Neiddebatte jetzt!
In der öffentlichen Debatte wird Kritik an ökonomischer Ungleichheit oft als „Neiddebatte” verunglimpft und damit zum Schweigen gebracht. Dabei bräuchten wir gerade jetzt eine Diskussion über radikale Umverteilungsmaßnahmen, um die durch ein angeblich meritokratisches System verursachten Ungerechtigkeiten zu verhindern. Ein Essay
Der reichste Deutsche heißt Klaus-Michael Kühne und besitzt laut Forbes 38,7 Milliarden US-Dollar – umgerechnet 36 Milliarden Euro. Die Dimensionen solchen Reichtums sind für die meisten Menschen kaum vorstellbar. 36 Milliarden: Das ist eine Zahl mit neun Nullen. Höher als das Bruttoinlandsprodukt der meisten Staaten der Welt. Fast halb so viel wie die gesamte untere Hälfte der deutschen Bevölkerung ab 17 Jahren besitzt – also etwa 35 Millionen Menschen. Man könnte mit dem Vermögen von Kühne 319.000 Menschen 10 Jahre lang das von der Bundesregierung festgelegte Existenzminimum garantieren. Für 36 Milliarden Euro müsste eine Reinigungskraft in Deutschland durchschnittlich etwa 176.000 Jahre arbeiten – und zwar, ohne je einen Cent auszugeben.
Hinter Kühne folgen in der Forbes-Rangliste Lidl-Gründer Dieter Schwarz (37,5 Mrd. USD), Reinhold Wuerth und Familie (36 Mrd. USD), Stefan Quandt (28,2 Mrd. USD), Susanne Klatten (27,2 Mrd. USD), Andreas von Berchtolsheim und Familie (16,1 Mrd. USD), Karl Albrecht Jr. und Familie (15,2 Mrd. USD) und Beate Heister (15,2 Mrd. USD). Insgesamt gibt es in Deutschland laut dem Magazin 132 Milliardäre. Zusammen mit dem restlichen reichsten Prozent besitzen sie mehr als ein Drittel des Gesamtvermögens in Deutschland. Die ärmsten 20 Prozent der Bevölkerung hingegen besitzen durchschnittlich nicht einmal eigenes Vermögen oder sind sogar verschuldet.
Macht man auf diese Zahlen aufmerksam, dauert es meist nicht lange, bis einem der immer gleiche Vorwurf entgegengeschleudert wird: Neid. In ihrer Late-Night-Show vom 22.10.2023 stellt Sarah Bosetti anschaulich dar, welcher Mechanismus dahinter steckt: Der Neid-Vorwurf ist so perfide, weil er dazu benutzt wird, aufkommende Diskussionen oder Kritik sofort zu unterbinden. Niemand gibt gerne zu, neidisch zu sein. Neid scheint in Deutschland das Totschlagargument gegen Umverteilung zu sein. So empörte sich ZDF-Moderator Markus Lanz im Juli 2023 über die „Neiddebatte“ um Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP): „Wie viele Menschen haben Arbeit, weil ein anderer bereit ist, 200.000 Euro für ein Auto auszugeben? Lass ihn doch! Warum muss man diese Gegenpole immer aufmachen?“ In die gleiche Kerbe schlug Lindners Parteikollege Wolfgang Kubicki in Bezug auf Nebentätigkeiten von Abgeordneten, deren Offenlegung auf keinen Fall zu einer „Neiddebatte“ führen dürfe. Nebeneinkünfte in Höhe von 200.000 oder 300.000 Euro kämen bei einem Anwalt ganz leicht zusammen. Und auch der ehemalige CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak ist geübt darin, das Schwert des Neidvorwurfs zu schwingen: Im August 2019 verwehrte er sich gegen das SPD-Vorhaben einer Vermögensteuer, die nichts anderes seien als eine „billige Neiddebatte”: „Mit der Union wird es keine Besteuerung von Vermögen geben“. Sie haben etwas dagegen, dass manche Menschen erfolgreicher sind als andere und sich ein Auto für 200.000 Euro kaufen können? Ach, Sie sind doch bloß neidisch!
