Sozialer Aufstand in England

10.08.2011, Lesezeit 8 Min.
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Am Samstag, den 6. August, spielten Tausende Jugendliche aus einem der ärmsten Viertel Englands die Hauptrolle in einem Aufruhr, nachdem der junge Mann Mark Duggan am Donnerstag, den 4. August, im Bezirk Tottenham im Norden Londons durch die Polizei ermordet wurde. Sie kamen überwiegend aus diskriminierten ethnischen Minderheiten. Dies war der größte Ausdruck von Wut und Zorn in England seit Mitte der 80er Jahre. Die Geschehnisse spielten sich während eines Protests der Angehörigen und FreundInnen Duggans ab, welcher – in einem von Armut, Rassismus und Polizeigewalt geplagten Viertel, welches viele Tote durch schusswütige PolizistInnen zu beklagen hat – große Zustimmung fand und durch Sektoren der armen Jugend Londons benutzt wurde, um ihrer Wut gegen Polizeigewalt und soziale Ausgrenzung Ausdruck zu verleihen. Während der Demonstration umzingelte eine Gruppe von PolizistInnen ein 15-jähriges Mädchen, eine Freundin des Opfers, und als diese sich weigerten, sie in Ruhe zu lassen, brach der Zorn aus. Vor dem Hintergrund der polizeilichen Provokation entstand eine angespannte Situation, die als Zündschnur der jugendlichen „Explosion“ diente. Die Ausschreitungen gingen weiter und erreichten ihren Höhepunkt am Montag, als die Unruhen sich auf 13 Viertel der Stadt ausbreiteten, und bis zum Morgengrauen Brände, Plünderungen und Angriffe auf die Polizei stattfanden. Am Dienstag breiteten sich die Unruhen auf Manchester, Birmingam und Salford im Inneren des Landes aus, und bei denen kamen drei Menschen ums Leben.

Der Brennstoff der Rebellion

Der gemeinsame Nenner all dieser Proteste ist die Armut, die Arbeitslosigkeit, der fehlende Zugang zu Bildung, der Rassismus und die Schickane durch die Polizei. Seit 1990 sind mehr als 1.000 Tote im Polizeigewahrsam zu verzeichnen sind, und dafür wurde nicht ein einziger Polizist angeklagt. Die Arbeitslosigkeit bei den unter 25-Jährigen liegt bei 20,5%, also bei einer Million arbeitslose Jugendliche – die höchste Ziffer seit dem Beginn der Aufzeichnungen 1992. Die Anzahl von Jugendlichen, die man NEETs nennt (”Not in Education, Employment, or Training”) und denen es praktisch unmöglich ist, sich in den Arbeitsmarkt zu integrieren, ist in Städten wie Leeds im Norden des Landes sogar noch höher, weshalb es auch dort zu Protesten kam. 30 Jahre neoliberale Politik führten zu einer Situation struktureller Armut, mit der niedrigsten sozialen Mobilität aller „entwickelten“ Länder, und die sich durch die Kürzungen des letzten Jahres noch verschlechtert hat, wobei die Schere zwischen arm und reich nie gesehene Ausmaße erreicht hat: die reichsten 10% leben 100 Mal besser als die ärmsten 10%. Ohne diesen Hintergrund ist die Dynamik dieses Aufruhrs nicht zu verstehen, der weiter ging als die Ablehnung der Polizeigewalt und sich in einer allgemeineren Wut ausdrückte, welche in einer Gesellschaft, in der Millionen in Armut ertrinken, während MillionärInnen und UnternehmerInnen sich bereichern und Banken durch die Regierung gerettet werden, zu nie gesehener Gewalt führte.

Die Antwort der Parteien des Regimes

Gerade aus seinem Urlaub zurückgekehrt, machte der Premierminister den Einsatz von 16.000 PolizistInnen in London bekannt und gab die Erlaubnis für den Einsatz von Gummigeschossen und Wasserwerfern, die nie zuvor zur Eindämmung von städtischen Unruhen in England verwendet wurden. Außerdem rief die Regierung die Bevölkerung dazu auf, die TeilnehmerInnen der Unruhen anzuzeigen und Videoaufzeichnungen an die Polzei zu schicken, um die „Plünderer“ zu identifizieren. Der Aufruf Camerons an die Eltern, sich zu informieren, „was ihre Kinder tun, wenn sie nicht zu Hause sind“, schafft eine Atmosphäre wie in einem Polizeistaat und wurde von mehreren OppositionspolitikerInnen wiederholt. Angesichts des Aufstands der Ausgeschlossenen ist die Antwort der Regierung und der bürgerliche Parteien die harte Hand. Sie rufen dazu auf, die gesamte Macht des Gesetzes anzuwenden, um die Ordnung wiederherzustellen. Sogar die oppositionelle Labour-Abgeordnete aus Hackney, einem der ärmsten und vernachlässigsten Viertel Londons, welches ebenfalls von den Unruhen betroffen ist, sagte öffentlich, dass sie „nicht zu denjenigen gehört, die glauben, dass Kürzungen zu Unruhen und Auseinandersetzungen führen“, und rechtfertigte so die Repression. Einstimmig bezeichneten die bürgerlichen PolitikerInnen die TeilnehmerInnen der Unruhen als Kriminelle und Vandalen, und zögerten nicht, repressive Maßnahmen anzuwenden, die in diesem Land beispiellos sind. Aber niemand von ihnen kündigte irgendeine Maßnahme zur Schaffung von Arbeitsplätzen oder Bildungsplänen an. Es gab nicht eine einzige Bezugnahme auf die Politik der Kürzungen und der Arbeitslosigkeit, welche die tatsächlichen Verbrechen dieser kapitalistischen Gesellschaft sind, die Tausende Jugendliche dazu verdammen, in Armut und ohne Zugang zu den Bildungs und Gesundheitssystemen zu leben. Sowohl Cameron als auch der Rest der PolitikerInnen und Medien, die gegen die Jugendlichen eine harte Linie fordern, sind dieselben, die in den Abhörskandal des Medienimperiums von Rupert Murdoch verwickelt sind. Ihr Ziel ist es, vor der Verschärfung der Kämpfe und vor den zukünftigen sozialen Unruhen, die sich zweifelsohne durch die Kürzungspläne entwickeln werden, eine Atmosphäre größerer Kontrolle zu schaffen.

