Kein Mindestlohn für Geflüchtete?

15.11.2015, Lesezeit 5 Min.
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// REFUGEES: Das deutsche Kapital streitet darüber, ob Geflüchtete gesetzlich vom Arbeitsprozess ausgeschlossen bleiben sollen. Die Arbeiter*innenklasse sollte darauf nur eine Antwort haben: gemeinsame Organisierung. //

Im Münchner Hauptbahnhofviertel ist es ein gewohntes Bild: Tagelöhner*innen suchen auf den nach deutschen Dichtern benannten Straßen nach Arbeit. Viele von ihnen kommen aus den neuen EU-Staaten Rumänien und Bulgarien, einige sind Geflüchtete. Sie werden von der Polizei drangsaliert, zeitweise wurden sie sogar gezwungen, Armbänder zur Markierung zu tragen. Von ihren Bossen werden sie nicht immer bezahlt, eine Versicherung gibt es sowieso nicht. Das Gewerkschaftshaus ist keine 100 Meter von den als „Arbeitsstrich“ bezeichneten Straßen entfernt, wo die nackte Ausbeutung für die vielen Baustellen der Landeshauptstadt Tag für Tag beginnt.

In eben diesem Gewerkschaftshaus forderten 2013 Geflüchtete, die sich als „Non-Citizens“ verstanden, das Recht auf Gewerkschaftsmitgliedschaft. Bisher bundesweit abgelehnt, in Hamburg ausnahmsweise und „symbolisch“ von ver.di praktiziert, bekommt die Mitgliedschaft für Geflüchtete und alle Menschen ohne „reguläre“ Arbeits- und Aufenthaltsverhältnisse jetzt eine besondere Brisanz. Denn die CDU schlägt nun vor, den Mindestlohn teilweise aufzuheben und Geflüchtete offiziell zum Lohndrücken einzusetzen.

Ausschließen oder ausbeuten?

Schon länger interessiert sich ein Teil des deutschen Kapitals dafür, Geflüchtete besonders auszubeuten. So stellte die Deutsche Bahn 2013 im Kolonialstil Geflüchtete für 1,05 Euro die Stunde ein, um Fahrgästen beim Gepäck zu helfen. Was die bürgerliche Empörung über diese rassistische Frechheit ignorierte: Tatsächlich ist es ein riesiges Problem für Geflüchtete, dass sie oft nicht legal arbeiten dürfen. Diese Entrechtung bedeutet für sie eine erzwungene Entfernung von ihrer Klasse der Lohnabhängigen, deren Angehörigkeit ihre einzige potentielle Stärke ist.

Der TV-Ökonom Hans-Werner Sinn redete nicht lang drum herum: „Wir fordern also eine Agenda 2020, die die Idee der Schröderschen Reformen noch einmal aufgreift und verstärkt, um den Arbeitsmarkt flexibel zu machen für Aufnahme der die vielen gering-qualifizierten Menschen, die jetzt kommen.“ [sic] Das deutsche Kapital soll die Chance nutzen und sich schnell eine billige Reservearmee an Arbeiter*innen mit eingeschränkten Rechten zulegen. Der ideale Moment für die Fortsetzung der „Agenda“-Politik, die die Prekarisierung einer Generation von Leiharbeiter*innen und Gemaßregelten bedeutete, ergänzt durch den Lohndruck von entrechteten Tagelöhner*innen aus der EU.

Doch ausgerechnet der Vorsitzende der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung der Union, Carsten Linnemann (CDU), hält dagegen. Er befürchtet eine „Sogwirkung“ auf Arbeiter*innen im Ausland, die sehen, dass sie in Deutschland legal arbeiten dürfen. Dann würden noch mehr „aus wirtschaftlichen Gründen“ – Unionssprech für „unerwünscht“ – nach Deutschland kommen. Der Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) Ulrich Grillo argumentiert genauso: „Wenn jetzt die Stimmung aufkommt, die Flüchtlinge werden bevorzugt, die nehmen uns was weg: Das ist ganz gefährlich.“

Das Kapital ist also noch uneins: Geflüchtete als Mehrwertproduzent*innen zum Sondertarif einsetzen oder die Grenzen auch der Betriebstore geschlossen halten? Welche Antwort auch immer die Regierung mit den Unternehmensverbänden auskartelt, sie wird weder im Interesse von Arbeiter*innen mit noch von denen ohne Pass sein. Unterdessen läuft die chauvinistische Propaganda auf Hochtouren: Viele chronisch unterfinanzierte Kommunen, denen aus Standorterwägungen Geld aus den Umsatzsteuern der Kapitalist*innen fehlt, drohen mit der Schließung von Schul- und Freizeiteinrichtungen, „weil wegen der Flüchtlinge das Geld fehlt“.

Gemeinsame Organisierung

Es ist die Eigenart der Bourgeoisie, dass sie nicht existiert, ohne „die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren“ (Marx). Es ist eine „altehrwürdige“, also reaktionäre, Vorstellung, dass Geflüchtete in erster Linie Schutzbefohlene treuer deutscher Hilfeleistender wären. Die Regierung verteilt und entzieht im Bund mit philantropischen NGOs ein deutsches „Gastrecht“. Allen ist aber bekannt, dass „Gäste sich als Gäste zu verhalten“ haben – so hören wir es seit Jahrzehnten aus den Unionsparteien und längst auch aus der SPD. Also nichts verlangen und wieder gehen – in beiden Fällen hilft die Regierung nach, durch Repression und Abschiebung.

Die altehrwürdige Vorstellung der*des passiven Geflüchteten muss angesichts der Realität und der Pläne des deutschen Kapitals verdampfen. Tatsächlich sind Geflüchtete keine Gäste und keine Bittsteller*innen. Sie sind ein Teil der internationalen Arbeiter*innenklasse, der leben möchte und zwar nicht schlechter als alle anderen. Sie sind handelnde Subjekte, die ihre Arbeitskraft anbieten müssen, um ein menschenwürdiges Leben zu bekommen. Und genau darin liegt ihre Stärke, wenn sie vereint als Arbeiter*innen auftreten, und gewerkschaftlich organisiert beispielsweise höhere Löhne und Arbeitszeitsenkung bei vollem Lohnausgleich für alle – zur Milderung der Konkurrenz untereinander – fordern könnten.

Der gemeinsame Streik gegen Prekarisierung und Abschiebung ist die einzig realistische und konkrete Antwort der Arbeiter*innenklasse auf die Spaltungen, die die deutsche Bourgeoisie jetzt zwischen „Citizens“ und „Non-Citizens“ treibt. Denn der „Pass im Kopf“ deutscher Gewerkschaftsbürokrat*innen nützt nur den Ausbeuter*innen.

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