Nach den Parlamentswahlen: Gewalt in Israel und Palästina eskaliert weiter

05.12.2022, Lesezeit 7 Min.
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Foto: Straße in Ostjerusalem/Achmed Zmero

Die Gewalt in Israel und Palästina nimmt nach der israelischen Parlamentswahl Anfang November immer weiter zu. Woran liegt das, und was könnten Antworten auf die Krise sein?

Am 23. November, wurden an zwei Bushaltestellen in Jerusalem ferngesteuerte Bomben gezündet. Mehrere Menschen wurden schwer verletzt und ein 16-jähriger starb. Das Todesopfer, Aryeh Schechopek, war ein kanadischer Jude.
Die Anschläge folgten auf mehrere Überfälle der israelischen Armee auf Jenin am Montag und Nablus am Dienstag. Dabei starben zwei Jugendliche. Einer von ihnen war der 18-jährige Mahmoud Al-Sadi aus Jenin, der auf dem Weg zu seiner Hochschule erschossen wurde. Al-Sadi war Mitglied des Freedom Theaters. Dieses Theater wurde von Juliano Mer-Khamis gegründet und hat es sich zur Aufgabe gemacht, den palästinensischen Widerstand auf die Theaterbühne zu bringen. Ebenfalls getötet wurde der 16-jährige Ahmad Shehadeh aus Nablus. Er ist das zweihundertste palästinensische Todesopfer und das einundfünfzigste von der Armee getötete Kind in diesem Jahr.

Anders als bei den Opfern in den palästinensischen Gebieten gab es nach den Anschlägen in Jerusalem einen großen Widerhall in der deutschen Berichterstattung, ohne dass jedoch der Kontext mit einbezogen worden wäre. Wir verurteilen Anschläge eindeutig. Trotzdem muss stets betrachtet werden, in welchen Gewaltzusammenhängen sie stehen. Es ist immer von Neuem erschreckend, dass in Deutschland mit zweierlei Maß gemessen wird, je nachdem, ob Israelis mit vollen Staatsbürger:innenrechten oder palästinensische Menschen ermordet werden. Der deutsche Staat und die staatstragenden Medien handeln gemäß dem Leitsatz, den die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel 2008 bei einem Besuch in Israel formulierte: „Diese historische Verantwortung Deutschlands ist Teil der Staatsräson meines Landes. Das heißt, die Sicherheit Israels ist für mich als deutsche Bundeskanzlerin niemals verhandelbar.“

Damit unterstützt die Bundesregierung den Siedlungskolonialismus in Palästina. Deutschland als NATO-Mitglied und enger Verbündeter der USA hat ein Interesse daran, dass es eine pro-westliche, imperialistische Macht auf der arabischen Halbinsel gibt, die militärische Angriffe gegen Nachbarländer, z.B. für die Gewinnung von Öl oder anderen Rohstoffen, rechtfertigt.

Noch ist nicht bekannt, wer für die Anschläge verantwortlich ist. In den Medien wird vermutet, dass sie eine Reaktion auf die Aussage Itamar Ben-Gvirs, des möglichen neuen Sicherheitsministers Israels seien, weiterhin den Tempelberg besuchen zu wollen. Dies ist eine bewusste Provokation und erinnert an den Besuch des ehemaligen israelischen Premierministers Ariel Sharon im Jahr 2000, der die zweite Intifada (arabisch für „Aufstand“, militärischer Konflikt zwischen Israel und Palästina 2000-2005) mit auslöste. Laut den Verträgen von Oslo soll die Hauptstadt eines zukünftigen palästinensischen Staates Ostjerusalem sein.
Der Tempelberg ist das Zentrum und Sinnbild des arabischen Jerusalems und wird deshalb von rechtsradikalen jüdischen Siedler:innen attackiert, um eine zukünftige Hauptstadt eines palästinensischen Staates unmöglich zu machen.

