Nix mit Familie im Start-Up

07.06.2023, Lesezeit 4 Min.
Gastbeitrag

Wie es in der Start-Up Kultur kein bisschen um Familie geht, Menschen ohne Warnung, von jetzt auf gleich gefeuert werden und Kinderkrankentage einem negativ ausgelegt werden. Ein Gastbeitrag.

1
Foto: PeopleImages.com - Yuri A / Shutterstock.com

Nach meiner Elternzeit im Sommer 2022 begann ich eine neuen Job in einem Start-up bei mir in der Stadt. Ich hatte ein tolles, offenes Team und auch ansonsten war alles wunderbar.
Ihr müsst wissen, dass das Unternehmen, in dem ich eingestellt war, wiederum für eine große Kanzlei Mandant:innen generiert hat. Dafür konnte ein:e Mandant:in sich online auf der Webseite der Kanzlei anmelden und prüfen lassen, ob das Fahrzeug, welches die Person fuhr, vom Dieselskandal betroffen war. Nach diesem Online Check war ich an der Reihe und rief die Leute an, um ihnen weitere Möglichkeiten darzulegen. Einmal im Quartal haben wir uns kollektiv versammelt, um über die Zahlen zu sprechen.

Wie auch an dem besagten Tag im am Anfang dieses Jahres. Selbst ein paar Mitarbeiter:innen der Kanzlei waren vor Ort, soweit nicht ungewöhnlich. Wir waren freudig gestimmt, denn wir wussten, was für einen guten Job wir im letzten Jahr gemacht haben. Die Standortleiterin ging nach vorne und sagte: “Hiermit geht die Reise von XYZ-Firma zu Ende. Bitte gebt die Hardware zurück, hier sind eure Kündigungen, ihr seid ab sofort freigestellt.‘‘ Das war ein riesen Schock, niemand von uns rechnete damit! Wir waren inzwischen ein eingeschworenes Team.

Von jetzt auf gleich waren wir arbeitslos

Das Perfide daran war jedoch, dass ich zusammen mit 6 anderen Auserwählten ein zusätzliches Blatt in meinem Umschlag hatte. Mit uns wollte man über ‘anderweitige Perspektiven’ sprechen, ich solle in das Obergeschoss kommen. Ich war schockiert, gerade erst gekündigt und jetzt dieses Angebot?! Leider bin ich in der prekären Situation, dass ich keine abgeschlossene Ausbildung habe und so ein Angebot nicht ausschlagen kann, da ich schlicht und ergreifend auf das Geld angewiesen bin. Also unterschrieb ich im Schock. Vor versammelter Belegschaft bekamen wir mitgeteilt, dass die Kanzlei uns gerne übernehmen würde und ob wir im Februar direkt weiterarbeiten können, es gäbe auch einen kleinen Bonus. Wohlgemerkt waren wir alle gekündigt und freigestellt. Ich stimmte zu und malochte den ganzen Februar, fehlte aber 1-2 Tage, weil mein Kind krank wurde.

In der Zwischenzeit merkte ich zudem, dass der zusätzliche Druck, den die Kanzlei ja angeblich nicht aufbauen wollte, drastisch zunahm und der Ton sich rasch änderte. Unterschwellig warf man mir im Gruppenchat vor, dass es nicht so weitergehen kann, dass ständig Leute fehlen. Mein Kind war krank! Nach dieser Nachricht fühlte ich mich dermaßen ausgenutzt und machtlos, ich weinte sogar, weil es mich so mitnahm. Das war dann aber auch die Spitze des Eisbergs, ich wartete also bis zum Ende des Monats, kündigte und meldete mich die 2 Wochen in der Probezeit krank.

Der versprochene Bonus waren jämmerliche 250 Euro, also hatte ich einen Stundenlohn von ca. 1-2 Euro, aber darauf war ich angewiesen. Mir wurde telefonisch mitgeteilt, dass der Bonus nicht ausgezahlt wird, weil ich ja 1-2 Fehltage hatte. Nach wochenlangem hin und her diskutieren und darauf beharren, bekam ich es letztendlich doch ausgezahlt. Bis dahin war es nervenaufreibend, manchmal war es kaum auszuhalten. Mir wurde sogar gesagt, es hätte mich ja niemand dazu gezwungen, während meiner Freistellung zu Arbeiten.

Diese Aussage strotzt nur so von Ignoranz und Privilegien, dass ich kotzen möchte. In dieser Kanzlei arbeiten überwiegend weiße Menschen, mit mir gemeinsam gab es vielleicht 2-3 PoC’s, das wars dann aber auch schon. Die Menschen, die dort arbeiten, kommen meistens aus Akademikerfamilien, sind dadurch privilegiert und hatten es wahrscheinlich noch nie nötig, 250 Euro hinterherzurennen. Diese Menschen kennen diese Zustände schlicht und ergreifend nicht. Für sie zählen nur Leistung, Druck und falsche Versprechen. Sie sind skrupellos und geldgierig.
Du bist nur eine Zahl und jederzeit ersetzbar. Das war für mich eines der schlimmsten Erlebnisse, die ich bezüglich Lohnarbeit erleben musste. Ich bin super froh, dass ich da raus bin und nie wieder etwas mit ihnen zu tun haben muss.

Vor kurzem habe ich mitbekommen, dass es erneut eine Kündigungswelle bei der Kanzlei gab. Auf einmal wurden über 50 Leute von jetzt auf gleich entlassen.

Mehr zum Thema