Mexiko: LehrerInnen als Avantgarde

18.10.2013, Lesezeit 10 Min.
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Seit Monaten erlebt Mexiko eine Welle von Protesten, Demonstrationen, Besetzungen und Streiks von Tausenden von LehrerInnen. Es geht um die sogenannte Bildungsreform, die die derzeitige Regierung von Enrique Peña Nieto (EPN) in Absprache mit den großen Parteien PRI, PAN und PRD im Dezember letzten Jahres eingeführt hat und die im Februar für verfassungskonform erklärt wurde.

Trotz der anhaltenden Repression durch die Regierung, die die kämpfenden LehrerInnen geschlagen, eingesperrt und ermordet hat, und inmitten einer aggressiven Kriminalisierungskampagne durch die Massenmedien, haben die LehrerInnen beschlossen, den Kampf fortzusetzen.

Dazu kam eine massive Bewegung der Solidarität von SchülerInnen, Studierenden, Eltern und sozialen Organisationen, die Streiks und andere Aktionen in Solidarität mit den LehrerInnen organisierten.

Diese Bewegung, die die LehrerInnen anführen, ist aber nicht mehr nur eine Bewegung gegen die sogenannte Bildungsreform, sondern ein Kampf gegen eine autoritäre Regierung, die versucht, der ArbeiterInnenklasse und den unterdrückten Sektoren harte Schläge zuzufügen. Diese Bewegung ist ein Weckruf an alle Unterdrückten in Mexiko und damit eine mögliche neue Etappe des Klassenkampfes in diesem Land.

Die Rückkehr der PRI-Regierung

In Mexiko, im Gegensatz zu anderen lateinamerikanischen Ländern, war die imperialistische “Therapie” der Militärdiktatur nicht notwendig. In Mexiko wurde eine „perfekte Diktatur” im Rahmen einer bürgerlichen Demokratie aufgebaut, die sich wieder und wieder als das beste Ergebnis der mexikanischen Revolution von 1910 verkauft hat, mit einer Partei – der PRI –, die 71 Jahre an der Spitze des Staates war.

Insbesondere die USA konnten auf eine unterwürfige Bourgeoisie zählen, um ihre Interessen durchzusetzen. Das mexikanische Regime hat sich auf der Grundlage staatlicher Repression erhalten und hat es geschafft, die ArbeiterInnen- und Bauern/Bäuerinnenbewegungen und ihre Organisationen seit der Gründung zu steuern.

Im Jahr 2000, nachdem die PRI alle möglichen Manöver versucht hatte (Betrug, Stimmenkauf etc.), musste sie einen demokratischen Übergang mit den anderen beiden Parteien verhandeln, die die Basis des mexikanischen Regimes bilden: die konservative Partei der Nationalen Aktion (PAN) und die Mitte-Links-Partei der Demokratischen Revolution (PRD). Sie musste dies tun, um die Entwicklung von starken Protesten zu verhindern, die dem Regime und der gesamten mexikanischen herrschenden Klasse einen harten Schlag hätte versetzen können. So trat die PRI die Präsidentschaft (nicht jedoch die Kontrolle des Landes) an die PAN ab und kanalisierte dadurch die angesammelte Unzufriedenheit der Massen.

Es gab zwei Wahlperioden, in denen die PAN das Land regierte und in denen sich nichts veränderte. Die zweite Regierungsperiode konnte sie nur durch einen Wahlbetrug erreichen, sowie durch den Beginn eines vermeintlichen Krieges gegen die Drogen, mit dem die Armee auf die Straßen geschickt und das ganze Land militarisiert wurde. So bekam die PAN die Legitimität, die sie nicht durch die Wahlen erreichen konnte, durch die Angst. Der Krieg verursachte den Tod von Zehntausenden von Frauen, Männern, Jugendlichen und Kindern, quasi ein sinnloser BürgerInnenkrieg, in dem die Armen die größten Opfer waren.

