„Zionism and Anti-Semitism“ vom 10. Februar 1972. Übersetzung und Vorwort von Dror Dayan." /> „Zionism and Anti-Semitism“ vom 10. Februar 1972. Übersetzung und Vorwort von Dror Dayan." />

Zionismus und Antisemitismus

03.12.2016, Lesezeit 20 Min.
Gastbeitrag
Übersetzung:

Ein grundlegendes Problem in der Ansicht vieler deutscher Linken auf Palästina und den Zionismus besteht darin, dass das Paradigma unkritisch akzeptiert wird, der Zionismus sei eine emanzipatorische Antwort auf den Nationalsozialismus. Schon historisch ist diese Annahme falsch – die zionistische Bewegung und die ersten Stufen der Kolonisierung Palästinas entstanden einige Jahrzehnte vor dem deutschen Faschismus. Nichtdestotrotz besteht natürlich eine Beziehung zwischen dem Zionismus und dem europäischen Antisemitismus; diese Beziehung ist aber viel weniger kausal und viel dialektischer, als es in dem hegemonialen Diskurs in Deutschland gesehen und analysiert wird. Der folgende Text ist eine deutsche Übersetzung des Artikels „Zionism and Anti-Semitism“ vom 10. Februar 1972. Übersetzung und Vorwort von Dror Dayan.

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Demonstration von Matzpen, um 1970

Bild: Demonstration der schwarzen Panther in Israel, die von Matzpen unterstützt wurde, um 1970

Vorwort

Eine Grundannahme der neokonservativen zionistischen Strömungen innerhalb linker Strukturen – auch fälschlicherweise „Antideutschen“ genannt – ist, der Antisemitismus sei eine inhärente Tugend der deutschen oder europäischen Gesellschaft (seit einiger Zeit wird diese inhärente Tugend auch dem Islam zugeschrieben). Diese Analyse ist weit verbreitet, obwohl es jeder*m Marxist*in sofort klarwerden müsste, dass sie rein idealistisch und undialektisch ist, an Biologismus grenzt und jegliche materiellen Umstände und soziale Strukturen ignoriert. Genau diese Position vertritt auch der Zionismus – dass eine Gesellschaft ohne Diskriminierung von Juden*Jüdinnen in Europa einfach nicht möglich sei. So wird der Antisemitismus jeglichem sozialen Kontext entrissen und die revolutionäre Möglichkeit einer sozialistischen Befreiung von allen Formen des Rassismus negiert.

Dieser konservativen Anschauung müssen wir eine kritische und argumentierte Position entgegenstellen. Den Antisemitismus, wie alle anderen gesellschaftlichen Erscheinungsformen des Kapitalismus, können wir nur mittels einer marxistischen Analyse verstehen und bekämpfen. Da müssen wir keinesfalls das Rad neu erfinden ­– dem Zionismus wurde seit seiner Gründung aus einem revolutionären sozialistischen Standpunkt konsequent entgegengetreten. Ein führender Akteur davon innerhalb der israelischen Gesellschaft war die Gruppe „Israeli Socialist Organisation“ (ISO), besser unter dem Namen ihrer Zeitschrift „Matzpen“ bekannt. Diese israelische antizionistische und internationalistische Gruppe, die bis in die 80er Jahre aktiv war, war vielleicht die entschiedenste und kritischste Opposition zu dem Zionismus im „eigenen“ Land. Sie hat sich von anderen Gruppen vor allem darin unterschieden, dass sie die Verbindung von Theorie und Praxis nie vernachlässigt hat. Das Archiv ihrer Zeitschriften, vor allem das Band „The Other Israel“, ermöglicht uns eine kritische Auseinandersetzung mit der Dialektik von Zionismus und Antisemitismus, die heutzutage nur wichtiger wird.

