Serbien: „Die Proteste waren ein Indikator für die aufgestaute Wut und ein mächtiges Werkzeug, um die herrschenden Eliten nervös zu machen“

02.08.2020, Lesezeit 15 Min.
Gastbeitrag

Serbien war im Juli mehrere Tage lang Schauplatz landesweiter Proteste gegen die Regierung von Präsident Aleksandar Vucic. Unser Gastautor Florian Geisler führte ein Interview mit serbischen Linken über die Proteste.

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Lieber D., im Juli haben wir massenhafte und gewalttätige Proteste auf den Straßen vieler Städte in Serbien gesehen, vor allem auf Social Media. Zu allererst: Kannst du uns erklären, welche Seiten es in diesem Konflikt gibt, und worum es geht?

Der unmittelbare Anlass für die Proteste war eine Ankündigung des serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić über die neue Ausgangssperre. Sie hatten Anfang Juli eine komplette Ausgangssperre über das Wochenende von Freitagnachmittag bis Montagmorgen angekündigt. Einige Tage zuvor hatten die Student*innen große spontane Proteste organisiert, nachdem angekündigt worden war, dass die Student*innen gezwungen würden, die Wohnheime zu verlassen und in ihre Häuser zurückzukehren. Das kam mitten in der Prüfungsphase.

Diese zwei Ereignisse waren der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Die Menschen gingen hinaus und brachten ihre Wut und ihre Unzufriedenheit mit der Politik in Serbien und vor allem mit Aleksandar Vučić zum Ausdruck. Es gibt eine Reihe anderer öffentlich bekannter Affären, in die verschiedene Mitglieder der Regierungspartei um Vučić verwickelt sind und die dem Leben der einfachen Menschen in Serbien und der Demokratie im Allgemeinen schaden. Sehr unterschiedliche und heterogene Gruppen von Menschen haben sich spontan gegen das Regime erhoben, das die Demokratie und den Parlamentarismus lächerlich gemacht hat.

Die Themen, die die Bürger*innen wütend gemacht haben, waren skrupellose Investoren, ein ruiniertes Bildungssystem, zusammengebrochene Gesundheitseinrichtungen, gefälschte Corona-Todeszahlen, eine allgemeine Autokratie usw. Aber auch rechte Gruppen haben bei den Protesten eine zentrale Rolle gespielt: Sie sehen Vučić als Verräter an, weil er die Unabhängigkeit des Kosovo akzeptiert, was sie nicht wollen.

Der Protest begann sehr gewalttätig und obwohl er gefährlich war, war er auch ein Indikator für die aufgestaute Wut und ein mächtiges Werkzeug, um die herrschenden Eliten nervös zu machen. Wir haben Jahre und Jahre des friedlichen Protests gegen Vučić erlebt – mit wenig bis gar keinem Erfolg.

In Serbien gab es bereits ein oder zwei Jahre lang regelmäßige Proteste gegen die Regierung, einige davon im Zusammenhang mit dem Hashtag #1of5million. Sind die aktuellen Proteste ein Teil davon oder etwas ganz anderes?

Diese Frage ist sehr schwer zu beantworten, und es gibt einige Theorien dazu. Es gibt definitiv eine Menge Leute, die an beiden Protesten beteiligt waren, und es gibt einige Ähnlichkeiten zwischen diesen beiden Protesten, aber es gibt auch einige wichtige Unterschiede. Sie ähneln sich insofern, als dass sie beide gegen Vučić und die Regierung gerichtet sind, basierend auf verschiedenen Affären der Regierungspartei. Die meisten der 1of5million-Proteste waren friedlich und sie hatten einige Anführer*innen, die als Anführer*innen der Opposition dargestellt wurden. Interessanterweise war es eine Mischung aus Menschen von rechts über liberal bis links (allerdings mehr in der Mitte als links).

