Stell Dir vor, es ist Streik…

16.09.2013, Lesezeit 5 Min.
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// Solidarität und eine klassenkämpferische Perspektive für die Streiks im Einzelhandel //

Stell Dir vor, es ist Streik… und niemand geht hin. Was dann passiert, ist seit einem halben Jahr im deutschen Einzelhandel zu beobachten. Obwohl die KapitalistInnen des deutschen Einzelhandels im Frühjahr bundesweit Tarifverträge verbrannten, sieht sich ver.di nicht zu entsprechenden Kampfmaßnahmen angespornt.

Aber ganz von vorn: Der Einzelhandel ist alles das, wo die Ware beim Endverbraucher landet – Kaisers, Ikea und Thalia zum Beispiel. Dort schaffen insgesamt drei Millionen ArbeiterInnen den Reichtum des viel gepriesenen deutschen Mittelstands und einiger größerer KapitalistInnen wie den Aldi-Brüdern. Das ist beinahe jeder zehnte Arbeitsplatz in der BRD. Und ein solcher Arbeitsplatz hat es in sich: Weniger als die Hälfte der EinzelhändlerInnen ist vollzeitbeschäftigt. Der durchschnittliche Lohn liegt unter dem allgemeinen Durchschnitt. Wie so oft bei prekären Arbeitsverhältnissen sind drei Viertel aller EinzelhändlerInnen Frauen.

Fürs Kapital aber nicht prekär genug: Das organisiert sich im Handelsverband Deutschland (HDE) und hat als solcher im Frühjahr – historisch erstmalig – bundesweit alle Tarifverträge einseitig aufgekündigt. Tarifverträge als solche will sich der HDE zwar als profitträchtige Konkurrenzbedingung erhalten, neu ausgestaltet sollen sie aber werden. Die Lohnzahlungen sollen ausdifferenziert und die Arbeitszeiten flexibilisert werden. Die Warenverräumung und Auffüllung soll zu einer ganz neuen Niedriglohngruppe werden, die dann auch diverse Zuschläge verlieren würde.[1]

Angesichts dieser Offensive müssen sich die ArbeiterInnen des Einzelhandels ranhalten. Für die gilt es laut der Gewerkschaft ver.di nicht nur, die Forderungen der „ArbeitgeberInnen“ abzuwehren, sondern auch eigene aufzustellen.

Jedoch: Obwohl der Angriff der UnternehmerInnen bundesweit stattfand, gibt es von einer bundesweiten Gegenoffensive der Gewerkschaft kaum eine Spur. Lediglich am Anfang wurde noch massig mit Flugblättern informiert. Gemeinsam gestreikt wurde jedoch nur auf regionaler Ebene. Selbst das ging zurück: Jede Belegschaft organisiert sich inzwischen ganz nach Unternehmens-Zugehörigkeit selbst. Sogar bei hin und wieder auftretenden gemeinsamen Streiks bleiben die KollegInnen in kleinen Grüppchen unter sich. Weiterhin sind die Forderungen von ver.di bundesweit nicht einheitlich. Die obendrein geringe Streikbeteiligung schafft dann eine Situation, unter der sich die „arbeitgebenden“ ProfiteurInnen recht wohl fühlen: Ihr Auftreten an Verhandlungstagen könnte nicht selbstsicherer sein. Inzwischen gehen sie weiter in die Offensive und geben manchen Belegschaften 2,5% mehr Lohn, um die dadurch vermeintlich Begünstigten von weiteren Forderungen abzuhalten.

Diese Schwäche zeigt ver.di seit einem halben Jahr. Dabei wäre viel zu tun: Offensichtlich müsste bundesweit gemeinsam gehandelt werden. Außerdem: Wie kann es sein, dass ver.di auch bei Amazon streikt, aber keine Brücke zum Einzelhandel schlägt? Dabei ist es doch gerade die Billiglohn-Konkurrenz des Onlinehandels, die dem HDE noch Rückenwind zur Lohndrückung gibt.

In Berlin kam es inzwischen an zwei Streiktagen des Einzelhandels dazu, dass andere ArbeiterInnen gleichzeitig streikten (einmal die LehrerInnen und einmal die Post). Die KollegInnen erfuhren aber erst abends in den bürgerlichen Medien von der verpassten Chance zur Zusammenarbeit. Pannen, wie dass die KapitalistInnen noch vor den ArbeiterInnen wissen, wann gestreikt wird, geben dem Ganzen dann den Rest.

Der Einzelhandels-Streik ist exemplarisch für die Situation der Gewerkschaften in imperialistischen Ländern wie Deutschland: ideologisch verbürgerlicht, bürokratisch von der Belegschaft entfremdet, sozialpartnerschaftlich handelnd und mit führenden FunktionärInnen in Vorstandspositionen. Es braucht eine antibürokratische, klassenkämpferische Strömung in den Gewerkschaften, um diese von innen heraus räte-demokratisch zu reformieren. Beim Streik heißt das konkret: demokratische Streikversammlungen organisieren, damit die KollegInnen den Streik selbst in die Hand nehmen können.

Des Weiteren ist ein praktisches Fundament der Gemeinschaftlichkeit nötig: Wer nach der Arbeit vereinzelt ist, sowohl in der häuslich-familiären Arbeit als auch in der Freizeit, kann und will sich auch nicht kämpferisch engagieren. Den Streik vermeiden vor allem diejenigen, die mit der legalen wie persönlichen Repression der Chefetage allein gelassen werden. Dagegen braucht es solidarische, gemeinschaftliche und selbstverwaltete Strukturen der Lohnabhängigen innerhalb und außerhalb der Betriebe.

Charakteristisch für den Einzelhandel ist die Mentalität der ArbeiterInnen als KonsumentInnen: In dieser Branche bietet es sich an, die Läden für die Dauer des Streiktags zu boykottieren. Hierfür braucht es aber in der ganzen Gesellschaft mehr Solidarität. Diese herzustellen, ist auch die Aufgabe von linken Gruppen, die damit auch die Gewerkschaftsbürokratie unter Druck setzen müssen. Besonders Arbeitskämpfe dieser Größe brauchen eine Solidaritätsbewegung auf der Straße, in den Betrieben, Unis und Schulen.

Streikende müssen sich oft anhören, dass es ohne den durch ihre Aktion gefährdeten Umsatz auch keine Löhne gibt. Stimmt, aber: Umsatz selbst gibt es auch nur wegen kleiner und immer kleinererLöhne. Dagegen braucht es eine revolutionäre, kommunistische Perspektive und dazu eine Gewerkschaftspolitik, die über das Ziel der möglichst erträglichen Funktionalisierung ihrer Mitglieder für Staat und Kapital hinausgeht. Streiks, bei denen das Bewusstsein der KollegInnen durch Streikdemokratie in Versammlungen und abwählbaren Streikleitungen und durch Erfahrungen der Klassensolidarität vorangetrieben werden kann, können ein Ausgangspunkt für eine solche klassenkämpferische Basisbewegung sein.

Fußnoten

[1]. Nicht falsch verstehen: Zuschläge sind eine existenzielle Notwendigkeit für die meisten „Arbeitnehmer“. Entsprechend „freiwillig“ leisten diese dann auch Sonn- und Feiertagsdienst.

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