Putsch in Tunesien: Verratene Ziele der Revolte

30.07.2021, Lesezeit 7 Min.
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Als Antwort auf Massenproteste gegen ökonomische Unsicherheit und die inkompetente Pandemiepolitik der Regierung entließ Tunesiens Präsident Kais Saied am Sonntag seinen Premierminister und beurlaubte das Parlament, um seine Macht zu festigen.

Am 25. Juli, dem Tag der Republik in Tunesien, suspendierte Präsident Kais Saied das Parlament, hob die Immunität aller Parlamentarier auf (gegen viele wird wegen Korruption ermittelt) und entließ seinen Premierminister Hichem Mechichi. Saied hatte Mechichi genau vor einem Jahr, am Nationalfeiertag des Landes, in das Amt des Premierministers berufen.

Am Sonntag aktivierte Saied, umgeben von seinem Rat für nationale Sicherheit, Artikel 80 der tunesischen Verfassung, der ihm im Ausnahmezustand komplette Kontrolle über den Staat gibt. In einer Fernsehansprache gab er bekannt:

Erste Entscheidung: Die Funktionen des Parlaments werden ausgesetzt; die Verfassung erlaubt keine Auflösung, aber sie erlaubt Aussetzung… Zweite Entscheidung: Aufhebung der Immunität aller Abgeordneter. Dritte Entscheidung: Der Präsident der Republik übernimmt mit Unterstützung der Regierung die Macht über die Exekutive. Diese wird geführt von einem neuen Vorsitz, der vom Präsidenten der Republik ernannt wird.

Am Montag erklärte Saied eine einmonatige Ausgangssperre. Es gibt Berichte darüber, dass Saied die Grenzen geschlossen hat und die Grenzpolizei übernahm die Flughäfen.

Vor zwei Monaten deckten geleakte Dokumente Pläne für einen “schwachen Putsch” in Tunesien auf, bei dem Artikel 80 der Verfassung angewendet wird und wichtige Geschäftsleute und führende Mitglieder der seit den Aufständen 2011 etablierten gemäßigt islamischen Regierungspartei Ennahdha unter Hausarrest gesetzt werden. Die zentralen Punkte dieses Plans wurden am Sonntag umgesetzt und es folgten Versuche wichtige Personen zu verhaften. Der Parlamentsabgeordnete Yassine Ayari behauptete, Französische Beamte hätten spätestens seit dem 11. Juli von den Plänen gewusst.

Dieser Griff nach der Macht kommt inmitten von Protesten im ganzen Land, die über die letzten Wochen an Stärke gewinnen. Die Proteste klagen ökonomische Unsicherheit, Polizeigewalt, und die anhaltende Coronakrise an, die durch den schlechten Umgang mit Tests und der Vergabe von Impfungen der Regierung noch verschlimmert wurde. Tunesiens Gesundheitsministerium nannte die Coronakrise im Land, mit beinahe 20.000 Toten bei 12 Millionen Einwohner:innen “katastrophal”. Bisher wurden nur 2,5 Millionen Impfdosen verteilt. Die Arbeitslosenquote im Land stieg auf 18 Prozent, die Staatsschulden sind in den letzten beiden Jahren explodiert und liegen jetzt bei 91 Prozent des BIP. Dies sind die Folgen einer Krise des tunesischen Kapitalismus, deren Konsequenzen die Arbeiter:innenklasse zu spüren bekommt.

Die Proteste der letzten Woche richteten sich gegen Ennahda. In den Wahlen, die den ehemaligen Präsidenten Zine El Abidine Ben Ali entmachteten, hatten die Massen (insbesondere die arbeitslosen Jugendlichen auf den Straßen) ihre sozialen und demokratischen Bestrebungen der unterdrückten Ennahdha überlassen. Nun, fast ein Jahrzehnt später, ist den Massen klar geworden, das die marktliberalen Entscheidungen und die Korruption der Ennahdha die strukturellen Probleme des Landes wie Armut und Arbeitslosigkeit nur verschlimmerten.

