Was passiert in Italien?

08.12.2016, Lesezeit 6 Min.
Gastbeitrag

Die Niederlage der Renzi-Regierung beim Verfassungsreferendum am vergangenen Sonntag öffnet eine Zeit der politischen Krise. Marc Polo, Aktivist bei der Gruppe Clash City Workers, berichtet über seine Einschätzung des Referendums, der Nein-Kampagne und der Perspektiven.

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Am Samstag hat die Mehrheit der Italiener*innen „Nein“ zur Verfassungsreform gesagt. Der deutliche Unterschied (fast 60 Prozent gegenüber 40 Prozent) und die hohe Beteiligung (65 Prozent) machen das Ergebnis der Wahl besonders bedeutungsvoll. Als erste Auswirkung hat Ministerpräsident Matteo Renzi um Mitternacht seine Niederlage eingeräumt und seinen Rücktritt angekündigt. Am Montag Nachmittag hat der Präsident der Republik, Sergio Mattarella, ihn überzeugt, noch einige Tage im Amt zu bleiben, um das Haushaltsgesetz zu verabschieden. Können sich die Ausgebeuteten über Renzis Rücktritt freuen? Ja, mit Sicherheit, aber auch mit dem Bewusstsein, dass das „Nein“ nur der Anfang sein soll und die Gefahren von jetzt an zahlreich sind.

Wogegen wurde gewählt?

Die Menschen haben sowohl gegen die Verfassungsreform als auch gegen die Regierung von Matteo Renzi gestimmt. Es wäre unmöglich gewesen, etwas anderes zu machen. Einerseits sagte Renzi selbst vor einem Jahr, dass sein politisches Schicksal und das seiner Regierung mit der Verfassungsreform eng verbunden sei. Andererseits war die Verfassungsreform objektiv der Ausdruck der Regierung und des Machtblocks, der die Regierung gewaltig unterstützte. Kurz gefasst sah die Reform durch eine Umstrukturierung des „Senats der Republik“, die Zentralisierung der Befugnisse und die Stärkung der Rolle der Regierung vor (eine gute Zusammenfassung der Reform findet sich im Artikel von Robert Samstag).

Wie der Arbeitsminister Giuliano Poletti sagte, hätte es diese Reform erlaubt, unpopuläre und ungerechte Gesetze, wie zum Beispiel den sogenannten Jobs Act, leichter zu verabschieden. Nach den Reformen, die im Laufe der letzten zwei Jahre den Versuch unternommen haben, eine neoliberale Umwandlung des Staates zu vollbringen (Jobs Act, Buona scuola, Sblocca Italia, Piano Casa), sollte der Verfassungsumbau der Ziel- und zugleich der Ausgangspunkt für eine neue Reihe von Gesetzen werden. Die Reform ließ sich deutlich als Klassenangriff bezeichnen. Es genügt zu erwähnen, dass der italienische Arbeitgeberverband Confindustria, der Geschäftsführer von Fiat Chrysler Automobiles Sergio Marchionne, die Banken, der amerikanische Botschafter, der deutsche Finanzminister Schäuble und so weiter, der Reform zugestimmt haben.

Matteo Renzi war der verlässliche Mann der italienischen Bourgeoisie, in der Hoffnung die Zustimmung zur Reform zu erlangen. Renzis Niederlage ist also die Niederlage der politischen Strategie der Bourgeoisie. Es ist auch die Niederlage der massiven und kostspieligen Propaganda, mit der die Regierung versucht hat, auf alle Fälle zu gewinnen. Der Ministerpräsident war immer im Fernsehen, die wichtigsten Zeitungen sprachen nur für das „Ja“, viele Unternehmen forderten die Beschäftigten auf, mir „Ja“ zu stimmen. Und der Gouverneur von Kampanien, Vincenzo De Luca, wurde in Stereo aufgenommen, während er vor 300 Bürgermeister*innen und Unternehmer*innen den Stimmenkauf befürwortete.

Wer hat gewählt?

