Zwei Monate Genozid in Gaza: Wir ruhen nicht bis Palästina frei ist

08.12.2023, Lesezeit 10 Min.
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Bild: Anas-Mohammed // shutterstock

Seit zwei Monaten wütet der Genozid in Gaza. Nach der viertägigen Feuerpause bahnt sich eine neue Stufe der Eskalation an.

Ich habe keine Hoffnung mehr zu überleben, wie ich sie am Anfang des Genozids hatte, und ich bin mir sicher, dass ich in den nächsten Wochen oder Tagen sterben werde.

Dies sind die Worte der Filmemacherin Bisan Owda, welche unter einem Beitrag auf Instagram zu finden sind. Seit den wieder aufgenommenen Bombardements am Samstag durch den zionistischen Staat starben bereits über 1000 Menschen. Den Menschen wird nahegelegt, sie sollen fliehen und ihre Häuser verlassen und durch KI generierte Anrufe sollen sie angeblich gewarnt werden. Dystopische Bilder eines live gestreamten Genozids.

Karten von Vertreibung

Wie ist die Lage vor Ort konkret? Der Gazastreifen lässt sich derzeit in drei Zonen einteilen. Der Norden (vor allem mit Gaza Stadt), die Mitte (das Gebiet zwischen Gaza Stadt und HaBesor Stream), und der Süden (das Gebiet südlich des HaBesor Streams). Laut Karten des “Institute for the study of war” befinden sich die Truppen der Bodenoffensive derzeit im Norden und in der Mitte des Gazastreifens. Gaza Stadt ist komplett umringt von Bodentruppen, es gibt keinen Weg rein oder raus, auch dort befinden sich noch Zivilist:innen. Die Mitte des Gazastreifens ist von Ost nach West ebenfalls durch die Bodenoffensive belagert, wodurch es beinahe unmöglich ist vom Norden in den Süden (oder andersherum) zu gelangen. Einziger Ausweg ist ein vermeintlich “sicher[er] Korridor”, der Medienberichten zufolge immer wieder bombardiert wird und zur Todesfalle vieler Vertriebener Zivilist:innen wurde. Nicht zuletzt veröffentlichte der palästinensische Journalist Motaz Azaiza ein Video auf seinem privaten Instagram Account, auf dem er selbst fast von israelischen Soldaten erschossen wurde.

Im Süden befinden sich derweil noch keine Bodentruppen, dieser wird jedoch Tag und Nacht bombardiert. Seit Beginn des Genozids hat die israelische Regierung den Zugang zu Strom, Wasser, Essen und medizinischer Versorgung unterbunden. Die Ausweitung der Bodentruppen auf die Mitte des Gazastreifens rund um den HaBesor Stream führt nun auch dazu, dass es keinen Zugang zu einer der Hauptwasserquellen gibt. Auch das ist Teil der israelischen Bodenoffensive. Neben dem Bombardements auf Krankenhäuser ist die militärische Belagerung von Wasserquellen eines der fatalsten Folgen für die Bevölkerung.
Noch einmal zur Erinnerung: Der Gazastreifen ist, mit einer Fläche von 365 km², in etwa so groß wie die Stadt München oder circa ein Drittel von Berlin. Das UNRWA berichtet mittlerweile von 1,8 Millionen Menschen, die innerhalb des Gazastreifens auf der Flucht sind, also 80 % der Bevölkerung. Diese befinden sich im Süden des Gazastreifens. Die Fläche der Evakuierungszone beträgt lediglich ca. 224 km².

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Screenshot 08.12.2023, 16:30 Uhr Quelle: ​​https://storymaps.arcgis.com/stories/2e746151991643e39e64780f0674f7dd

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Eigene Berechnung der Fläche, in der Menschen sich vor allem aufhalten

Evakuierung, aber wohin?

Sicher ist es im Gazastreifen allerdings nirgends. Das Gesundheitsministerium Gazas berichtet von mittlerweile 15.899 ermordeten Menschen und etwa 42.000 Verletzten. Die Frage steht im Raum, wenn es sich im Süden um eine angebliche Evakuierungszone handelt, warum sterben weiter tausende Menschen? Weil die israelische Regierung ebenfalls den Süden bombardiert. Ja richtig, der Süden, in dem 1,8 Millionen Menschen hingeflohen sind, und auf einer Fläche von 224 km² zusammengepfercht, verletzt und ohne Perspektive auf Sicherheit sind, wird ebenfalls weiter bombardiert. Die israelische Regierung hat seit dem 02.12. hierfür ein neues Konzept entwickelt, was angeblichen Schutz garantieren soll: “Evacuation grids”.