Die Proteste, die jetzt stattfinden, waren von Beginn an gewalttätig, bis hin zum Sturm des Parlaments. In einigen Nächten gab es eine sehr starke Präsenz von Polizeikräften, darunter auch Eliteeinheiten, z.B. die SAJ, eine Sondereinheit zur Terrorbekämpfung. Das hat man auf den Straßen seit 20 Jahren nicht mehr gesehen. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass es bei den gegenwärtigen Protesten keine klaren Anführer*innen gab. Einige Oppositionsführer*innen haben versucht, den Protest zu vereinnahmen, wurden jedoch hinausgeworfen. Es gibt zwei Theorien, warum das passiert ist. Eine lautet, dass die Menschen der Opposition nicht trauen, weil sie meist Politiker*innen sind, die vor Vučić an der Regierung waren. Eine zweite Theorie ist, dass die Oppositionsführer*innen deshalb den Protest nicht unter ihre Kontrolle bringen konnten, weil sie von Angehörigen des Geheimdienstes hinausgeworfen wurden, die von der Regierungspartei bezahlten worden waren, weil die nicht zulassen wollte, dass irgendjemand die Macht der Proteste für sich übernimmt. Die Wahrheit in beiden Theorien liegt darin, dass es wirklich ein großes Misstrauen gegenüber allen politischen Akteur*innen in Serbien gibt.

Die Covid-Pandemie war ein Katalysator für soziale Unruhen. Wie sahen die Maßnahmen der Regierung während der Pandemie aus? Welche Formen von Social Distancing hast du in Serbien erlebt?

Es ist äußerst wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Leute nicht gegen Sicherheitsmaßnahmen und öffentliche Gesundheit im Allgemeinen sind. Sie sind gegen die Diktatur. Sie protestieren gegen die falsche und intransparente Information der Öffentlichkeit. Jeder ist sich bewusst, dass die Sicherheitsmaßnahmen nur für die Wahl aufgehoben wurden, um gute Ergebnisse zu erzielen. Es wird allgemein angenommen, dass die Berichte über die Fälle gefälscht worden sind.

Was die Maßnahmen anbelangt, so hatten wir anfangs Ausgangssperren und Lockdowns für zwei bis drei Monate. Niemand durfte am Wochenende und nach 18 Uhr an Wochentagen das Haus verlassen. Auch Clubs, Restaurants, Fitnessstudios usw. waren geschlossen. Während dieser Zeit litten die Menschen, waren aber sehr vorsichtig und übten Solidarität, um eine größere Ausbreitung der Pandemien zu verhindern. Im Mai wurden plötzlich alle Sicherheitsmaßnahmen aufgehoben und der Sieg über Covid verkündet – allein wegen der geplanten Wahlen. Das war der Zeitpunkt, an dem die meisten Menschen infiziert wurden und an dem die Probleme der öffentlichen Gesundheit wirklich anfingen.

Und jetzt sind die Menschen wütend, denn sie sind sich bewusst, dass der Präsident und die Regierung gelogen haben, über die Zahlen und wie die Pandemie sich entwickelt. Während die Krankenhäuser über ihre Belastungsgrenzen hinaus gehen, tun die Politiker*innen immer noch so, als hätten sie die Situation im Griff.

Wie ist die aktuelle wirtschaftliche Lage in Serbien? Ist die Wirtschaft in diesen Zeiten des Virus stabil oder eher gefährdet?

Die wirtschaftliche Lage ist sicher nicht die beste. Viele Menschen wurden zu Beginn der Pandemie entlassen. Die Regierung führte Sozialprogramme ein, um den Menschen zu „helfen“, wie zum Beispiel eine einmalige Zahlung von einhundert Euro an alle über 18 Jahren. Das war ungefähr einen Monat vor den Parlamentswahlen, sodass dies auch als ein Versuch gesehen werden kann, Stimmen zu kaufen. Abgesehen davon hat die Regierung kleinen Unternehmen mit Steuersenkungen geholfen. Nach den Wahlen sieht die Geschichte ganz anders aus, und von finanzieller Hilfe ist keine Rede. Finanziell sind wir in hohem Maße von der EU abhängig.

Wir wissen schon, dass die Pandemie nicht alle auf die gleiche Art beeinträchtigt: Krankenpfleger*innen, Sorgearbeiter*innen, Haushaltsarbeiter*innen, die an vorderster Front gegen die Virus kämpfen, sind oft Frauen, und besonders der Sorgesektor zieht sehr viel Arbeitskraft aus der Migration. Sind ihre Stimmen in den Protesten präsent?

