Schon im ersten Lehrjahr als vollwertige Arbeitskraft eingesetzt: Ausbildung im Einzelhandel

29.05.2023, Lesezeit 6 Min.
Gastbeitrag

Eine Auszubildende in einem Bekleidungsgeschäft berichtet uns aus ihrem Arbeitsalltag.

1
Foto: SeventyFour / Shutterstock.com

Ich bin im ersten Jahr meiner Ausbildung zur Verkäuferin. Die habe ich im Juli angefangen, bis Mitte August habe ich mein erstes Praktikum gemacht. Vollzeit, ohne Vergütung, außerdem ohne Tarifvertrag. Es wäre besser gewesen, wenn ich mit weniger Stunden angefangen hätte und dann hätte hochgehen können. Von jetzt auf gleich Vollzeit zu arbeiten hat mich körperlich richtig belastet. Laut Vertrag bekomme ich 3€ oder 3,50€ die Stunde, das ist viel zu wenig für die Arbeit, die ich leiste. Mittlerweile bin ich mehr als die Hälfte der Öffnungszeiten (die sind 9:00-18:30 Uhr) komplett alleine im Laden. Der Laden ist zwar nicht allzu groß, aber ich bin ja trotzdem ein Azubi im ersten Lehrjahr. Mein Lehrer in der Berufsschule meinte auch, dass es gar nicht rechtens ist, dass ich so oft alleine bin. Dadurch, dass ich so viel alleine bin, lerne ich auch nicht so viel wie Azubis, die die ganze Zeit gemeinsam mit ihren Ausbildern in der Filiale sind. Meine Ausbilderin ist eigentlich Rentnerin und hat ein Maximum an Stunden im Monat, die sie machen darf. Dementsprechend sehe ich sie gefühlt gar nicht, aber eigentlich müsste ich jemanden als Ansprechperson da haben. Meine Filialleitung kann ich anrufen, aber sie hat sich auch schon darüber beschwert, dass ich sie zu oft anrufen würde und meine Probleme selbständiger lösen solle. Dabei frage ich lieber einmal zu mehr, als einmal zu wenig. Am Ende will ich ja auch keinen Ärger bekommen, weil ich einen großen Fehler gemacht habe.
Ich muss jeden Tag eine Viertelstunde vor Dienstbeginn unbezahlt auf der Arbeit sein, um alles vorzubereiten.
Dazu kommt noch, dass ich zwischendurch für zwei oder drei Monate in einer anderen Filiale aushelfen musste, die mit dem Zug 1,5 Stunden von mir entfernt ist, da dort Personalmangel herrschte. Ich wohne in einer Kleinstadt und habe da oft weite Wege. Wenigstens wurde mir die Fahrtzeit als Arbeitszeit berechnet. Aber eigentlich hätten sie sich stärker darum kümmern müssen, rechtzeitiger jemand neuen einzustellen, anstatt mich so lange aushelfen zu lassen. Es gab auch Tage, an denen ich während der Öffnungszeit komplett anwesend sein musste. Ich musste meine gesamte Pause (60 min) am Stück nehmen, und musste abends den Laden abschließen und ca. zehn Kleiderständer, die vor dem Laden standen, alleine reinräumen. Zu dem Zeitpunkt war ich erst seit drei Monaten Auszubildende.
Zwei Wochen nach meinem ersten Praktikum bekam ich bereits den Ladenschlüssel, was mir komisch vorkam. Während ich mein Praktikum gemacht habe, wurde ich auch schon alleine im Laden gelassen, das erste Mal zwei Wochen nach Beginn. Das geht meiner Meinung nach gar nicht. Als ich in der Filiale aushelfen musste, war ich meistens erst um 22 Uhr oder 22:30 Uhr zu Hause, je nachdem, ob Bahnen ausgefallen sind oder nicht.
Es war richtig stressig, in dieser Filiale auszuhelfen und es ist nicht ausgeschlossen, dass es nochmal passiert. Es wird versucht, mir die Zeit dort als positiv zu verkaufen, da ich ja eine andere Filiale unserer Kette und ein anderes Sortiment kennengelernt habe.
Falls ich auf der Arbeit merke, dass ich krank werde, muss ich es einfach aushalten, da ich alleine bin. Theoretisch könnte ich jemanden von den Kolleg:innen anrufen, aber das ist auch schwierig, weil jemand anderes dafür einen freien Tag aufgeben müsste. Oder wenn alle von uns krank sind, dann muss man den Laden eigentlich zumachen. Aber das Geschäft muss ja laufen, ne.

Überall wird gespart, die Geschäftsleitung will ja ihr Geld. Ich hätte gerne mehr Gehalt, aber das halte ich für unrealistisch. Besonders am Personal wird enorm gespart. Ich möchte nicht mehr alleine im Laden sein und brauche eine Person vor Ort, die ich um Hilfe bitten kann. Ich muss ja alle Kund:innen einzeln ansprechen und fragen, ob sie Unterstützung brauchen. Wenn es mehr als drei oder vier Leute sind, ist das schwierig.

Letzte Woche hatte ich an zwei Tagen Berufsschule und musste nach dem Unterrichtsschluss arbeiten gehen, um eine Kollegin, die Urlaub hatte, zu vertreten. Das ist nicht erlaubt, eigentlich muss man an einem Berufsschultag in der Woche, der fünf Stunden oder länger geht, von der Arbeit freigestellt werden. In ein paar Wochen werden wir eine neue Teilzeitkraft bekommen. Sie hat keine Ausbildung, was die Einarbeitung schwieriger macht. Wahrscheinlich werde ich diejenige sein, die die Einarbeitung übernehmen muss, obwohl ich erst Azubi bin und nicht für diese Aufgabe geeignet bin.
Ich habe durch die Arbeit oft Schlafmangel, Rückenschmerzen oder Nackenschmerzen, oder Wunden an den Händen.

Ich denke, dass es verbindliche Gehaltserhöhungen im Einzelhandel geben müsste, und dass alle gleich viel bekommen, inklusive einer höheren Azubi-Vergütung. Das geringe Azubi-Gehalt ist aus meiner Sicht ein großer Grund dafür, warum der Beruf so unattraktiv ist. Hoffnungen, dass sich die Regierung dessen annehmen würde, habe ich aber nicht wirklich. Bei der vier Tage Woche denke ich auch, dass sie sinnvoll sein könnte, um unseren Arbeitsalltag leichter zu machen.
Von dem Streik der Beschäftigten bei Galeria Kaufhof gegen die geplanten Filialschließungen und den damit zusammenhängenden Kündigungen, habe ich mitbekommen. Ich finde gut, dass die Kolleg:innen sich gewehrt haben. Es ist nicht in Ordnung, Hunderte von Beschäftigten zu kündigen, nur weil der Konzern Geld verloren hat, und deshalb an Personal sparen muss. Das Mindeste wäre es, die Kolleg:innen an neue Jobs zu vermitteln.

Mehr zum Thema