Der folgende Text ist eine deutsche Übersetzung des Artikels „Zionism and Anti-Semitism“, verfasst von zwei führenden Mitgliedern Matzpens, Akiva Orr und Moshe Machover, damals unter dem Pseudonym N. Israeli. Ich hoffe, linke Aktivist*innen und Gruppierungen im deutschsprachigen Raum könnten von diesem Text in ihrer politischen Arbeit Gebrauch machen, um die Argumente zionistischer Gruppierungen innerhalb und außerhalb linker Strukturen so zu entlarven, wie sie sind – als idealistische, reaktionäre, oft rassistische Propaganda.

 

Zionismus und Antisemitismus

Eine von Matzpen bearbeitete Version eines Artikels von N. Israeli

Die Beziehung zwischen dem Zionismus und dem Antisemitismus ist von einem emotionellen Nebelvorhang umgeben, der viele Menschen – auch Juden*Jüdinnen – davon abschreckt, ihre Bedenklichkeiten über den Zionismus auszusprechen. Diese Abneigung ist der zionistischen Öffentlichkeitsarbeit sehr bekannt, die dann in einer Art emotioneller Erpressung davon Gebrauch macht.

Gegen das Ende des neunzehnten Jahrhunderts haben die hauptsächlich der Mittelklasse angehörenden Juden*Jüdinnen Westeuropas ein großes Maß an legaler Gleichberechtigung mit Nichtjuden*Jüdinnen erreicht. Nichtdestotrotz waren sie immer noch von voller gesellschaftlicher Integration weit entfernt, und eine Wiederverschlimmerung des Antisemitismus hat ihre schon errungenen Erfolge gefährdet. Gleichzeitig blieben den armen Juden*Jüdinnen Osteuropas selbst die grundlegendsten Zivilrechte verboten, und die antisemitische Reaktion intensivierte sich in allen Lebenssphären. Der Zionismus entstand aus der wachsenden Frustration von den Kämpfen für komplette gesellschaftliche Integration und demokratische Rechte. Die zionistische Ideologie lieferte eine scheinhafte Erklärung für die Niederlage dieser Kämpfe. Sie proklamierte, die Verfolgung der Minderheiten sei nicht das Resultat von spezifischen sozialen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Umständen. Vielmehr, verkündete der Zionismus, sei die Verfolgung von Minderheiten der menschlichen Natur inhärent. Aus diesem Grund sei es sinnlos, sie zu bekämpfen; stattdessen müsse man sie akzeptieren und sich so gut wie möglich an diesem unvermeidlichen, ewigen Böse anpassen. Theodor Herzl, der Gründer des Zionismus, ein assimilierter westeuropäischer Jude, der durch den Schock der Dreyfus-Affäre sich seines „Judentums“ bewusst wurde, fasste seine Einstellung zum Antisemitismus folgendermaßen zusammen:

In Paris, wie gesagt, habe ich eine freiere Einstellung zum Antisemitismus erlangt, den ich jetzt beginne, historisch nachzuvollziehen und zu entschuldigen. Vor allem erkannte ich die Gehaltlosigkeit und Sinnlosigkeit der Versuche, Antisemitismus zu „bekämpfen“. [1]

Dieser pessimistische Ansatzpunkt, der eine unveränderbare, inhärent böse menschliche Natur voraussetzt, wird oft von zionistischen Sprechpersonen abgemildert. Er wird aber laut und deutlich von denen ausgesprochen, die Diplomatie nicht berücksichtigen müssen. J. Bar-Yossef ist ein typisches Beispiel für die extremere Position:

Die Generation, in der der Zionismus geboren ist, hatte großes Vertrauen an menschlichem Fortschritt und Fraternität. Sie hat Rousseaus Theorie akzeptiert, der zufolge die menschliche Natur grundlegend gut ist: Lasst die Leute anständig leben, und die menschliche Gesellschaft wird eine Gesellschaft von Engeln… Die Minderheit muss verstehen, dass die menschliche Natur grundlegend böse ist, dass die Mehrheit die Minderheit immer anhand ihrer Lust und Laune behandeln wird. Gelegentliche Wellen des Liberalismus haben bloß einen temporären Charakter… Keine Ausbildung, Fortschritt, Liberalismus oder Humanismus könnte die Minderheit retten, wenn die Zeit des Schreckens kommt. [2]