Bei “Evacuation grids” handelt es sich um ein neues Rastersystem für Evakuierungswarnungen, das den Gazastreifen in mehr als 600 Blöcke unterteilt und über einen QR-Code auf Flugblättern und in sozialen Medien zugänglich ist.
Es scheint darauf abzielen, den israelischen Streitkräften (IDF) zu ermöglichen, Zivilisten in einem sich verkleinernden Kampfraum zu verschieben, während sie angeblich auf Hamas-Kämpfer abzielen, indem sie sie auffordern, Gebiete zu verlassen, die in einigen Fällen nur wenige Blöcke umfassen.
Vor Ort berichteten die Menschen, dass dies nur zu ihrer Angst und Verwirrung beigetragen habe. Nach Wochen der Bombardierung und Blockaden haben die meisten Menschen nur begrenzten Zugang zu Elektrizität, um ihre Telefone und andere Geräte aufzuladen. Selbst für diejenigen, die online gehen können, bricht das Telekommunikationssystem regelmäßig zusammen.

Laut Guardian setzte die israelische Armee das Rastersystem erstmals am Samstagmorgen in Online-Evakuierungswarnungen ihres arabischsprachigen Sprechers Lt. Col. Avichay Adraee ein. Allerdings stimmten einige der schattierten Bereiche, die zur Evakuierung markiert waren, nicht vollständig mit den von ihm aufgelisteten nummerierten Blöcken überein.

Das OCHA (Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten) erklärte in ihrem täglichen Update:

Berichten zufolge soll die Karte dazu dienen, Anweisungen zur Evakuierung bestimmter Gebiete vor deren Angriff zu erleichtern.Die Veröffentlichung gibt nicht an, wohin die Menschen evakuieren sollen.Es ist unklar, wie diejenigen, die im Gazastreifen leben, auf die Karte zugreifen würden, da es an Elektrizität mangelt und es wiederholt zu Telekommunikationsausfällen kommt.

Am 02.12. verkündete Netanyahu in der Times of Israel den “Kampf bis zum Ende” und bis zum “totalen Sieg”. Was bedeutet aber die Rhetorik des “totalen Siegs”? Die Antwort liegt auf der Hand, sie bedeutet, dass der israelische Staat so lange kämpfen wird bis Gaza dem Boden gleich gemacht wird, egal wie viele Menschen dabei ermordet werden. Es ist eine Rhetorik, die zeigt: es geht hierbei um die Besatzung des Gazastreifens und die Fortführung der Nakba. Es zeichnet sich ab, dass Israel, nicht mehr nur wie zu Beginn angenommen, den Norden Gazas, sondern den kompletten Gazastreifen, besetzen will. Am 04.12 veröffentlichte Bisan Owda ein Video auf ihrem privaten Instagram. In diesem Video zeigt sie Lichter von israelischen Bombardierungen, die den Nachthimmel immer wieder erhellen. Es sind dieselben Lichter, die die Menschen bereits aus dem Norden kennen, bevor ihnen gesagt wurde, sie sollen in den Süden evakuieren. Nun befinden sie sich im Süden. Für Bisan ist klar: „Sie drängen uns, den Gazastreifen zu verlassen, weil sie Gaza übernehmen wollen, so wie sie zuvor Palästina übernommen haben. Sag der Welt Israel (…), dass dies eine Nakba ist, wie 1948.“

 

Trotz leerer Worte: Deutschland steht weiter hinter dem Genozid

Am 04. Dezember trafen sich Bundeskanzler Scholz und Präsident Lula da Silva zu den deutsch-brasilianischen Regierungskonsultationen. Während sich Deutschland für “humanitäre Feuerpausen” einsetze, fordere die brasilianische Regierung eine sofortige und dauerhafte Waffenruhe. Scholz äußerte die Ansicht, dass Israel das Recht habe, die Hamas zu besiegen und daran zu hindern, weiterhin terroristische Handlungen durchzuführen. Lula da Silva betrachtet die „Zwei-Staaten-Lösung“ als die einzige Lösung für den Konflikt. Scholz betonte jedoch, dass dies mit einer Hamas, die Israel angreifen möchte und zehn Millionen Menschen, die in Israel leben, die Existenz in ihrem eigenen Staat verbieten wollen, nicht möglich sei.

In einem Statement vom selbigen hielt Baerbock ein Plädoyer an die israelische Regierung: „Die zentrale Frage ist, wie dieses Recht auf Selbstverteidigung ausgeführt wird. Dass es gerade in dieser Phase eine Verantwortung gibt, ziviles Leid zu lindern“. Sie betonte weiterhin die Notwendigkeit einer “Zwei-Staaten-Lösung”. Diese Aussage ist im Kontext des voranschreitenden Genozids nichts mehr als leere Worte. In Anbetracht der gezielten Tötung von Zivilist:innen und der Gefahr der Besatzung des gesamten Gazastreifens, stellt sich die Frage, wie überhaupt “Leid gemildert” werden könnte.