Am Sonntag stürmten Demonstrant:innen in Monastir, El Kef, Sousse, und Sfax Büros der Ennahdha, oder versuchten es. Sie waren auf der Suche nach Dokumenten, die die Korruption und Vetternwirtschaft der Regierung aufdecken könnten. In Touzeur setzen Demonstrant:innen den lokalen Hauptsitz der Partei in Brand. Die Polizei setzte Pfefferspray gegen die Demonstrant:innen in Tunis ein, die verlangten, dass der Premierminister Mechichi zurücktreten solle. Hunderte von Tunesier:innen feierten die anschließende Ankündigung des Präsidenten, der aus der öffentlichen Empörung über die weit verbreitete Korruption und Unfähigkeit der Regierung Kapital schlug. Ennahdha ist Teil des moderaten politischen Islam, der mit der traditionalistischen Bourgeoise verbunden ist, eine politische Richtung, die unter dem Ben Ali Regime stark unterdrückt wurde. Viele Parteien dieser Richtung verbinden für ihr Wahlprogramm Ideale der liberalen Demokratie mit muslimischen Gesetzen.

Unterstützer der rechten Ennahdha-Partei sind entrüstet. Ihr Vorsitzender und Parlamentssprecher, Rachid Ghannouchi, rief seine Unterstützer:innen dazu auf ins Parlament zu kommen, aber sie, und Ghannouchi selbst, wurden von Sicherheitskräften aufgehalten. Ghannouchi denunzierte dieses Manöver und behauptete, dass Saieds Unterstützer:innen “anarchistischen Gruppen nahe” stünden. Dabei will er nicht zugeben, dass es Bürger:innen sein könnten, die ihre legitime Frustration mit der Partei zum Ausdruck bringen. Die Arbeiter:innenklasse, die Jugend und die Massen haben eine nach so vielen Jahren der Korruption und der nicht erfüllten Versprechen der Jasminrevolution eine Anti-Regierungshaltung entwickelt und dürfen keine Illusionen oder Vertrauen in Saied haben, der eine populistische Rhetorik nutzt um zu vertuschen, dass er eine reaktionäre Figur gegen die Interessen der Arbeiter:innen ist.

Präsident und Premierminister kämpften im vergangenen Jahr um die Macht, stritten um Kabinettssitze und Kontrolle über Sicherheitskräfte, was ihre Versuche ablenkte, die Pandemie und die Finanzkrise einzudämmen. Das Land verhandelt derzeit die Bedingungen über einen weiteren Kredit des Internationalen Währungsfonds (IWF). Diese Kredite, Teil eines neoliberalen und imperialistisch-kapitalistischen Programms, haben den Handel mit Europa befördert, was aber die Abhängigkeit von Europäischen Märkten bedeutend erhöhte, während die Arbeiter:innenklasse mit Sparpolitik angegriffen wurden.

Ob die tunesische Öffentlichkeit ihn unterstützt oder nicht, die Konsolidierung von Saieds Macht kann nicht die Antwort auf die Probleme des Landes sein. Im letzte Monat wurde ein Blogger festgenommen, der jetzt vor einem Militärgericht wegen Beleidigung von Saied angeklagt wird. 40 weitere Blogger wurden zwischen 2018 und 2020 festgenommen (Saied kam im September 2019 an die Macht). Eine anonyme Quelle sagte voraus, dass der Präsident ein Referendum vorschlagen wird, um das momentane parlamentarische System durch eine Präsidialregierung zu ersetzen. Saied nutzt die Delegitimierung des jetzigen Regimes und seiner Parteien in den Augen der Öffentlichkeit, um sich in bonarpartischer Weise über die Auseinandersetzungen zu erheben und die “Ordnung” für die herrschende Klasse wiederherzustellen.

Bei einem Telefonat am Montag “bedrängte” der U.S.-Außenminister Antony Blinken Saied kleinlaut und zu spät, demokratische Prinzipien zu respektieren, nachdem er dem Land die Regierung geraubt hatte. Abgesehen von der Türkei, haben globale Mächte wie Deutschland oder Frankreich ähnlich zögerlich geantwortet. Die tunesischen Arbeiter:innen und Unterdrückten dürfen nicht an die imperialistischen und regionalen Kräfte glauben. Sie haben eigene Interessen in der politisch-ökonomischen Entwicklung des Landes und man muss unabhängig von den kapitalistischen Mächten handeln.

Saied ist ein konservativer Law-and-Order-Politiker, der die Meinungsfreiheit bedroht und versucht, seine eigene Macht zu festigen und die Öffentlichkeit zu beruhigen, indem er einige Sündenböcke der politischen Elite festnimmt. Weder er noch die rechte Partei Ennahdha, die ein Verbündeter der Bourgeoise ist, sollten das tunesische Volk repräsentieren. Die Zustände sind weit von der Demokratie entfernt, für die die Revolutionär:innen des arabischen Frühlings vor zehn Jahren ihr Leben und ihre Zukunft riskierten.

Zuerst erschienen bei Left Voice am 29.07.2021

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