Wer sich dann gegen diesen Vorwurf verteidigt und beteuert, aber doch sicherlich nicht neidisch zu sein, ist schon in die Falle getappt – denn er spielt das Spiel des anderen mit. Der Fokus wird von den Beobachtungen über Ungleichheit verschoben auf die den Charakter der Sprecherin. Die Beweislast wird umgedreht: Der Rechtfertigsdruck liegt nun auf derjenigen Person, die die Ungleichheiten angesprochen hat, und nicht mehr auf den Ungleichheiten selbst. Eigentlich eine billige Taktik, aber sie funktioniert. Dabei wäre es so wichtig, genuine Debatten über Umverteilung und Produktionsverhältnisse zu führen. Jedes fünfte Kind in Deutschland lebt in Armut. Hunderttausende Menschen können nicht von ihrem Job leben. Die Einkommensungleichheit ist während der Corona-Pandemie weiter gestiegen. Höhere Energie- und Lebensmittelpreise werden zum existenziellen Problem für ärmere Haushalte. Jeder sechste Haushalt ist mit der Miete überlastet. Und gleichzeitig konzentriert sich der Reichtum immer mehr in der Spitze: Fast alle der anfangs genannten Milliardär:innen haben gemeinsam, dass sie zwischen 2020 und 2023 – also während der Corona-Pandemie – immense Gewinne aufzuweisen haben (nachzusehen in den jeweiligen Profilen der Forbes-Rangliste). Wenn die Problematisierung all dieser Punkte eine Neiddebatte ist, dann brauchen wir genau das: Eine Neiddebatte.
In gewissem Sinne wird eine Neiddebatte schon längst geführt – allerdings auf eine vollkommen perverse Art und Weise. Denn im Zentrum der tatsächlich geführten Debatte stehen nicht diejenigen, für die eine Milliarde mehr oder weniger kaum einen Unterschied macht, sondern die Schwächsten der Gesellschaft. Hubert Aiwanger, Chef der Freien Wähler und selbsternannter Retter des „gesunden Menschenverstandes“, wusste die Wut der Landwirte im Zuge der Bauernproteste für seine politische Agenda zu nutzen: Die Regierung in Berlin setze Auflagen für Landwirtinnen durch, damit Geld für Geflüchtete und Bürgergeldempfänger da sei. So vollkommen absurd diese Verknüpfung verschiedener Themen auch ist, sie scheint zu verfangen. Während Neid gegenüber den Reichsten der Reichen in Deutschland ein Tabu ist, wird den Ärmsten nicht einmal das Existenzminimum gegönnt. Die Supermärkte, also die Distributoren der landwirtschaftlich produzierten Güter, fahren Milliardengewinne ein – aber Schuld an den finanziellen Problemen vieler Landwirte haben natürlich: Geflüchtete und Sozialhilfeempfänger. Das ist in etwa so, als würde man von fünf Kuchenstücken vier für sich nehmen und dann die anderen davor warnen, der Ausländer könnte sich das letzte unter den Nagel reißen. Mit dieser Strategie hat es Donald Trump bis ins Weiße Haus geschafft – und ist auf gutem Wege, wieder dorthin zurückzukehren.
Die ungerechten Besitzverhältnisse sollen bloß nicht angetastet werden – und das funktioniert bestens, wenn die unteren Klassen gegeneinander ausgespielt werden. Wenn in den Talkshows jeder Euro diskutiert wird, der für soziale Belange ausgegeben wird, wenn sich die Unter- und Mittelschicht gegenseitig bekämpft statt an einem Strang zu ziehen, dann können sich die wirklich Vermögenden die Hände reiben. Je mehr die Aufmerksamkeit von den deren obszönem Reichtum ferngehalten wird, desto weniger müssen sie sich für diesen rechtfertigen, das heißt desto einfacher kann die Frage abgeblockt werden, ob es legitim sein kann, dass die einen im Geld schwimmen, während andere kaum über den Tag kommen. Wie oft hört man den Begriff „Bürgergeld“ in der öffentlichen Debatte und wie oft den Begriff „Vermögensteuer“? Die Union hält es für wichtiger, ein paar Tausend sogenannten „Totalverweigerern“ – also Menschen, die eine „zumutbare“ Arbeit ablehnen – die Lebensgrundlage zu entziehen und damit angeblich das Ansehen des Sozialstaats zu retten, als gegen Kinderarmut vorzugehen. Für FDP-Chef Lindner lädt das Bürgergeld zum „Nichtstun“ ein. Was genau deswegen ein Problem zu sein scheint, weil es hier um die Schwachen in der Gesellschaft geht. Ob Menschen mit Millionen von Euro auf dem Konto zur Arbeit gehen oder irgendeinen sinnvollen Beitrag zum Funktionieren der Gesellschaft beitragen, interessiert kaum jemanden.
