb von 24 Stunden eine brauchbare Rückmeldung bekomme. Zwei Stunden vor Ablauf der von mir gesetzten Frist gab es dann endlich eine Antwort. Da in der Firma gerade niemand so wirklich wisse, wo es hingeht, herrsche Chaos und deswegen konnte man mir nicht helfen. Außerdem sei auch Whatsapp einen Tag lang down gewesen, weswegen man ja nicht antworten konnte… wochenlang…

In der Mitteilung konnte mir allerdings auch nicht geholfen werden und ich habe nur die 10 Stunden Schicht am 23ten eingetragen und endlich ein Warenhaus zugeteilt bekommen. Da die Firma gerade am 1. Oktober zwecks Union Busting in zwei Teile geteilt wurde, war der Abrechnungszeitraum für die ersten zwei Oktoberwochen ein gesonderter, bevor es dann wieder in den normalen Rhythmus übergeht.Da ich also in diesem Sonderabrechnungsraum keine Schichten bekommen hatte, habe ich eine Abrechnung von 0,09€ bekommen. Mir wurden auf der Abrechnung 0,01 Stunden eingetragen. Anscheinend kann man keine 0er Abrechnungen ausstellen. Tatsächlich wurden mir von den 11 Cent brutto noch 2 Cent Sozialversicherungsbeitrag abgezogen. So kommt es dann zu den 0,09€.

Ist diese falsche Abrechnung und unpünktliche Bezahlung ein Einzelfall?

Man spricht mit den anderen Ridern und man hört immer wieder die gleichen Fehler. Hier fehlen mal 500€, an anderer Stelle stimmt das Trinkgeld nicht. Manche bekommen nur ein Minijob-Gehalt, obwohl sie Vollzeit arbeiten und wenn ein Picker z.B. Ein paar Touren fährt, weil die Warenhäuser mal wieder Leute in die Schichtplanung eingeplant haben, die schon längst nicht mehr bei Gorillas arbeiten, dann wird von Gorillas das Trinkgeld nicht an die Picker ausgezahlt. Aus Prinzip nicht. Dass das illegal ist, muss ich niemandem erklären. Es ist also Alltag und genau so häufig vertreten, wie dass jeder zweite Rider heftige Rückenschmerzen hat.


Gorillas steht ja immer wieder für diverse Skandale in der Kritik. Wie lang hast du dort gearbeitet und wie hast du deinen Arbeitsalltag dort empfunden?

Ich habe dort im April begonnen und meine Kündigung ist zu Ende November datiert. Der Zusammenhalt unter den Ridern ist hervorragend. Leider standortbasiert, sodass ich mir gewünscht hätte, dass die Rider aus anderen Städten mehr Anteil an den Problemen der Berliner Fahrer:innen nehmen, weil die Berliner durch die Größe der Warenhäuser quasi einen Blick in die Zukunft der Warenhäuser der anderen Städte bieten. Dennoch wird aufeinander geachtet und man bleibt im Austausch miteinander. Dort wo einem Fahrer eine viel zu schwere Lieferung angedreht werden soll, steht dann z. B. ein zweiter Fahrer und bietet von sich aus an, die Bestellung zu teilen. Eigentlich sollte so etwas direkt von höherer Ebene nicht passieren, aber wenn es viele Bestellungen gibt, wird halt versucht, unwissende Rider dazu zu bringen, überschwere Bestellungen zu geben. Viele machen das, wenn Sie erst anfangen und noch leicht gekündigt werden können. Spätestens wenn dann die Rückenschmerzen kommen, nachdem du mehrere Wochen 20kg+ Rucksäcke 40 Stunden lang auf deinem Rücken über Kopfsteinpflaster transportiert hast, fällt auch bei den Neuen der Groschen.