Es gab eine Reihe von Situationen, in denen medizinisches Personal seine Unterstützung für die Proteste oder seine Ablehnung der Regierung im Allgemeinen zum Ausdruck brachte. Als der Premierminister eine Stadt in Südserbien besuchte, brachten einige medizinische Beschäftigte ihren Protest zum Ausdruck, indem sie bei deren Ankunft dem Premierminister und dem Gesundheitsminister den Rücken zukehrten. Einige Ärzt*innen und medizinische Beschäftigte haben öffentlich über die Krise im medizinischen Sektor und den Mangel an Ressourcen gesprochen. In einigen Fällen hat die Öffentlichkeit auch davon erfahren, dass einige Beschäftigte im Gesundheitswesen ihre Arbeitsplätze verloren haben oder zum Schweigen gebracht worden sind, weil sie um Hilfe gerufen hatten und auf die Situation im öffentlichen Gesundheitssektor gesprochen haben. Gesundheitsarbeiter*innen waren in den Protesten sichtbar.

Was kannst du uns noch über die soziale Zusammensetzung der Proteste sagen? In den sozialen Medien sehen wir vor allem wütende weiße Männer, die Steine und Flaschen auf die Polizeikräfte schleudern. Ist das ein realistisches Bild der Situation auf den Straßen?

Das ist eine sehr interessante Frage und es gibt einige Theorien. Ich würde sagen, dass die meisten Menschen bei den Protesten ganz normale Menschen mit ganz unterschiedlichem Hintergrund sind, die über die Situation im Land verärgert sind. Eine Theorie ist, dass viele der gewalttätigen Menschen in den ersten Reihen einfach nur Geheimdienstleute sind, die versuchen, Gewalt zu provozieren, damit die Polizei dann gnadenlos handeln kann. Ich bin sicher, dass dies teilweise der Fall ist. Undercover-Polizisten bei den Protesten sind eigentlich sehr leicht zu erkennen. Eine andere Theorie besagt, dass dies tatsächlich ein echter Ausdruck der tatsächlichen Wut ist, die viele Menschen empfinden. Die Medien stellen es jedoch gerne so dar, als würden alle Gewalttätigen tatsächlich von der Regierungspartei bezahlt, um die Proteste zu sabotieren, was ebenfalls nicht stimmt.

President Vučić hat die Demonstrant*innen als „Faschisten“ bezeichnet. Im Kontrast dazu haben Demonstrant*innen ihm und seinen Polizeiapparat vorgeworfen, inoffiziel tatsächliche Rechtsextreme zu nutzen, um die Proteste zu infiltrieren und zu sabotieren. Hast du etwas in die Richtung gesehen? Wer bekämpft hier wen?

Die Vorstellungen von rechts und links sind in Serbien völlig verschwommen und auf den Kopf gedreht, so auch mit dem Begriff „Faschist“. In der Öffentlichkeit verurteilt die Regierung sofort den Faschismus, wenn sie angegriffen wird, was ihr ein manipulatives semantisches Feld eröffnet, um das herrschende System als progressiv und rechtschaffend zu stärken.

In letzter Zeit hat es in vielen Ländern weltweit große Debatten über Polizeigewalt gegeben, vor allem in den USA, wo es ein intensives Problem mit institutionellem Rassismus gibt, aber auch in Deutschland, wo die Situation sehr ähnlich ist. In Serbien hat es nun einige sehr eindeutige, intensive Polizeigewalt gegeben: Bewusstlose Menschen wurden verprügelt, auch Menschen, die einfach nur auf Bänken gesessen haben, Menschen, die fast überfahren wurden. Was ist die Rolle der Polizei in Serbien im Allgemeinen und jetzt in dieser besonderen Situation?

