Warum Israel kein Verbündeter im Kampf gegen queere Unterdrückung ist

30.10.2023, Lesezeit 7 Min.
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Foto: Tabea Krug

Der israelische Staat wird, nicht zuletzt von sich selbst, als vermeindlich progressiver Raum für queere Personen vermarktet. Doch das hat nicht viel mit der Lebensrealität der Menschen vor Ort zu tun.

Der israelische Staat inszeniert sich gerne als besonders freundlich gegenüber queeren Menschen, in Abgrenzung von den Palästinenser:innen und angrenzenden arabischen Staaten. Die israelische Botschaft trat beim Berliner Christopher Street Day auf, (währenddessen zeigte die internationalistische Queer Pride Solidarität mit dem palestinänsischen Befreiungskampf) und die IDF wirbt mit ihrer Akzeptanz von homosexuellen Soldat:innen.

In Deutschland argumentieren bürgerliche Politiker:innen und Medien, dass Solidarität mit Israel auch aufgrund seiner fortschrittlichen Position im Bezug auf die LGBTQIA+-Community geboten sei. So beschwerte sich etwa vor einigen Tagen Die Zeit, dass die Clubszene, welche “sonst spontan die Regenbogen-Pride-Fahnen in den sozialen Netzwerken hisst“, im Zuge der aktuellen Geschehnissen nicht auf die Seite Israels stelle. Neben dem dominierenden Vorwurf des Antisemitismus wird auch der Vorwurf der Queerfeindlichkeit genutzt, um den Palästinensischen Widerstand moralisch zu delegitimieren.

Diese Erzählung mag einigen auf den ersten Blick einleuchten. Die rechtliche Gleichstellung für israelische LGBTQIA+-Personen ist größer als in angrenzenden Staaten wie Ägypten. Diskriminierung aufgrund von sexueller Orientierung wurde 1992 verboten, im Ausland geschlossene Ehen und durchgeführte Adoptionen von homosexuellen Paaren werden staatlich anerkannt. Die Tel-Aviv Pride war mit etwa 250.000 Teilnehmer:innen in 2019 die größte in Asien und die Stadt selbst vermarktet sich als beliebtes Reiseziel für LGBTQIA+-Tourist:innen.

Bei einer objektiven Betrachtung wird aber schnell klar, dass der israelische Staat queere Menschen für Siedlerkolonialismus, Apartheid, und ethnischen Säuberungen instrumentalisiert. Dieses Jahr erpresste die israelische Armee Zuhair Ghalith, einen schwulen Palestinänser, mit einem Video, das ihn beim Sex zeigt und zwang ihn, für sie zu spionieren. Die Folge war Ghaliths Hinrichtung.

Dieses Beispiel zeigt deutlich, dass der israelische Staat die Gefährdung von queeren Leben willentlich in Kauf nimmt, wenn es der Verteidigung seines kolonialen Projekts dient.

Auch für queere Israelis ist die Lage weniger rosig, als oft behauptet wird. Homosexuelle werden unter dem Vorbehalt akzeptiert, dass sie sich den vom Staat vorgegebenen Idealen, etwa dem Monogamie, dem Großziehen von Kindern und dem Militärdienst, unterordnen und somit die herrschende Ordnung nicht bedrohen. Transitionen sind zwar rechtlich möglich, die medizinischen Hürden für israelische trans Personen sind jedoch extrem hoch, zudem ist ein Drittel der trans Personen in Israel arbeitslos. Mehrere Mitglieder der ultrarechten Regierung sind in der Vergangenheit durch queerfeindliche Aktionen auffällig geworden. Der Finanzminister Smotrich bezeichnete sich selbst als “stolzen Homophoben” und beteiligte sich gemeinsam mit dem Minister für nationale Sicherheit Gvir an einer Anti-LGBTQIA+ Demonstration, in der Ziegen und Esel durch die Straßen Jerusalems getrieben wurden.

Besonders prekär ist die Situation für palästinensische Israels. Das Apartheid-Regime degradiert sie Bürger:innen zweiter Klasse, die weniger demokratische Rechte haben, durchschnittlich etwa 50 Prozent weniger verdienen und kulturell stigmatisiert werden. Wie sollen sich queere Menschen unter Bedingungen politischer Entrechtung und materieller Entbehrungen emanzipieren können?