Der Zusammenhalt zwischen den Ridern ist gut, aber es herrscht ein direktes Machtgefälle zwischen den Ridern und den Positionen darüber. Es herrschen ganz klar andere Interessen und die sieht man immer wieder durch solche Sachen wie mit der überschweren Bestellung. Ein anderes gutes Beispiel ist, dass man als Rider die Bestellung schon scannen soll, bevor diese fertig ist. Wenn man z. B. schon eine von zwei oder mehr Tüten auf dem Tisch stehen hat, soll man die scannen. Von da an läuft die Bestellung nicht mehr unter der getrackten Zeit vom Warenhaus, sondern vom Rider. Wenn man dann in der Retrospektive auf die Bestellzeiten guckt, sieht es aus, als hätte der Fahrer ewig gebraucht, obwohl er noch im Warenhaus auf die restlichen Tüten gewartet hat. Dies lässt das Warenhaus-Management etc. dann besser aussehen und wird auf Kosten der Fahrer:innen gemacht, die dann im Zweifel keine Chance haben zu beweisen, dass es nicht an ihnen lag, dass die Bestellung verspätet ist. Fahrer:innen mit schlechten Lieferzeiten werden dann leichter gekündigt.

Warst du mit deinen Arbeitsbedingungen zufrieden? Und wenn nicht: Was hättest du gerne verändert?

Gorillas hat sich zuerst mit dem Slogan „Riders First“ profiliert. Auch der CEO soll früher ein Rider gewesen sein. Dass beides nicht stimmt, stellte sich schnell heraus. Wäre das anders, hätte man mehr auf die Gesundheit der Fahrer:innen geachtet. Die Leute müssen wissen, dass sehr Schwere Rucksäcke auf dem Rücken und ungefederten Fahrrädern krank machen. Dass man Winterkleidung nicht erst im Mai stellen soll, sondern spätestens zum Anfang des Winters, sollte man eigentlich niemandem erklären müssen. Lohnfehlzahlungen und vor allem die Korrektur erst zur nächsten Abrechnung sind menschenverachtend. Ich wünsche mit, der Gorillas-CEO würde mal Auskunft darüber geben, wie oft er ein unvollständiges Gehalt bekommen hat und falls überhaupt, wie lange es gedauert hat, die zu korrigieren. Von der Unsicherheit der Fahrräder bis zum Druck auf die Mitarbeiter:innen, sodass sie sich im Geheimen organisieren müssen.. die Liste ist endlos, was ich gerne verändern würde.

In den letzten Wochen gab es Massenentlassungen bei dem Start-Up Gorillas. Vor allem Beschäftigte, die in die wilden Streiks verwickelt waren, wurden entlassen. Was denkst du dazu?

Da die Streiks nach europäischem Recht zulässig sind und Streiks ein Menschenrecht sind, halte ich das nur für eine weitere Schikane von Gorillas. Der CEO hat gesagt, er würde niemals jemanden feuern, der streikt… und feuert dann Leute, die streiken. Wenn man als gesund denkender Mensch eine Firma gründet und die Leute gehen auf die Straße, weil sie die Einhaltung der gesetzlichen Mindestanforderungen fordern, dann feuere ich die Leute nicht, sondern erfülle die Mindestanforderung. Und als halbwegs sozialer Mensch schaffe ich erst gar nicht Strukturen, bei denen es zu so etwas kommen kann, weil ich Respekt vor der menschlichen Würde habe und niemanden mit schönen Versprechen ausbeute.

Du hast schon für unterschiedliche Lieferdienste gearbeitet in den letzten Jahren. Gab es da auch Selbstorganisierungsstrukturen gegen die prekären und schlechten Arbeitsverhältnisse?

Ich habe mitbekommen, wie sowohl bei Deliveroo, Fodoora, Lieferando etc. sich immer wieder selbstorganisierte Gruppen zusammengeschlossen haben. Bei Deliveroo gab es dann zum Beispiel einen Betriebsrat. Die Verträge hat man dann zum Beispiel alle auslaufen lassen und nur noch Scheinselbstständige beschäftigt. So wurde der Betriebsrat aufgelöst. Der Kampfgeist war allerdings alles andere als gebrochen. Man sieht es auch auf der ganzen Welt. In China wird gestreikt, in den USA, in der Ukraine, in Russland, in Indien. Auf der ganzen Welt finden sich Lieferfahrer:innen in denselben Arbeitsverhältnissen wieder. Es befinden sich häufig Leute in diesen Berufsfeldern, die absolut die Faxen dicke haben und jetzt Konsequenzen ziehen. Wenn sonst niemand etwas für sie macht, dann machen sie es halt selber und vor allem durch Corona wurde noch mal der Welt der Lieferfahrer:innen deutlich.