Das „Nein“ hat fast überall gewonnen, aber besonders im Süden und auf den Inseln, während das „Ja“ nur in der Toskana, der halben Emilia Romagna und in Bozen die Mehrheit erhielt. Die Zusammensetzung des „Neins“ ist ziemlich interessant: auf Grund der ersten Analysen scheint es, dass vor allem die Jugendlichen, die einkommensschwachen Arbeiter*innen, die jungen Arbeitslosen und die Arbeitslosen im Allgemein dagegen sind. Das „Nein“ hat eine Klassenbedeutung. Alle, die zu Opfern der Politik und Krise der letzten Jahre wurden, haben die Bedeutung der Wahl für ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen begriffen. Wir hatten das registriert, als wir im Laufe der letzten Monate unsere Kampagne in vielen Vierteln und Arbeitsplätzen geführt haben. Seit September, haben wir Flugblattaktionen, Versammlungen, Aktionen in öffentlichen Verkehrsmitteln, Propaganda mit Wagen auf der Straße organisiert, besonders in Neapel, Rom, Florenz, Padua, Mailand, Bergamo und Mantua. Dabei waren oft Arbeiter*innen, die schon an ihren Arbeitsplätzen kämpfen. Wir haben versucht, die Ablehnung der Reform mit einer Klassenanalyse zu motivieren und verbreiteten unser Schlagwort: „die Arbeiter und die Arbeiterinnen sagen NEIN“. Jetzt gibt es die offizielle Bestätigung: unsere Klasse ist der Politiker*innen und der Anmaßung der Bourgeoisie und der Arbeitgeber*innen müde.

Was tun?

Das Problem besteht jetzt darin, dass es keine linksorientierte Organisation, Gruppe oder Partei gibt, die die Schlagkraft dieser Wahl mit der Perspektive eines Aufschwungs der Kämpfe der Ausgebeuteten organisieren könnte. Die große Demo am Sonntag, den 27. November, in Rom mit fast 50.000 Teilnehmer*innen von vielen verschiedenen linken Organisationen war ein positives Zeichnen. Trotzdem gibt es noch viel zu tun, um eine starke Organisation aufzubauen, die direkt aus der Arbeiter*innenklasse stammt. In Erwartung darauf müssen wir mit dem anfangen, was vorhanden ist. Die Unzufriedenheit der Arbeiter*innen, die durch die Wahl explodiert ist, ist die gleiche, die jeden Tag und seit Jahre an den Arbeitsplätzen existiert und mit den Politiken der „offiziellen“ Gewerkschaften kollidiert.

Vor eine Woche, haben diese Gewerkschaften einen schlechten Vorschlag in Bezug auf die Tarifvertragsverlängerung der Arbeiter*innen der Metall- und Maschinenbauindustrie akzeptiert. Die Führung der FIOM (das heißt der Teil der CGIL, der die Metallarbeiter vereinigt) hat auch Verträge akzeptiert, die sie anlässlich der letzten beiden Verlängerungen noch nicht unterschrieben hatte. Arbeiter*innen vieler Fabriken haben schon diesen Verzicht aufgrund der zugleich materiellen wie symbolischen Wichtigkeit dieses Industriezweigs kritisiert. Eine Wahl wird vom 19. bis 21. Dezember stattfinden, wodurch die Arbeiter*innen den neuen Tarifvertrag ablehnen können. Nach dem „Nein“ gegen die Verfassungsreform braucht es ein „Nein“ gegen diesen Tarifvertrag: der Feind ist derselbe.

Es ist wichtig zu betonen, dass die 5-Sterne-Bewegung und die Lega Nord in diesem Bereich nichts tun können. Ein Sieg würde nur der Arbeiter*innenklasse gehören. Er wäre auch ein deutliches Signal an den Kampf über den Tarifvertrag der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes; zugleich eine starke Warnung gegen Confindustria und gegen alle reaktionären Mächte in Italien. Um den Sieg des Referendums nicht zu verschwenden, müssen wir uns zu jedem Anlass verstärken und sie erschrecken.

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