In all diesen Jahren war die mexikanische Bourgeoisie so in der Lage, geeignete Regierungen nach ihren Interessen einzurichten und das Rezept neoliberaler Privatisierungen anzuwenden, gegen die es keinen großen Widerstand gab. Aber drei strategische Bereiche erwiesen sich als “unreformierbar”, aufgrund der breiten Ablehnung in der Bevölkerung: die Ölforderung, die Bildung und der Arbeitsmarkt.

Am 1. Dezember kehrte die Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) an die Regierung zurück. Für diese Operation waren Millionen von Dollar für eine Kampagne erforderlich, bei der die großen Kommunikationsmonopole den Sieg garantierten. Und trotz der skandalösen Art, wie sie den Sieg erreicht hatte, konnte die PRI schnell ihre Legitimität auf der Grundlage eines Abkommens mit den beiden anderen Parteien, der PAN und der PRD erreichen, der sich „Pakt für Mexiko“ nennt. Ein echtes Bündnis gegen die arbeitenden MexikanerInnen und die wenigen Errungenschaften der Revolution, die noch bleiben.

In einem Jahr der Regierung von EPN und dem „Pakt für Mexiko“ gelang es, zwei wichtige Reformen durchzusetzen: zum Einen die Veränderung am Arbeitsmarkt (Reformierung des föderalen Arbeitsrechts), die die Flexibilisierung in Gesetzesform gießt, welche die meisten Unternehmen bereits illegal praktizierten, und sie weiter vertieft, so dass noch mehr Vorteile für die UnternehmerInnen auf Kosten der Rechte der ArbeiterInnen entstehen. Eine krasse Reform, die die CTM-Gewerkschaftsbürokratie erst nach ihrer Durchsetzung zu kritisieren begann. Zum Anderen die sogenannte Bildungsreform, die Schritte zur Privatisierung der Bildung in Mexiko geht und die LehrerInnen für den beklagenswerten Zustand verantwortlich macht, in dem sich die Grundbildung seit Jahren befindet. Dabei war diese Situation nur wegen der Vernachlässigung durch die verschiedenen Regierungen möglich, unter denen die einzigen NutznießerInnen von Finanzierungen die VertreterInnen der nationalen und der Provinzregierungen waren, sowie die Gewerkschaftsbürokratie, die eine der größten LehrerInnengewerkschaften in ganz Amerika steuert: die Nationale Gewerkschaft der BildungsarbeiterInnen (SNTE) mit mehr als 1,5 Millionen Mitgliedern.

Im August letzten Jahres legte EPN dem Parlament eine weitere Reform vor, die „Energiereform“, die eine der landesweit wichtigsten Industrien, die Ölforderung, privatisieren soll. PEMEX ist ein Unternehmen, das unter der Regierung von Lazaro Cárdenas im Jahr 1938 verstaatlicht wurde, was eine Errungenschaft der Massen gegen den imperialistischen Einfluss und für die nationale Souveränität bedeutete. Wenn die Reform genehmigt würde, würde dies eine massive Beteiligung ausländischen Kapitals erlauben.

Angesichts dieses neuen Angriffs, der viel Empörung ausgelöst hat, hat sich eine große und sehr heterogene Bewegung entwickelt, die wächst und gegen diese Privatisierungen kämpft.

Der Kampf der BildungsarbeiterInnen

Über das grundlegende mexikanischen Bildungssystem (sechsjährige Grundschule und dreijährige Oberschule) sagt die Regierung, dass sie es für das ganze Land „universal“ gemacht habe. Doch Tatsache ist, dass es immer noch eine beträchtliche Anzahl von Kindern und Jugendlichen im Alter von 5 bis 17 Jahren – fast drei Millionen Menschen – gibt, die nicht zur Schule gehen und zwischen 1 und 2 Prozent der Bevölkerung im Alter von 6 bis 11, die wegen Arbeit oder körperlichen Behinderungen nicht zur Schule gehen können. Zusätzlich müssen wir den beklagenswerten Zustand in Betracht ziehen, in dem die meisten Schulen im Land sind, ohne zu vergessen, dass in vielen Regionen die LehrerInnen in provisorischen Einrichtungen unter wirklich erstaunlichen Bedingungen unterrichten, denn seit Jahren teilt der Staatshaushalt der Bildungsinfrastruktur kein Geld zu.

