100 Menschen unterstützen Streiks bei Amazon

19.05.2015, Lesezeit 7 Min.
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// UPDATE: Video-Beitrag der Veranstaltung //

// AMAZON: Auf einer Veranstaltung in Berlin diskutierten Beschäftigte vom Online-Händler zusammen mit WissenschaftlerInnen, GewerkschafterInnen und Jugendlichen. //

Rund 100 Personen fanden sich am Freitag im Versammlungsraum des Berliner Mehringhofs zusammen, um gemeinsam mit Beschäftigten aus den Amazon-Standorten in Bad Hersfeld und Brieselang über das „Modell Amazon“ und gewerkschaftliche Gegenwehr dagegen zu debattieren. Ebenso sprachen Klaus Dörre, Professor an der Universität Jena, und Daniel Leisegang, Autor eines Buchs über Amazons Rolle im Buchhandel. Im Publikum waren auch andere Beschäftigte mit Streikerfahrung, so z.B. ein GDL-Mitglied von der Berliner S-Bahn und zwei angestellte LehrerInnen von der jungen GEW.

Leisegang sprach über den Onlinehändler aus der wirtschaftlichen Sicht. Mit Methoden der Steuerflucht und der grenzenlosen Expansion sei es das Ziel von Amazon, die bestehenden Märkte vollständig zu dominieren. Kurzfristige Gewinne werden dabei zurückgestellt, um Marktmonopole zu schaffen, die auf die vollständige Abhängigkeit der ProduzentInnen (d.h. der AutorInnen) als auch der KundInnen abzielen.

Der Arbeitssoziologe Dörre beschrieb dieses Geschäftsmodell aus der Perspektive der Arbeitsbedingungen. Die Überausbeutung bei Amazon ist erst durch die Gesetzgebung der Agenda 2010 vor zehn Jahren überhaupt möglich geworden, indem sie aus „atypischer“ prekärer Beschäftigung eine immer typischere Arbeitsform machte. Laut Dörre tendieren wir zu einer „prekären Vollerwerbsgesellschaft“, in der die klassische Vollzeitbeschäftigung immer seltener wird.

Disziplinierung durch Hartz IV

Mit Blick auf die Erfahrungen der KollegInnen bei Amazon, die unter ständiger Überwachung stünden, argumentierte Dörre, dass Amazon eine Art „panoptisches Herrschaftssystem“ entwickelt habe. Die KollegInnen konnten das bestätigen: Ein Handscanner messe sie ständig nach ihren Arbeitsdaten und eine gebe einen Arbeitsrhythmus vor, der sehr anstrengend sei. Das Werk in Bad Hersfeld etwa sei mehrere Fussballfelder groß und habe zudem vier Etagen. Dabei werde jedem Arbeitendem dort die gleiche Leistung zugemutet – unabhängig von der physischen Verfassung oder vom Alter.

Dörre betonte auch, dass Hartz IV einen enormen „Disziplinierungsmechanismus“ mit sich bringt: Aufgrund der medialen Hetze liegen Hartz-EmpfängerInnen „unterhalb der gesellschaftlichen Respektabilität“. Wie Dörre das Ergebnis von Befragungen über Langzeitarbeitslosigkeit zusammenfasste: „Wenn du Hartzer bist, bist du gar nichts.“ Besonders nach der Weltwirtschaftskrise 2008 müssen immer mehr Menschen Kurz- und Leiharbeit eingehen: Fälle, in denen Menschen einen Fahrtweg von mehreren hundert Kilometern täglich auf sich nahmen, bloß um nicht arbeitslos zu werden, waren nicht selten.

Die Wirkung von Streiks

Am Ende seines Vortrages führte Dörre noch einmal aus, dass die Generation der sogenannte „ArbeitsspartanerInnen“ langsam in den Ruhestand gehe. Eine neue Generation wächst heran, die zum ersten Mal die Erfahrung eines Streikes macht – diese wiederum brechen die disziplinierende Kraft der Prekarisierung. Die Anzahl der Konflikte vermehrt sich und dabei geht es nicht „nur“ um Lohnforderungen, sondern auch um bessere Arbeitsbedingungen und gesellschaftliche Anerkennung – Beispiele hierfür sind auch die Streiks im Sozial- und Erziehungsdienst. Dabei stellte Dörre auch fest, dass sich die Streiks heutzutage immer mehr im Dienstleistungssektor abspielen, weshalb sie auch sichtbarer sind.