Es gibt eine weitere Strömung innerhalb des Zionismus, die die erfolgreiche Integration und Assimilation nicht nur für unmöglich hält, sondern sie sogar als katastrophal betrachtet. Oft vermischen sich diese beiden Strömungen, aber die stursten Befürworter*innen der zweiten Strömung denunzieren die Interpretation des Zionismus als eine Antwort auf Druck von außen. Diese betrachten sie als schädlich für den Zionismus und sehen ihn stattdessen als einen natürlichen Ausdruck jüdischen Nationalismus. Israel Sheib vertritt diese Ansicht:

Die Wurzel alles Bösen in der (jüdischen) Geschichte stammt aus der französischen Revolution und der abscheulichen Emanzipation. Der Zionismus wurde uns aufgezwungen. Die meisten Menschen, die jetzt hier (in Israel) sind, sind hier, weil sie nirgendwo sonst leben könnten, sich nirgendwo assimilieren könnten. Warum gibt es keine Masseneinwanderung von Tausenden von Juden*Jüdinnen nach Palästina, jetzt, wo wir es zurückerobert haben? Sagt mir nicht, es sei die Schuld der „Jewish Agency“ oder dass die ökonomischen Mittel fehlten. Die Diaspora liegt tief in uns und das religiöse Judentum hat der Wiederauferstehung in Palästina nicht den Weg bereitet. Diese Aufgabe wurde Herzl, Jabotinsky und Ben-Gurion gereicht, und sie waren Produkte einer bankrotten Emanzipation. Daher stammen all unsere andere Komplexe wie „wir kamen her“, „wir sind fortschrittlich“, „wir sind humanistisch“ usw. Das ist alles so, weil die zwei großen Revolutionen, die französische und die russische, die Fahne der Integration, Assimilierung, Kosmopolitismus gehisst haben, Ideen, die wir als erste angenommen haben. Da wir dort scheiterten und hierherkamen, fühlen wir uns unbequem wegen der Araber, des Militarismus und Krieges. Diese Unbequemlichkeit ist die geistige Krise. Selbst das religiöse Judentum glaubt heute daran, dass der Messias eigenständig kommen würde, dass nichts gemacht werden muss, dass es einen Staat gibt, eine zionistische Organisation, eine herrschende Partei, die sich mit praktischer Politik befassen. Aber wir befassen uns hier mit Fragen der Ewigkeit, nicht der Politik. Deswegen laufen aller Parteien den historischen Geschehen hinterher, anstatt die Schuld in dem Weg selbst zu sehen. [3]

So wird der falschen Verallgemeinerung, die Verfolgung von Minderheiten sei der menschlichen Natur inhärent, der Wunsch hinzugefügt, jüdische Getrenntheit, „Judesein“ als obersten Wert zu verewigen. Die erste Einstellung betrachtet den Antisemitismus als Übel und Integration als unvermeidbares Scheitern; die zweite betrachtet den Antisemitismus als ein Segen und Integration als ein Übel, das vermieden werden muss. Eine benebelte Kombination beider Einstellungen treibt die meisten sprachgewandten Zionist*innen. Und hier entsteht eine gewisse charakteristische Ambivalenz des Zionismus dem Antisemitismus gegenüber. Auf der einen Seite wird der Antisemitismus gehasst und befürchtet, da er die reine Existenz der Juden*Jüdinnen verletzt und bedroht. Auf der anderen Seite aber verewigt er das „Judesein“ indem es die Juden*Jüdinnen dazu zwingt, sich in Selbstverteidigung zusammenzuschließen.