Die Situation der Palästinenser:innen in der Westbank und in Ostjerusalem verschlimmert sich Tag für Tag und die Opferzahlen erreichen den Höchststand der letzten Jahre. Sowohl die scheidende rechtsnationale als auch die voraussichtliche Regierung mit rechtsextremen und faschistischen Parteien haben Vergeltungsschläge und eine Verschärfung der Militärpräsenz in den palästinensischen Gebieten angekündigt. Am 23. November wurde eine Schule in Masafer Yatta, südlich von Hebron in der Westbank, abgerissen, wo eine jüdisch-israelische Siedlung entstehen soll. Des Weiteren wurden linke jüdische Aktivist:innen in Hebron von Soldat:innen angegriffen und erlitten teilweise schwere Verletzungen. Der rechtsradikale Politiker und Mitglied der Knesset Itamar Ben-Gvir kündigte in der Presse an, prüfen zu wollen, ob die Soldat:innen nicht vorher provoziert worden seien, denn er kenne diese gefährlichen Linksextremen. Die neue Regierung wird die Anschläge vermutlich als Rechtfertigung für weitere ethnische Säuberungen in Jerusalem und der Westbank nutzen und damit die aggressiven Siedler:innen dabei unterstützen, eine Stadt frei von Palästinenser:innen herzustellen.

Jerusalem ist heute schon eine von Rassismus geprägte Stadt, in der racial profiling den Alltag bestimmt. Nach vermeintlich „palästinensischen“ Anschlägen stehen alle arabisch gelesenen Menschen unter Generalverdacht. Palästinenser:innen haben Angst, in der Öffentlichkeit Arabisch zu sprechen. Einen Tag nach den Anschlägen in Jerusalem kam es während des Berichts einer Korrespondentin des französischen Fernsehsenders France24, Layla Odeh, zu rassistischen Ausfällen jüdischer Jugendlicher, die die Journalistin Odeh auf Arabisch und Hebräisch beleidigten und „Tod den Arabern“ sowie „Alle Araber nach Russland“ riefen. Das Gespräch musste abgebrochen werden. Der Hadash-Abgeordnete Ofer Cassif wurde hart dafür kritisiert, dass er in der Knesset sagte, das jüdische Opfer des Anschlags in Jerusalem sei ebenso wie jedes palästinensische Opfer eine Folge der israelischen Besatzung.

Faschistisches Gedankengut drängt sich bereits wenige Wochen nach der Parlamentswahl in den israelischen Mainstream. Antimuslimischer und anti-arabischer Rassismus sowie Homophobie und Sexismus prägen die kommende Regierung, die aus der rechtsnationalen Likud Partei von Netanjahu, der faschistischen Kach-Nachfolgepartei Otzma Yehudit und den ultraorthodoxen Parteien besteht. Diese Koalition stellt nicht nur für Palästinenser:innen eine Gefahr dar, sondern für alle Antifaschist:innen, Menschenrechtsorganisationen, Frauen, LGBTQIA+, Linke und Linksliberale.

Neben der Gewalt ist die ökonomische Situation in Israel eine massive Problemlage. Die Lebenshaltungskosten sind extrem hoch, was vor allem mit den hohen Steuern zusammenhängt. Diese dienen dazu, den massiven Sicherheitsapparat des Landes zu finanzieren. In Al-Khalil/Hebron (Westbank) ist die Zahl der stationierten Soldat:innen mit etwa 1000 beispielsweise höher als die der Siedler:innen, die sie beschützen sollen. Die palästinensische Bevölkerung in der Westbank zahlt in diesem System doppelt. Durch die schwache Ökonomie in der Westbank und die Militärinterventionen und Beschlagnahmung von Ackerland sind viele Palästinenser:innen gezwungen, in Israel zu arbeiten. Dort werden sie zum Teil massiv ausgebeutet, weil sie auf die Arbeit angewiesen sind; gleichzeitig müssen sie jeden Tag den demütigenden Weg über die Checkpoints auf sich nehmen. Der nationale Befreiungskampf der Palästinenser:innen muss mit dem Kampf um die ökonomische Macht verbunden werden. Dafür müssen sich die Arbeiter:innen auf dem vom israelischen Staat kontrollierten Gebiet zusammenschließen, denn die herrschende Klasse befördert absichtlich die Spaltung zwischen den Palästinenser:innen innerhalb und außerhalb Israels, Gazas, Ostjerusalems und zwischen den unterschiedlichen ethnischen und religiösen bzw. säkularen Gruppen der Jüd:innen, um die Klassenfrage in den Hintergrund zu stellen.

Gegen die Gewalt und für den Frieden kann es nur eine Lösung geben: Das Ende der Besatzung, Rückkehrrecht für Vertriebene und der Aufbau eines sozialistischen Palästinas in Arbeiter:innenhand mit gleichen Rechten für Alle, unabhängig von ethnischer und religiöser Zugehörigkeit, Geschlecht oder sexueller Orientierung.

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