Für LGBTQIA+-Personen in Gaza sieht es noch düsterer aus. Queeres Leben ist starken Bedrohungen ausgesetzt, die fundamentalistische Hamas sprach 2007 ein Verbot von gleichgeschlechtlichen Beziehungen zwischen Männern aus und hat Menschen aufgrund ihrer Sexualität gefoltert. Auf der Plattform QUEERING THE MAP sind traurige Berichte von queeren Palästinenser:innen zu lesen, die aus Angst vor Repression keine romantischen Beziehungen eingehen konnten und von nahestehenden Menschen, die durch israelische Bombem getötet worden sind. Ein selbstbestimmtes Leben ist für niemanden unter Belagerung, Entzug von lebensnotwendigen Gütern und konstanter Bombardierung möglich.

Errungenschaften für queere Menschen, auch in den imperialistischen Zentren, müssen selbstverständlich gegen rechte Angriffe verteidigt werden, wir dürfen uns aber nicht mit ihnen zufriedengeben. Ein Kampf für queere Befreiung, der seinen Namen verdient, ist nicht auf die Schaffung und den Erhalt von angeblichen Schutzräumen, in denen LGBTQIA+-Personen vergleichsweise besser gestellt sind, beschränkt. Unser Ziel ist die vollständige Befreiung aller Unterdrückten in allen Teilen der Welt.

Um dieses Ziel zu erreichen, müssen die materiellen Grundlagen der Unterdrückung beseitigt werden, das heißt eine Zerschlagung des imperialistischen Kapitalismus.

Die Lage für queere Menschen in den meisten Halbkolonien und Kolonien ist katastrophal. Staat und Kapital der imperialistischen Zentren tragen dazu bei, dass dies so bleibt. Sie halten die abhängigen Länder in ökonomischer Rückständigkeit, wodurch patriarchale Familienmodelle und reaktionäre religiöse Institutionen gestärkt werden. Die rassistische Abschottungspolitik der EU, mit der Ampelregierung an der Spitze, bedroht das Leben von queeren Geflüchteten. Fortschrittliche Bewegungen, welche das Potential haben, die Situation queerer Menschen zu verbessern, werden niedergeschlagen, wenn diese Bewegungen imperialistische Interessen bedrohen.

So baute beispielsweise die CIA im Rahmen ihrer Bekämpfung des Kommunismus reaktionäre islamistische Milizen wie die Mujahedin in Afghanistan mit auf und unterstützte die extrem queerfeindliche Militärdiktatur in Chile.

Die Gründung des israelischen Staates war ein Produkt des britischen Imperialismus und er fungiert bis heute als ein Stützpunkt des US-amerikanischen und europäischen Imperialismus in der Region. Der israelische Kolonialstaat wird bei der brutalen Unterdrückung der Palestinänser:innen von dessen Akteuren gedeckt. In diesem Kontext muss auch die Unterdrückung von queeren Menschen im Westjordanland und in Gaza gesehen werden. Muslimische Menschen sind nicht von Natur aus queerfeindlich und die Palästinenser:innen sind nicht gleichzusetzen mit der Hamas. So gibt es auch palästinensische Gruppen, wie alQaws, die für queere Befreiung, verbunden mit dem Ende der Besatzung kämpfen.

Für den Aufstieg der queerfeindlichen Hamas ist die israelische Politik verantwortlich. Warum sollte sie auch an Fortschritten für queere Menschen in den besetzten Gebieten interessiert sein, wenn sie deren Unterdrückung dort für ihre Unterdrückung der Palestinänser:innen ausnutzen kann? Die Hamas kann nur im Rahmen eines Kampfes gegen den Kolonialstaat Israel und für ein sozialistisches, laizistisches und multi-ethnisches Palästina besiegt werden. Die queere Bewegung muss also dem Pinkwashing des israelischen Staates entschieden entgegentreten und den Befreiungskampf der Palästinenser:innen unterstützen, denn queere Befreiung ist mit kolonialer Unterdrückung nicht vereinbar. Im Kampf gegen Unterdrückung können wir uns nicht auf die Seite von Unterdrückern stellen.

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