Der liberale Zionist Uri Horary drückt diese Ambivalenz in einem gemäßigteren Ton aus:

Natürlich ist es nicht gewöhnlich, darüber in der Öffentlichkeit zu reden, aber viele von uns verspürten ein kleines bisschen Freude, als wir die Zeitungsberichte über die Welle der Hakenkreuze in Europa 1960 lasen; oder über die pro-Nazi Bewegung in Argentinien. Auch heute haben wir sehr gemischte Gefühle, wenn wir über den wachsenden Antijudaismus der schwarzen Anführer*innen in den USA lesen. Zusammen mit aller Wut, Schock und Erniedrigung, bilden diese Erscheinungen ein Teil unserer Weltansicht, da der Zionismus sagte, und sagt immer noch, so sind halt die Dinge. So muss zwangsläufig die Realität sein, solange Juden*Jüdinnen unter nicht-Juden*Jüdinnen leben. [4]

Direkter sind die Worte Dr. Gevaryahus in einem Bericht über die Situation der europäischen jüdischen Gemeinden:

Das schwedische Judentum ist auch durch Assimilierung korrodiert, und selbst die Idee einer Migration nach Israel ist noch fern… Antisemitismus hat eine gewisse Rolle in der Bewahrung von Juden*Jüdinnen und Judensein zu spielen … Der Antisemitismus ähnelt der jüdischen Art des Lebensunterhaltsverdienens – zu reich oder zu arm Sein ist ungesund für die Existenz des Judentums. Das gleiche gilt für Antisemitismus: zu viel oder zu wenig davon ist nicht willkommen, aber in angemessenen Mengen wohl. Er erinnert die Juden*jüdinnen daran, wer sie sind, und zwingt sie dazu, bei Ihresgleichen und ihrer altertümlichen Heimat treu zu bleiben. [5]

Wenn einst die Annahme, Verfolgung von Minderheiten sei der menschlichen Natur inhärent, akzeptiert wird, folgt der Rest des zionistischen Arguments mühelos. Wenn von der feindlichen Mehrheit nicht erwartet werden kann, dass sie ihren bösen Charakter überwindet, bleibt der Minderheit nur die Möglichkeit einer exklusiven Selbstbefreiung übrig. Das war die grundlegende Idee hinter Leo Pinskers Broschüre von 1892, „Autoemanzipation“, die behauptete, der einzige Weg, für eine verfolgte Gruppe die Kontrolle über ihr Schicksal zurückzuerlangen, sei durch die Etablierung ihres eigenen Nationalstaates, in dem sie die Mehrheitsmacht hält.

Aber der Zionismus hat die Verfolgung von Minderheiten in Israel weder abgeschafft, noch kann er das tun. Stattdessen transformierte er die Juden*Jüdinnen von einer verfolgten Minderheit in eine unterdrückende Mehrheit. Dem Zionismus gelang es bloß, seine eigene Version der Welt zu erschaffen, aus der die Juden*Jüdinnen abgewiesen wurden. Eigentlich widmete Herzl viele Seiten seiner Tagebücher der Beschreibung des jüdischen Staates als eine liberalisierte Version der Habsburgermonarchie, der österreichischen Gesellschaft der späten 1890er Jahre.

Indem er die Migration nach Palästina als die einzige mögliche Lösung des Problems des Antisemitismus vorschrieb, fand sich der Zionismus ironischerweise im selben Lager zusammen mit denjenigen Antisemit*innen, die die Kämpfe der jüdischen Gemeinde für Zivilrechte und gesellschaftliche Integration mit dem Spruch „Geht nach Palästina“ erwidert haben. Typischerweise wurde die Initiative in dem Kampf gegen den Nazismus in den 1930er Jahren von nicht-Zionist*innen und ihren Organisationen getragen. Je heftiger der Kampf wurde, desto weiter weg standen die zionistischen Organisationen vom restlichen europäischen Judentum. Die zugrundeliegenden Berücksichtigungen werden in einem Brief Ben-Gurions an die zionistische Führungskraft erläutert, der vom 17. Dezember 1938 datiert:

Das jüdische Problem heute ist nicht mehr das, was es war. Das Schicksal der Juden*Jüdinnen in Deutschland ist kein Ende, sondern ein Anfang. Andere antisemitische Staaten werden von Hitler lernen. Millionen von Juden*Jüdinnen stehen vor der Ausrottung. Das Problem der Flüchtlinge nahm weltweite Maßen und Dringlichkeit an. Großbritannien versucht, die Sache der Geflüchteten von der Sache Palästinas zu trennen. Es wird dabei von antizionistischen Juden*Jüdinnen unterstützt. Das Ausmaß der Geflüchtetenfrage verlangt eine sofortige territoriale Lösung; falls Palästina sie nicht absorbieren wird, wird es ein anderes Territorium tun. Der Zionismus ist gefährdet. Alle anderen territorialen Lösungen, die zur Niederlage bestimmt sind, werden gewaltige Geldsummen benötigen. Würden die Juden*Jüdinnen vor die Wahl gestellt, den Geflüchteten zu helfen, Juden*Jüdinnen vor den Konzentrationslagern zu retten, oder ein nationales Museum in Palästina zu unterstützen, würde die Barmherzigkeit die Oberhand haben und die gesamte Energie der Menschen wird für die Rettung der Juden*Jüdinnen aus verschiedenen Ländern verwendet. Der Zionismus wird von der Tagesordnung verstrichen sein, nicht nur in der weltweiten öffentlichen Meinung, in Großbritannien und den USA, sondern auch anderswo in der jüdischen öffentlichen Meinung. Wenn wir eine Trennung zwischen der Geflüchtetenfrage und dem Palästinaproblem erlauben, riskieren wir die Existenz des Zionismus.

Das Retten jüdischer Leben vor Hitler wird von Ben-Gurion als eine potentielle Bedrohung des Zionismus gesehen, es sei denn, die geretteten Juden*Jüdinnen werden nach Palästina gebracht. Vor die Wahl zwischen den Juden*Jüdinnen und dem jüdischen Staat gestellt, hat sich der Zionismus bedenkenlos für den zweiten entschieden.

Es wird von Befürworter*innen des Zionismus oft argumentiert, hätte ein jüdischer Staat in Palästina vor dem zweiten Weltkrieg existiert, hätte er die Mehrheit der Juden*Jüdinnen Europas gerettet. Die Tatsache, dass die Juden*Jüdinnen in Palästina Vernichtung entkommen sind, wird oft als faktische Unterstützung für dieses Argument verwendet.

Die Wahrheit ist aber, dass die Juden*Jüdinnen in Palästina der Gefahr einfach nur entkommen sind, weil die Nazis den mittleren Osten nicht besetzt haben. Es gibt keinen Grund zu glauben, die Nazis hätten einen jüdischen Staat anderes behandelt, als sie alle anderen jüdischen Gemeinden behandelten. Und was den Glauben angeht, Juden*Jüdinnen in Palästina hätten sich anderes verhalten, als die europäischen Gemeinden unter NS-Besatzung, sind die Beweise kaum eindeutig. Es ist bekannt, dass dieses Thema am Vorabend der Schlacht von El-Alamein in den zionistischen und anderen exekutiven Komitees diskutiert wurde. Während eine Gruppe dafür plädiert hat, alle palästinensische Juden*Jüdinnen auf dem Karmel-Gebirge für eine finale, Masada-ähnliche Endschlacht zu mobilisieren, hat eine andere Gruppe eine Art Modus Vivendi mit den Nazis vorgesehen. Es wurde sogar argumentiert, das industrielle Potential der jüdischen Gemeinde in Palästina könnte als Druckmittel für die Verhandlungen dienen.

Zusammengefasst: Der Zionismus akzeptiert den Antisemitismus als die natürliche, normale Einstellung der nichtjüdischen Welt. Er betrachtet ihn nicht als eine verdrehte, perverse Erscheinung. Der Zionismus, durch diese Ansicht belastet, kann auf den Antisemitismus reagieren, kann ihn aber weder konfrontieren noch denunzieren oder bekämpfen. In Palästina erschuf der Zionismus eine exklusive, unterdrückende Gesellschaft, in der die Juden*Jüdinnen zu einer Mehrheit gemacht wurden, die zahlreiche Rechte genießt, während die Minderheiten (hauptsächlich die ehemalige palästinensische Mehrheit) unter politischer, juristischer, sozialer und wirtschaftlicher Diskriminierung zu leiden hat.