Ganz abgesehen davon, dass ein Lehrer in Mexiko mit einem der niedrigsten Löhne der qualifizierten Beschäftigungen bezahlt wird (durchschnittlich 8.000 Pesos monatlich, etwa 450 Euro). Um das Bild abzurunden, muss berücksichtigt werden, dass nur zwei von zehn MexikanerInnen nicht als arm gelten oder unter irgendwelchen Mängeln in Bezug auf Wohnraum, Bildung, Gesundheit und soziale Sicherheit leiden, wie ein Bericht betont, der im November letzten Jahres vom „Nationalrat der Bewertung der Politik der sozialen Entwicklung“ (Coneval) veröffentlicht wurde.

Die Bildungsreform von EPN und des „Paktes für Mexiko“, der von mexikanischen Unternehmen konzipiert wurde, präsentieren angeblich eine Lösung dieses Problems. Wie? Sie definieren die LehrerInnen als Ursache und schlagen ein Bewertungssystem vor (ein System von Bedrohung und Einschüchterung mit der Möglichkeit, automatisch entlassen zu werden – ein System, dass ihre Arbeitsbedingungen nicht verbessert und sogar die Möglichkeit beseitigt, sich zu organisieren und zu verteidigen) und führen Gebühren für die Eltern ein.

Diese Reform nennt nicht die Gründe, warum das Bildungssystem so ist. Sie berücksichtigt nicht die Verantwortungslosigkeit, mit der die mexikanische Regierung Maßnahmen ergriffen hat, um ein Problem zu lösen, das seit Jahrzehnten existiert. Verschwiegen wird die Menge an Geld, die sich jede der Regierungen, die für das Sekretariat für Bildung verantwortlich waren, selbst eingesteckt haben. Sie verschweigen das Ausmaß der Korruption in jedem Bundesstaat, wodurch die zugewiesenen Ressourcen nie die Schulen erreichen. Und zusätzlich ignorieren sie die Ausgaben für die Aufrechterhaltung einer der größten Gewerkschaftsbürokratien, die es gibt, um die LehrerInnen unter Kontrolle zu halten.

Angesichts dieser Situation mussten die LehrerInnen, die in der „Nationalen Koordinierung der BildungsarbeiterInnen“ (CNTE) gruppiert sind, auf die Straße gehen, um diese Reform zu stürzen.

Perspektiven des Kampfes

In den letzten Tagen und Wochen hat sich der Kampf der LehrerInnen auf zehn Bundesstaaten ausgeweitet und könnte sich auf zwölf weitere ausdehnen. Die LehrerInnen unterhalten ein permanentes Besetzungscamp in Mexiko-Stadt mit Zehntausenden von LehrerInnen aus verschiedenen Teilen des Landes. Hinzu kam die Zusammenführung mit einer weit verbreiteten Unzufriedenheit mit der aktuellen PRI-Regierung, die zusätzlich zum Versuch, antisoziale Reformen durchzusetzen, die LehrerInnen brutal unterdrückt und kriminalisiert.

Dies hat eine breite gesellschaftliche Reaktion erzeugt, in der sich SchülerInnen, Studierende (wie seit 1999-2000 nicht mehr), Eltern und soziale Organisationen sich dem Kampf anschließen und sich solidarisieren. Selbst reformistische Sektoren, die die Verbindung von Kämpfen vermieden haben, weil sie die CNTE für zu radikal halten, mussten sich gegen die Repression aussprechen, die die Regierung gegen die LehrerInnen veranlasste, wo der bedeutendste Fall die Besetzung des zentralen Platzes von Mexiko-Stadt, des Zócalo, gewesen ist, der am 13. September brutal geräumt wurde, wo neben vielen verletzten LehrerInnenn und Jugendlichen auch dreißig Menschen verhaftet wurden. 