Hinter dieser Diskrepanz steckt der Mythos von der Meritokratie: Aus irgendeinem Grund akzeptiert die Mehrheit in Deutschland die Vorstellung, dass Reichtum die Folge von großer Anstrengung sein muss. Wer viel Geld besitzt, der hat offenbar auch viel geleistet. Einer höheren Besteuerung von Reichen wird regelmäßig das Argument entgegengeschleudert, damit würde man ja Menschen bestrafen, die sich ihren Wohlstand selbst erarbeitet haben. Aber kann man bei Vermögen im Milliardenbereich wirklich noch sinnvollerweise davon sprechen, dass sich jemand dieses „selbst erarbeitet“ hat? Schließlich sind solche Erfolge immer auch abhängig von den Leistungen anderer Menschen, insbesondere der anderen Mitarbeiter:innen des Unternehmens. Ganz allein, ohne auf fremde Hilfe angewiesen zu sein, Vermögen zu erarbeiten, ist eine logische Unmöglichkeit. Auch wären es nicht vorstellbar ohne die extensive Infrastruktur, welche die Gesellschaft dem Individuum zur Verfügung stellt: Bildungssysteme, Verkehrsinfrastruktur, Rechtssicherheit, staatlicher Schutz und so weiter. Der Kontext spielt eine gewichtige Rolle: In einem politisch instabilen Land ohne Gesetze, Straßen und Schulen könnte niemand durch eine unternehmerische Leistung (ohne Verbrechen zu begehen) zu großen Summen Geld kommen. Auf einer Metaebene kommt noch das Geldsystem an sich dazu, ohne das die Umwandlung von bestimmten Leistungen in Geld und von Geld wiederum in Güter überhaupt nicht möglich wäre.
Wer behauptet, er habe sich sein Vermögen ganz allein erarbeitet, übersieht all diese Faktoren. Er übersieht außerdem, welch gewichtigen Einfluss das Glück in der Realität für den individuellen Erfolg spielt. Dieser Einfluss, das wurde in wirtschaftswissenschaftlichen Studien bestätigt, wird in der öffentlichen Wahrnehmung systematisch unterschätzt. Dabei kommt es ganz oft darauf an, einfach zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Oder den richtigen Nachnamen zu haben: Personen mit einfach auszusprechendem Namen werden tendenziell von anderen positiver eingeschätzt. Frauen mit männlich klingenden Nachnamen werden erfolgreichere Juristinnen. Und Personen mit Nachnamen, die mit einem früh im Alphabet vorkommenden Buchstaben beginnen, bekommen häufiger Top-Berufe. Mit der Überhöhung des Leistungsprinzips wird so getan, als hätte jeder und jede grundsätzlich die gleiche Chance, erfolgreich zu sein. Dabei sind selbst die Möglichkeit (zum Beispiel aufgrund einer chronischen Krankheit) und sogar die Bereitschaft, Leistung zu bringen, keine unabhängigen Variablen: Sozialer Hintergrund, Erziehung, Bildung und andere Faktoren beeinflussen nicht nur die Umstände einer Person, sondern oft auch direkt deren Handlungen. Manchen Menschen fällt es schwerer als anderen, Leistung zu bringen – das kennt jede:r aus der Schule, wo manche scheinbar mühelos Einser schrieben und andere selbst mit hohem Aufwand nur auf eine Drei kamen. Dies kann an unterschiedlichem Talent liegen, aber auch an zu- beziehungsweise abträglichen Lernsituationen zuhause, unterschiedlich starker Unterstützung durch die Eltern, Deutschkenntnissen und so weiter. Im Kontext der Arbeitswelt ist außerdem gut vorstellbar, dass beispielsweise Selbstvertrauen in Gehaltsverhandlungen oder Rücksichtslosigkeit gegenüber den Kolleg:innen im Rennen um Führungspositionen maßgeblich von der Erziehung und dem sozialen Umfeld abhängen.