Die zionistischen Annahmen haben unter vielen Zionist*innen eine sachliche und pragmatische Einstellung zum Antisemitismus gehegt, der zufolge der*die Antisemit*in dem*der Zionist*in nicht wie ein Feind erscheint, gegen den ein unerbittlicher Kampf geführt werden muss, sondern als ein potentieller Verhandlungspartner, mit dem Kompromisse verhandelt werden können, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen; zum Beispiel die Entfernung von Juden*Jüdinnen aus den nichtjüdischen Gesellschaften und ihre Sammlung in ihrer eigenen. So konnte Theodor Herzl Verhandlungen mit Plehve eingehen, dem berüchtigten antisemitischen zaristischen Innenminister, der ihm 1903 einen Brief bewilligte, der der zionistischen Bewegung zugesichert hat, sie könne sich seitens der Zarenregierung auf eine „moralische und materielle Unterstützung, in Bezug auf die von der zionistischen Bewegung unternommenen Maßnahmen, die zu einer Reduzierung der jüdischen Bevölkerung in Russland führen“, verlassen [6]. Ein ähnliches Abkommen wurde zwischen Arlosoroff, Sekretär der zionistischen Gewerkschaft „Histadrut“, und den Nazis im Jahr 1934 verhandelt. Die berüchtigtste all dieser Verhandlungen war höchstwahrscheinlich die, die in Budapest 1944 zwischen Rudolph Kastner, Sekretär des zionistischen Komitees der Stadt, und Adolph Eichmann verhandelt wurde. Nachdem er Kastners Kooperation gewann, indem er den tausend reichsten Juden*Jüdinnen die Flucht in die Schweiz gewährte, nutzte ihn Eichmann aus, um weitere 800.000 unwillige Juden*Jüdinnen zu einem Einstieg in die Züge nach Auschwitz zu überreden.

Das gegenseitige Verständnis zwischen dem Zionismus und dem Antisemitismus wird von beiden Seiten auf politischen und persönlichen Ebenen geteilt. Typisch ist der folgende Ausschnitt aus den Tagebüchern R. Meinertzhagens, Allenbys politischer Offizier in den Jahren 1919-21:

Meine Inklination zu den Juden*Jüdinnen allgemein wird von einem antisemitischen Instinkt beherrscht, der unveränderlich durch meinen persönlichen Kontakt bestimmt ist. Meine Ansichten des Zionismus sind die eines glühenden Zionisten. [7]

Das Massakrieren der Juden*Jüdinnen während des zweiten Weltkriegs transformierte das Bild der Führung der jüdischen Gemeinde in Palästina vollkommen. Wenn diese Führung vor dem Krieg als die Vertretung einer kleinen, wenn auch besonderen, jüdischen Gemeinde akzeptiert war, wurde sie nach 1945 (und besonderes nach der Staatsgründung 1948) als die einzige legitime Vertretung des Judentums akzeptiert. Der Staat Israel überschattete nach und nach alle anderen jüdischen Vertretungsorgane vollkommen, unter anderem die zionistische Bewegung selbst. Noch mehr; als dieses Bild einmal etabliert wurde, begann die Führung enormes moralisches Gewicht im ganzen Westen zu erlangen.