Die linksreformistischen Politiker Andres Manuel Lopez Obrador (AMLO) und Cuauhtemoc Cárdenas wollen den Kampf gegen die Privatisierung von PEMEX führen. Doch diese Beschwerde von wichtigen Persönlichkeiten des mexikanischen Reformismus bedeutet nicht, dass sie wirklich die Vereinigung der Kämpfe schaffen wollen. Jeder fürchtet den kämpferischen Geist der LehrerInnen, denn dessen Verbreitung könnte (wie schon teilweise geschehen) auch andere Sektoren dazu bringen, auf die Straße zu gehen und kein Vertrauen mehr in Institutionen wie das Parlament zu setzen. Nur ein entschlossener Kampf auf den Straßen und ein Generalstreik kann die Reformen von EPN und dem „Pakt für Mexiko“ zu Fall bringen.

Der Kampf der LehrerInnen kann siegreich sein – dafür ist es unabdingbar, allein auf die eigene Kraft und das Bündnis mit der Gesamtheit der Ausgebeuteten und Unterdrückten zu vertrauen. Dazu muss jede Verhandlung einer politisch unabhängigen Strategie untergeordnet werden, die auf der Kraft der Einheitsfront und des Streiks der LehrerInnen basiert, auf der Mobilisierung in den Straßen und dem Aufruf zur Vorbereitung und Durchführung eines landesweiten Generalstreiks gemeinsam mit anderen Sektoren der arbeitenden Massen. In Verbindung damit ist es notwendig, einen vereinten Kampf aufrechtzuerhalten, wodurch die Manöver der Regierung zurückgewiesen werden können, die versucht, die verschiedenen Sektoren getrennt zu Verhandlungen zu bringen, um die Bewegung zu spalten und zu schwächen.

Gleichzeitig müssen die ArbeiterInnen angesichts des Ausmaßes der Offensive des „Paktes für Mexiko“ ihre Kräfte in den Straßen vereinen. Als Avantgarde-Sektor im Kampf gegen die Regierung und das Regime hat die LehrerInnenbewegung die politische Autorität, um von den Gewerkschaftsführungen, die sich oppositionell nennen (z.B. UNT), aktive Solidarität zu fordern und einen landesweiten Streik zu organisieren, nicht nur gegen die Bildungs- und die Arbeitsmarktreformen, sondern auch gegen die Privatisierung von PEMEX.

Mit dieser Perspektive kämpfen unsere GenossInnen von der Liga der ArbeiterInnen für den Sozialismus (LTS) im Innern der CNTE und in den Universitäten und verwirklichen das Bündnis der SchülerInnen und Studierenden mit den LehrerInnen und den anderen ausgebeuteten Sektoren.

Was ist die CNTE?

Warum versucht die Regierung, diese Bewegung mit allen Mitteln zu kriminalisieren? Die Teile der mexikanischen ArbeiterInnenklasse, die in den Gewerkschaften organisiert sind (heute etwa 11%), wurden schnell durch die PRI zentralisiert, kooptiert und der Regierung untergeordnet. Eine Kaste von GewerkschaftbürokratInnen – „Charros“ wie es in Mexiko heißt – hat die ArbeiterInnenklasse unterworfen, die seit den ‘30er Jahren keinen Generalstreik organisierte hat.

Die CNTE wurde 1979 innerhalb der SNTE gegründet und entstand als eine Bewegung gegen die Gewerkschaftsbürokratie, für Demokratisierung und die Rückeroberung der Gewerkschaft. Zunächst existierte sie in fünf mexikanischen Staaten, konnte sich bis heute auf 23 Staaten ausdehnen. Sie mobilisiert etwa 400.000 LehrerInnen. In den 30 Jahren ihres Bestehens gab es viele Versuche, sie aufzulösen. Mehr als 150 ihrer Mitglieder wurden getötet, entführt oder inhaftiert.

Die CNTE ist ein sehr kämpferischer Avantgarde-Sektor innerhalb der mexikanischen ArbeiterInnenklasse, die historische Kämpfe durchgeführt hat. Zum Beispiel im Jahr 2006, als ein echter Aufstand der LehrerInnen, in der “Kommune von Oaxaca”, einen großen Teil der Bevölkerung angeführt und sogar Teile dieses Bundesstaates gegen eine mordende Regierung dominiert hat,. Diese Bewegung konnte nur mit Hilfe der nationalen Regierung und ihrer Armee besiegt werden.

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