Der in der Realität nachweisbar hohe Einfluss von nicht-leistungsbezogenen Kriterien des individuellen ökonomischen Erfolgs, wie sozioökonomischer Hintergrund, Geschlecht und Migrationsgeschichte, zeugt vom illusionären Charakter der meritokratischen Vorstellung. Doch selbst wenn man solche Faktoren ausblendet: Wie sollen verschiedene Leistungen überhaupt miteinander verglichen werden? Wie wird gerechtfertigt, dass eine bestimmte Tätigkeit mit Millionen belohnt wird und eine andere nicht? Eine Pflegekraft oder eine Lehrerin können noch so gut in ihrem Job sein und noch so gute Leistungen bringen – Millionäre werden sie trotzdem nie werden. Der Markt scheint hier ganz offensichtlich zu versagen: Gut bezahlt beziehungsweise mit hohem Gewinn belohnt werden oft Leistungen, deren Mehrwert für die Gesellschaft mindestens zweifelhaft ist. Darunter fallen zum Beispiel Unternehmensanwältinnen, Aufsichtsratschefs, Beraterinnen, Marketingexperten und Lobbyistinnen. David Graeber zeigt in Bullshit Jobs anschaulich, dass bis auf wenige Ausnahmen (wie zum Beispiel Ärzte) sogar das Prinzip zu gelten scheint: Je wertvoller eine Tätigkeit für die Gesellschaft, desto schlechter wird sie bezahlt. Dahinter scheint die verbreitete (implizite) Auffassung zu stehen, dass wer eine sinnvolle Tätigkeit ausübt und somit Erfüllung durch seine Arbeit finden kann, nicht auch noch dafür bezahlt werden sollte. Mit anderen Worten: Lehrerin oder Pflegekraft soll man nach allgemeinem Dafürhalten werden, weil man sich für diese Beschäftigung begeistert, nicht weil man damit reich werden kann. Da ist grundsätzlich vielleicht etwas dran – doch dieses Prinzip führt zu der absurden Konsequenz, dass gerade diejenigen, die gesellschaftlich sinnlose oder sogar schadhafte Berufe ausüben, besonders stark persönlich profitieren. Ist es in einem solchen System wirklich eine Auszeichnung, von sich behaupten zu können, sich viel Geld erarbeitet zu haben?
Teilweise ist sogar nicht einmal klar, wie hoch der Beitrag der Hochverdienenden zum Erfolg des eigenen Betriebes selbst ist: Eine wissenschaftliche Studie, die im Fachmagazin Science Advances veröffentlicht wurde, findet kaum statistische Evidenz dafür, dass CEOs den Firmenerfolg positiv beeinflussen. Dass CEOs gleichzeitig aber überproportional viel verdienen, geht auf einen sogenannten „fundamentalen Attributionsfehler“ zurück: Der Anteil am Erfolg von Unternehmen, der von Glück und anderen unbeeinflussbaren Faktoren abhängt und somit nicht erklärt werden kann – wir sprechen hier von ungefähr 50 Prozent –, wird der Leistung der CEOs zugerechnet. Deren Gehälter entwickeln sich dann in Erhöhungsspiralen – wenn das eine Unternehmen Summe x zahlt, sieht sich Unternehmen y gezwungen, nachzuziehen – in schwindelerregendem Tempo nach oben. Gehalt und Beitrag zum Unternehmenserfolg stehen in keinster Weise im Verhältnis. Offensichtlich geht es also überhaupt nicht darum, wie hart jemand arbeitet oder wie viel Leistung jemand erbringt, sondern lediglich darum, ob es einem gelingt, eine bestimmte Stellung oder Position zu erreichen beziehungsweise eine bestimmte Tätigkeit auszuüben, die in vielen Fällen einen verschwindend geringen gesellschaftlichen Wert besitzt. Deswegen auch Mythos der Meritokratie: Den Vertreter:innen der neoliberalen Vermögensschutzpolitik geht es in Wirklichkeit gar nicht darum, dass Verdienst (Lat. meritum) belohnt wird und diejenigen, die viel geleistet haben, zu Recht über Wohlstand verfügen. Vielmehr soll davon abgelenkt werden, dass die realen extremen sozialen Ungleichheiten, welche sich noch dazu von Generation zu Generation weitervererben (Erbschaften und Schenkungen sind in Deutschland der Hauptgrund für Reichtum), im Grunde durch nichts rechtfertigen lassen. Solange man den Armen immer und immer wieder erzählt, sie könnten es schaffen, wenn sie sich nur genug anstrengen würden, verhindert man, dass das System als ganzes infrage gestellt wird – und ein paar wenige Beispiele sozialen Aufstiegs lassen sich immer finden (denn klar: wenn einer von Tausenden oder Zehntausenden es geschafft hast, dann kannst DU es natürlich auch schaffen!). Wohl nur so lässt sich erklären, dass über die Hälfte der FDP-Wählerschaft ein durchschnittliches oder sogar unterdurchschnittliches Einkommen aufweist.