Wie können wir deiner Meinung nach gegen diese skandalösen, schlechten und prekären Arbeitsverhältnisse kämpfen?

Am besten kämpft man mit einem Zusammenschluss der Fahrer:innen. Dies wird auch schon getan. Die Solidarität zwischen den etablierten Lieferfahrer:innen ist groß. Jeder von uns weiß, wie es ist, komplett durchnässt und frierend im Dunkeln fast überfahren zu werden. Jeder weiß, wie schlecht man behandelt wird und dass man um jeden kleinen Schritt kämpfen muss. Als Einzelner steht man vor einem Multi-Milliarden-Konzern, aber zusammen hat man Kraft. Vor allem durch den Boom der Lieferdienste in Coronazeiten sieht man, dass zum Beispiel die Gorillas-Fahrer:innen noch den Vorteil gegenüber Lieferdiensten wie z. B. Lieferando haben, dass Gorillas vollkommen auf eigenen Fahrer:innen basiert. Lieferando-Fahrer:innen machen nur ca 7 Prozent der Bestellungen. Der Löwenanteil wird durch die Fahrer:innen der Restaurants selber getätigt. Die Arbeitsbedingungen der Restaurantfahrer:innen sind noch mal ein ganz anderes Fass, aber Gorillas basiert vollkommen auf eigenen Fahrer:innen und dort kann sehr viel Druck entstehen. Wenn alle Gorillas-Fahrer:innen sich entscheiden, an einem Tag nicht zu fahren, steht der komplette Betrieb von Gorillas still. Und was will Gorillas tun? Alle Gorillas-Fahrer:innen auf einmal kündigen? Mit den Kündigungen von den 350 Ridern hat sich Gorillas selber keinen Gefallen getan. Das hat ihnen selbst wichtige Fahrer:innen geraubt, den Zufluss an neuen Fahrer:innen gestoppt und sie zu einer noch größeren Zielscheibe gemacht. Die Fahrer:innen können sich wehren. Vor allem sollten sie sich bemühen, ihre Rechte kennenzulernen. Dazu gibt es immer wieder Infoveranstaltungen von Fahrer:innen für Fahrer:innen und auch der einschlägigen Gruppen, die sich für gute Arbeitsbedingungen einsetzen.

Der andere Teil ist die Medienwirksamkeit. Da ist die #BoycottGorillas-Kampagne schon ins Rollen gekommen. Diese ganzen Unternehmen leben quasi von ihrem Image und vom Marketing. Wenn man als normaler Bürger die Gorillas von der Couch aus unterstützen möchte, dann macht man das medienwirksam. Ein Tweet hilft hier schon viel. Ein Social Media Post mit einer klaren Ansage, dass man das nicht unterstützt. Dadurch, dass diese Unternehmen quasi vom Image leben, war es noch nie so leicht, sie von der Couch aus in Bedrängnis zu bringen.

Für alle, die wirklich das Feuer gepackt hat und die wütend sind, wie so etwas sein kann, kann ich die Demos empfehlen. Direkter Kontakt mit den Verantwortlichen von Gorillas. Wenn Sie schlechte Kritiken und schlechte Bewertungen nicht wachrütteln, dann werden mehrere Tausend Leute, die denen die Wahrheit ins Gesicht rufen, sicherlich mehr zu denken geben.

Des Weiteren bleibt es natürlich jedem selbst überlassen, wo er bestellt, aber es gibt Anbieter, die behandeln ihre Angestellten besser und wenn man zwei Anbieter hat, die exakt dasselbe bieten, dann sollte die Entscheidung nicht schwerfallen.

„We must fight back!“ – Große Gorillas-Demonstration am 16.11. gegen illegale Entlassungen und Union Busting

Beschäftigte von Gorillas organisieren am 16. November ab 17 Uhr in Berlin-Kreuzberg eine Demonstration. Sie wehren sich gegen illegale Entlassungen und Union Busting durch die Unternehmensleitung. Unterstützung erhalten sie von Gewerkschafter:innen, solidarischen Aktivist:innen, Studierenden und linken Organisationen.

Große Gorillas-Demonstration
16. November, 17 Uhr
Muskauer Straße 48, Berlin-Kreuzberg

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