Diese erste Antwort auf die Attacken markiert den Weg

In den 14 Monaten der konservativ-liberalen Regierungskoalition gingen die Studierenden gegen die Erhöhung der Studiengebühren massiv auf die Straße; gemeinsam mit ihnen protestierten die SchülerInnen der ärmeren Viertel gegen die Kürzungen der Bildungszuschüsse für Jugendliche mit geringen Mitteln. Auf die Rebellion der Studierenden folgte die Demonstration, zu der der Gewerkschaftsdachverband TUC aufgerufen hatte, mit einer halben Million Menschen auf der Straße gegen die Kürzungen im Sozial-, Gesundheits-, und Bildungsbereich. Am 30. Juni führten die ArbeiterInnen der öffentlichen Verwaltung und der Grund- und Berufsschulen den wichtigsten Streik der letzten 30 Jahre durch. Diese Mobilisierungen, gemeinsam mit den ersten Antworten, die in ganz Europa gegen die Sparpläne sichtbar werden, wie im Spanischen Staat und in Griechenland, sind diejenigen, welche den Weg zeigen, um die Pläne der kapitalistischen Regierungen zu Fall zu bringen. Diese kapitalistische Gesellschaft hat den Jugendlichen nichts anzubieten, die – arbeitslos und ausgeschlossen aus den Bildungseinrichtungen – sich nicht politisch vertreten fühlen. Sie können sich nicht in den Gewerkschaften und Studierendenvertretungen organisieren, um ihre Wut mit ihren eigenen Methoden auszudrücken, was sie mit dem Rest der ArbeiterInnen verbinden könnte. Angesichts der Kriminalisierung der Proteste und der Eskalierung von Verhaftungen und Razzien ist es notwendig, die Freiheit der Hunderte Gefangenen der letzten Tage zu fordern, von denen 167 schon angeklagt wurden, und die Forderung „Raus mit der Polizei aus unseren Vierteln“ zu erheben. Weiterhin ist es notwendig, für die Verurteilung und Bestrafung der Verantwortlichen des Mordes an Mark Duggan zu kämpfen. Diese unmittelbaren Forderungen müssen Teil einer Serie von Übergangsforderungen wie der Schaffung von Arbeitsplätzen und Bildungs- und Ausbildungszuschüssen für arbeitslose Jugendliche sein, als Teil einer strategischen Perspektive der ArbeiterInnenklasse, die die Forderungen der am meisten unterdrückten Sektoren der Gesellschaft als eigene aufnehmen und mit präzisen Zielen den Hass kanalisieren muss, den diese Jugend explosiv ausdrückte. Der soziale Aufstand in England zeigt, dass die Dynamik der Wirtschaftskrise zu explosiveren Phänomenen führt und dass das kapitalistische System Massen von städtischen Armen produziert, wovon insbesondere die Jugend betroffen ist, die sich ohne Zukunft, ohne Zugang zu Arbeit oder Bildung sieht: Phänomene, die sich schon in den Aufständen in den französischen banlieues 2006, in den Generalstreiks mit hoher Jugendbeteiligung in Griechenland und in der Bewegung der indignados im Spanischen Staat vor dem Hintergrund des arabischen Frühlings zeigten. Um zu verhindern, dass der Aufstand der Jugendlichen ohne Zukunft dazu benutzt wird, um sie den ArbeiterInnen gegenüberzustellen, muss die ArbeiterInnenklasse, organisiert mittels ihrer eigenen Kampfmethoden, einen Ausweg im Sinne der Bedürfnisse der städtischen Massen aufzeigen und ein alternatives Programm der Klassenunabhängigkeit erheben, welches die Interessen aller unterdrückten Sektoren der Gesellschaft vertritt.

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