Als Washington sich beispielsweise entschied, Adenauers Deutschland zurück in das westliche Bündnis wiederaufzunehmen, den Aufbau der Bundeswehr zu ermöglichen und sie in die NATO zu integrieren, musste es das Adenauer Regime „rehabilitieren“ und in den Augen der Weltöffentlichkeit wieder „respektabel“ machen. Mit dieser Aufgabe wurde natürlich Ben-Gurion beauftragt. Ohne zu zögern unterschrieb er ein Wiedergutmachungsabkommen mit Adenauer, und deklarierte öffentlich: „Deutschland von heute ist nicht das von gestern“, wobei er den gewalttätigen Protest innerhalb Israels ignorierte. Adenauer nannte die abkommen „Wiedergutmachung“, als ob für Genozid mit Geldzahlungen gesühnt werden könne. Danach, als Adenauer zum ersten Mal in die USA eingeladen wurde und jüdische Demonstrationen befürchtete, flog Ben-Gurion dienstwillig aus Israel hin und traf ihn „zufällig“ im Waldorf-Astoria, wo ein Fotograf „zufällig“ die beiden ablichtete, genau als sie sich die Hände gaben. Als das Bild auf dem Coverblatt der Weltpresse erschien, wurde Adenauer „koscherisiert“ (Zufälligerweise hat Adenauer während dieses Treffens Israel ein gewaltiges neues Darlehen zugesprochen). Manche Jahre später, als Eichmann in Jerusalem vor Gericht gebracht wurde, war der Staatsanwalt sehr vorsichtig, den Namen Globke nicht zu erwähnen, der Mitverfasser der Nürnberger Rassegesetze, der die juristische Grundlage der rassistischen Diskriminierung in Nazi-Deutschland legte. Fakt ist, dass Globke Adenauers vertrauter Helfer war, und die hektischen Verhandlungen, die diesbezüglich hinter den Kulissen stattfanden, sind bis heute wenig bekannt.

Nach und nach hat sich die Praktik etabliert, dass jede*r „respektable“ Politiker*in, der*dem im eigenen Land Rassismus vorgeworfen wird, einen Staatsbesuch nach Israel organisiert, um ihr*sein Bild zu verbessern, Der französische Nationalist Jacques Soustelle, Franz-Josef Strauss und der Brite Enoch Powell haben alle das Land besucht. Der Öffentlichkeitsarbeitsmechanismus dieser Besuche basiert darauf, dass die westliche öffentliche Meinung dazu konditioniert wurde, die israelische Regierung als die „Stimme des jüdischen Gewissens“, „die Stimme sechs Million von Nazis ermordeten Juden*Jüdinnen“ zu akzeptieren. Dementsprechend erwartet die europäische Öffentlichkeit von der israelischen Regierung, dass sie jede*n Rassist*in entlarvt und denunziert. Es ist keine wirklich geheime Absprache als vielmehr das alte, gegenseitige Verständnis zwischen Zionismus und Antisemitismus in einem neuen offiziellen Gewand.

Die westliche Zivilisation produzierte den Antisemitismus als ihren legitimen Nachwuchs, den Nazismus als ihren illegitimen. Große Teile des europäischen Judentums, die nicht in der Lage waren, den Antisemitismus als ein Produkt einer Zivilisation anzuerkennen, der sie selbst angehören, erhoben ihn zu einem „menschlichen Naturgesetz“ und produzierten den Zionismus, um mit dieser Entfremdung umgehen zu können. Als beide ideologischen Entfremdungen die Herrschaft über den menschlichen Verstand eroberten, wurden Genozid und der jüdische Staat zur Realität. Schlussendlich wurde die Pyramide der Entfremdung vollbracht, als die westliche Zivilisation den zionistischen Staat als ihr „Gewissen“ akzeptierte.

Unter diesen Umständen ist die Widerwilligkeit der öffentlichen Meinung im Westen, den Zionismus zu kritisieren, zu entlarven oder zu denunzieren, durchaus verständlich, aber diejenigen, die diese Zustände friedlich annehmen, müssen sich mindestens bewusst sein, dass sie, stillschweigend, die Grundannahmen des Rassismus akzeptieren.

Fußnoten

1. The Diaries of Theodor Herzl, London, 1958, p.6.

2. J. Bar-Yossef in Yediot Aharonot, 12. Januar 1968.

3. Israel Sheib (“Eldad”), Ansichten, Zeitschrift der religiösen Akademiker, Winter 1968, p.296. (Aus dem Hebräischen übersetzt.)

4. Yediot Aharonot, 9. Februar 1969.

5. Ibid., 29. Mai 1964.

6. The Diaries of Theodor Herzl, p.398.

7. R. Meinertzhagen, Middle East Diary, London, 1959, p.49.

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