Wenn wir Milliardenvermögen einmal als das akzeptiert haben, was sie sind – nämlich Ausdruck eines verdorbenen Gesellschaftssystems, das willkürlich bestimmte Tätigkeiten über andere stellt und dabei sogar egoistisches Verhalten belohnt und altruistisches Verhalten bestraft –, dann erscheint es gar nicht mehr so verkehrt, neidisch auf Reichtum zu sein. Denn dessen Rechtfertigung als Resultat hoher Anstrengungen und großer Verdienste, die so gerne als Totschlagargument gegen Vermögens-, Erbschafts- und sonstige Steuern angeführt wird, fällt wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Dass Bedürftige hingegen Sozialleistungen erhalten, ruht auf einem stabilen Rechtfertigungsfundament – der Menschenwürde, der Empathie, der Solidarität. Und doch sind es genau diese Leistungen, die ständig infrage gestellt und beschnitten werden; sind genau diese das Objekt des Neids, der sich doch irgendwo ausleben muss. Wenn man nicht selbst in diesem System drinstecken würde, müsste man dem Kapitalismus eigentlich für diese geniale Fokusverschiebung applaudieren. Er hat es geschafft, dass sogenannter „Sozialbetrug“, also zum Beispiel die Auszahlung von Sozialleistungen an nicht berechtigte Personen, skandalisiert und immer wieder debattiert wird, während Steuerbetrug bis auf wenige Ausnahmen wie Cum-Ex im öffentlichen Diskurs nicht stattfindet – obwohl Ersteres den deutschen Staat jährlich etwa 60 Millionen Euro und Letzteres 1,25 Milliarden Euro kostet (zumindest die nachgewiesenen Fälle, die Dunkelziffer dürfte jeweils höher liegen – beim Steuerbetrug Schätzungen zufolge bei 100 Milliarden Euro). Er hat es geschafft, dass Ablehnung und Ressentiments gegenüber Menschen vorherrschen, die gerade einmal das Nötigste zum Leben haben, während diejenigen, die sich so richtig auf Kosten der Gemeinschaft bereichern, nahezu unantastbar sind. So perpetuieren sich Ungerechtigkeiten, und so wird den Nährboden für antidemokratische und populistische Parteien wie die AfD (oder auch Aiwangers Freie Wähler) gelegt, die ganz bewusst mit dem Finger auf Geflüchtete und Empfänger:innen von Sozialleistungen zeigen. Die Parole, dass die „Faulen“ und die „Ausländer“ an allem Schuld hätten, ist im rechten Spektrum so beliebt wie eh und je.
Dass dieses Narrativ verfängt und viele Menschen eher auf die Schwächeren schielen als auf die Stärkeren, liegt womöglich zu einem großen Teil an einer kapitalen Fehleinschätzung der eigenen Situierung in der Gesellschaft. Viele scheinen zu glauben, sie selbst würden durch beispielsweise eine Vermögensteuer Einbußen hinnehmen müssen. Zu sehen war dieser Effekt zum Beispiel auch in der Diskussion um die Senkung der Einkommensgrenze für das Elterngeld letzten Sommer: Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) entschied, das Maximaleinkommen für den Erhalt dieser Leistung von 300.000 auf 150.000 Euro zu senken. Die Empörung war riesig; wohl auch, weil sich viele Menschen sich selbst oder den eigenen Bekanntenkreis von der Maßnahme betroffen wähnten. Dabei ist der Anteil der Familien, für die durch die Änderung tatsächlich der Anspruch auf Elterngeld wegfällt, verschwindend gering: es geht gerade einmal um 60.000 Familien in ganz Deutschland – bei insgesamt 11,6 Millionen. Wissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass Gering- und Normalverdienende ihr Einkommen tendenziell überschätzen, wohingegen Hochverdienende ihr Einkommen unterschätzen. Rufe nach Besteuerung der Reichen und Umverteilung werden mithin von viel mehr Menschen als Bedrohung wahrgenommen, als es rein rational logisch wäre. Eigentlich gäbe es für die große Mehrheit Menschen keinen Grund, an dem derzeitigen System festzuhalten, das die Privilegien einiger weniger schützt. Man erinnere sich an das Motto der Occupy-Wall-Street-Bewegung: „Wir sind die 99 Prozent“. Wenn wir uns gegen das reichste Prozent verbünden und uns endlich wehren würden, statt nach unten zu treten, hätten die Milliardäre keine Chance. Und selbst wenn nur 90 Prozent mitmachen: Wir könnten eine Gesellschaft mit weniger Ungleichheiten schaffen, in der es fast allen besser geht als jetzt – auf Kosten derer, die ohnehin mehr haben, als sie je benötigen könnten.
Es ist höchste Zeit für eine richtig geführte Neiddebatte. Es ist höchste Zeit zu hinterfragen, ob es wirklich legitim sein kann, dass einige Milliarden und andere gar nichts besitzen. Es ist höchste Zeit, radikale Umverteilung und Neugestaltung der Produktionsverhältnisse offen zu diskutieren. Wenn fünf Familien zusammen mehr besitzen als die ärmere Hälfte der Bevölkerung, dann muss es einen Fehler im System geben. Zusammen haben wir die Macht, dieses System zu überwinden. Denn wir sind viele.