Dies ist der erste Protest, an dem ich in meinem Leben teilgenommen habe, der so gewalttätig war. Einige Leute sagen, dass es diese Art von gewalttätigen Protesten seit der Ära Milosevic und den 90er Jahren nicht mehr gegeben hat. Ich würde auf jeden Fall sagen, dass die Brutalität der Polizei, auch wenn sie tagtäglich präsent war, in der Vergangenheit nicht so enorm war wie bei den jüngsten Protesten. Es wurde viel Tränengas abgefeuert, es gab Spezialeinheiten der Polizei, Pferdetrupps, die Menschen verfolgten und alle im Polizeiradius angriffen. Viele unschuldige Personen wurden festgenommen und zu 30 Tagen Gefängnis verurteilt, ohne Anhörung, ohne Anwalt und ohne Zeug*innen. All dies sind klare Anzeichen für ein sehr brutales Polizei- und Staatssystem, das wie eine Diktatur aussieht.

Zurück zu den Wahlen auf dem Höhepunkt der Pandemie, die die Menschen so sehr erzürnt hat: Wie schätzt du die Lage des serbischen Staates und der Demokratie im Allgemeinen ein? Funktioniert sie normalerweise? Oder ist die momentane Gewalt ein Symptom einer größeren strukturellen Krise?

Ich glaube, die Demokratie ist in einem wirklich schlechten Zustand. Vučić ist sehr stark geworden und hat alle Teile der Staatsmacht in seiner Hand: Er ist Präsident, seine Partei hat die Mehrheit im Parlament, er hat eine Marionette als Premierminister und sehr starken Einfluss auf das Justizsystem. Ich würde sagen, dass es ihm gelungen ist, dem Klub der europäischen Oligarchen wie Orban in Ungarn, Milo Djukanovic in Montenegro und Erdogan in der Türkei beizutreten. Das scheint die Europäische Union überhaupt nicht zu interessieren, weil es mit ihren kapitalistischen Zielen übereinstimmt. In diesem Sinne ist sogar die Demokratie, wie wir sie kennen, eine kapitalistische Erfindung. Aus linker Sicht sehe ich es als eine falsche Dichotomie, die die Menschen in Serbien 30 Jahre lang damit beschäftigt hat, der „Demokratie“ hinterherzulaufen. Nach dem Sturz von Milosevic stellte sich heraus, dass dies nur eine weitere Möglichkeit war, öffentliche Ressourcen zu ruinieren, Menschen auszubeuten und die Kluft zwischen Arbeiter*innen und Kapitalist*innen zu vergrößern.

Menschen im Westen vergessen gewöhnlich, dass der Konflikt zwischen Serbien und dem Kosovo noch lange nicht gelöst ist. Welche Rolle spielt der Nationalismus in der gegenwärtigen Situation? Wird Vučić mit seinem pro-europäischen, aber rechtskonservativen Zentrismus Erfolg haben?

Vučić spielt schon sehr lange die Kosovo-Karte. Ich glaube, dass er dazu nicht mehr lange in der Lage sein wird. Ich fange an, Gruppen aus der EU zu hören, die aufgrund der Situation in Serbien den Abbruch des EU-Beitrittsprozesses fordern. Gleichzeitig kann es keinen Zweifel daran geben, dass einer der lautstärksten Teile der aktuellen Proteste in der Tat rechte Gruppen waren, die „Kosovo ist das Herz Serbiens“ skandierten.

Gab es Gewerkschaften oder politische Parteien, die eine vernünftige Opposition gegen das Vorgehen von Vučić gebildet haben? Es gibt viele verschiedene sozialistische und grüne Parteien in Serbien, aber die Vučićs Konservative haben 5 Mal so viele Sitze im Parlament wie selbst die stärkste von ihnen, die „Demokratischen Sozialisten“. Was sind deine parteipolitischen Erwartungen für die Zukunft?

Ich denke, dass es keine linke politische Partei gibt, die heute auf nationaler Ebene irgendeine Rolle spielen kann. Es gibt einige Organisationen in bestimmten Städten, und ein Erfolg wäre, wenn sie Mitglieder der jeweiligen Stadtparlamente würden, aber auf nationaler Ebene glaube ich, dass es noch ein langer Weg ist. Ich bin in dieser Hinsicht nicht sehr optimistisch. Das „Beste“, was ich erwarte, ist die Bildung einer klassischen liberalen Pro-EU-Option, die zu einer Opposition werden könnte.

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