Erfahrungen aus Bad Hersfeld

Die Amazon-KollegInnen, die aus Bad Hersfeld zur Veranstaltung gekommen waren, befanden sich just an diesem Tag im Streik. Christian Krähling sprach zuerst über den extremen Leistungsdruck und das Problem der Befristung. Die Krankenquote belaufe sich zwischen 20 und 25 Prozent, was etwa fünfmal so hoch ist wie bei anderen Unternehmen. Auch gab es am Anfang nicht einmal einen Betriebsarzt – dieser sei allerdings aufgrund der Streiks nun durchgesetzt worden. Dass allerdings die Krankenquote dennoch nicht gesunken sei, liege daran, dass die Beschäftigen immer noch bis zu 30 Kilometer am Tag laufen müssten.

Schon seit zwei Jahren befinden sich die Beschäftigten von Amazon nun in einem Kampf für einen Tarifvertrag: zuerst in Bad Hersfeld und Leipzig, seit dem letzten Weihnachtsgeschäft an fast allen Amazon-Standorten in Deutschland. Bisher erkennt Amazon die Gewerkschaft nicht für Tarifverhandlungen an.

Selbst kleine Verbesserungen wie kleine Lohnerhöhungen oder Weihnachtsgeld, welches es inzwischen in Bad Hersfeld gibt, wurden erst infolge der Streiks durchgesetzt: „Früher haben wir Weihnachtsgeld gefordert, und wir wurden von den Managern buchstäblich ausgelacht“, erinnerte sich Krähling.

Alle bisherigen Errungenschaften konnten nur durch den Mut der Beschäftigen erkämpft werden, trotz vielfältiger Einschüchterungsversuche des Unternehmens.

Solidarität und Generalstreik

Die KollegInnen aus Bad Hersfeld sind sicherlich auch so etwas wie das Vorbild für die KollegInnen in Brieselang bei Berlin, dem neuesten Amazon-Zentrum in Deutschland, wo 80 Prozent der Belegschaft nur befristet angestellt ist. Dies liege an der Politik der Geschäftsführung, die jeden Organisationsversuch zunichte machen will, so ein Kollege. Selbst Unterhaltungen unter KollegInnen werden protokolliert und abgemahnt. Trotzdem geht die gewerkschaftliche Organisierung voran – in Bad Hersfeld sind mehr als 1.000 KollegInnen bei der ver.di organisiert. Nicht nur aufgrund der zahlreichen Streikerfahrungen sei fast ein familiäres Verhältnis unter den Gewerkschaftsmitgliedern entstanden.

Nach den Vorträgen ergriff ein Arbeiter von der S-Bahn das Wort und drückte seine „Solidarität und Respekt“ aus: „Es gibt viele Punkte, die uns verbinden.“ So warf er die zentrale Frage der gewerkschaftlichen Strategie in den Raum, die nötig wäre, um diesen und weitere Kämpfe zu gewinnen: die Zusammenführung der Streiks. Der GDL-Kollege stellte fest, dass die Solidarität anderer Sektoren nötig sei, da die KollegInnen sich mit einem mächtigen Gegner konfrontiert sehen. Krähling antwortete darauf, dass die Bildung von Solidaritätskomitees ein wichtiges Mittel sei, um gemeinsam zu kämpfen.

Am Ende kam auch die Frage eines Generalstreiks auf, auch mit Blick auf Erfahrungen aus anderen europäischen Ländern. Hintergrund ist, dass es nicht nur bei verbalen Solidaritätsbotschaften bleiben soll – die Kämpfe sollen auch politisch miteinander verknüpft werden, um beispielsweise auch die politischen Generalangriffe auf die ArbeiterInnenklasse wie das Tarifeinheitsgesetz zurückschlagen zu können. Es ist richtig, dass es gewisse Vernetzungen schon gibt, und richtig ist auch, dass solch ein Generalstreik nicht von heute auf morgen möglich sein. Wie Dörre am Ende betonte, werde dieser vielleicht auch nicht im nächsten Jahr stattfinden, allerdings ist das kein Grund zur Resignation, sondern vielmehr ein Grund, sich zu organisieren und für die Zukunft darauf hinzuarbeiten. Mit diesen Gefühl und mit diesem Optimismus ging auch das Publikum nach Hause – wohl wissend, dass es nach dieser erfolgreichen Veranstaltung noch viel zu tun gibt, um auch sämtliche Arbeitskämpfe gewinnen zu können.

Die AktivistInnen des Berliner Solidaritätskomitees für die Beschäftigten von Amazon riefen in dem Sinne dazu auf, weitere Aktionen zu organisieren. Falls weiteres Interesse an der Unterstützung der KollegInnen bei Amazon besteht, meldet euch beim Berliner Solidaritätskreis für die Beschäftigten von Amazon, der weitere Aktionen gegen die Befristung in Brieselang und für die Unterstützung der Streiks an den anderen Standorten organisieren wird.

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