Allein in diesem Jahr verzehnfachten sich die Zahl der Rüstungsexporte im Vergleich zum Vorjahr. Der Wert dieser Exporte stieg von 32 auf 303 Millionen Euro. Der Waffenkonzern Rheinmetall verkündete, dass sie für das Jahr 2026 einen Umsatz zwischen 13 und 14 Milliarden Euro erwarten. Damit würde das Unternehmen seinen Umsatz gegenüber 2023 fast verdoppeln. Im Zeitraum zwischen dem 07.10. bis 08.11. wurden 185 Rüstungsexporte genehmigt. Insgesamt waren es in diesem Jahr 218 Exporte. Somit wurden also circa 85 % aller Rüstungsexporte an Israel innerhalb eines Monats verabschiedet.

Kein Friede ohne Befreiung

In den letzten zwei Monaten gab es vor allem im öffentlichen Diskurs viele Fragen, ob eine “humanitäre Waffenpause” oder ein sofortiger Waffenstillstand die Zivilist:innen schützen würden. In dieser Zeit stimmte die israelische Regierung diesen sogenannten “humanitären Waffenpausen” zu und trotzdem wurden am Sonntag, den 06. Dezember binnen 24h 1000 Menschen getötet. Aber wie steht es um die Frage eines Waffenstillstands? Natürlich müssen wir aufgrund der katastrophalen Lage für einen sofortigen Stopp der Bombardements und der Belagerung kämpfen. Wir müssen uns gegen die bedingungslose Unterstützung Israels und gegen Waffenlieferungen der Regierung stellen. Das Sterben Tausender muss ein Ende haben und zwar sofort!

Diese Forderungen müssen in Verbindung stehen mit den dutzenden internationalen Beispielen von Arbeiter:innen, die ihre materielle Kraft nutzen, um sich an ihren Arbeitsstellen gegen Waffenlieferung zu stellen. Eine globale Welle an Massenprotesten und Streiks, die ein Ende der Waffenlieferungen und des Krieges fordern. Sie verweigern die Arbeit und blockieren Fabriken, Flughäfen und Häfen.
In Katalonien kündigten Hafenarbeiter:innen an, keine Schiffe mehr mit Waffen zu beladen. In Belgien waren es Flughafenarbeiter:innen, die keine Waffen lieferten. In Italien blockierten 500 Arbeiter:innen den Hafen. In England waren es Arbeiter:innen, die Fabriken eines israelischen Rüstungskonzerns besetzten. In Indien riefen die 5 größten Gewerkschaften zum Boykott aller israelischen Güter auf. Es sind diese Beispiele, die uns zeigen, welche Macht die Arbeiter:innen der imperialistischen Länder haben. Es sind Arbeiter:innen, die die Kriegsmaschinerie ins Stocken bringen.

Ja, wir müssen für einen sofortigen Stopp der Bombardierung kämpfen und uns mit allen Mitteln gegen die Waffenlieferung stellen, aber wir dürfen nicht bei dieser Forderung aufhören. Es muss klar sein, dass auch, wenn ab morgen keine einzige Bombe fällt und keine einzige Patrone geschossen wird, die Menschen Palästinas trotzdem noch unter Besatzung leben. Dieses Jahr jährt sich zum 75. Mal die Nakba, also die Vertreibung von über 700.000 und die Ermordung von tausenden Palästinenser:innen während der Staatsgründung Israels 1948. Die Nakba besteht weiter, denn sie hat nie geendet. Das siedlerkoloniale Projekt versucht seit jeher palästinensisches Leben zu vertreiben und auszulöschen und das wird auch mit einem Stopp der Bombardierung nicht enden.

Mit einem siedlerkolonialen Apartheidstaat ist kein Frieden zu machen. Der israelische Staat selbst hat nie Bestrebungen für Frieden oder eine Zwei-Staaten-Lösung zugelassen. Der Kampf für ein freies Palästina darf nicht bei der Forderung von Waffenstillstand oder einer “Zwei-Staaten-Lösung” aufhören. Wir müssen kämpfen für ein sozialistisches, freies und laizistisches Palästina, in dem Palästinenser:innen, jüdische Menschen und andere ethnische Gruppen gemeinsam leben können. Die palästinensische Dichterin, Menschenrechtsaktivistin und Dozentin Rafeef Ziadeh betonte dies auf einer Massendemonstration in London:

Weil eine Pause kein Waffenstillstand ist und Waffenstillstand keine Freiheit ist. Wir werden nicht Ruhen, bis die Blockade endet. Wir werden nicht Ruhen, bis Palästina frei ist. Weil eine Pause kein Waffenstillstand und Waffenstillstand weniger als Freiheit ist. Und meine Leute immer Freiheit wollten.

 

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