Hungerunruhen und Wirtschaftskrise im Libanon

01.07.2021, Lesezeit 7 Min.
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Bild: Karim naamani, Shutterstock.com

In der Stadt Tripoli, im Norden des Landes, entlud sich in den vergangen Wochen die Wut über die Verschlechterung der Lebensbedingungen seit 2019, während das Land in eine wirtschaftliche und soziale Krise stürzt.

Das Land der Zedern war in der Vergangenheit ein Beispiel für wirtschaftliche Stabilität und Wachstum, es wurde früher die „Schweiz des Nahen Ostens“ genannt. Doch der Bürger:innenkrieg, der 1990 endete, erschütterte dieses Bild, und in den letzten zwei Jahren haben politische Instabilität und eine soziale und wirtschaftliche Krise das kleine Land in eine Zeitbombe verwandelt.

Am Dienstag erhöhte die libanesische Regierung die Treibstoffpreise und setzt damit ihre Ankündigung von vergangener Woche um, die Subventionen zu kürzen. Die Maßnahme soll die Treibstoffknappheit im ganzen Land lindern, trifft aber direkt die ärmsten Konsument:innen, da sie sich auf die Stromerzeugung und die Preise aller Grundgüter auswirkt. Der Libanon ist ein Land, das im Dunkeln lebt. In manchen Vierteln gibt es nicht mehr als 3 Stunden Strom pro Tag, im ganzen Land sind es durchschnittlich 6 Stunden.

In den letzten Wochen wurde in der nördlichen Stadt Tripoli gegen diese Lebensbedingungen demonstriert, wo auch Lebensmittel und Medikamente knapp sind. Die Regierung musste die Armee schicken, um die Proteste zu unterdrücken, die öffentliche Gebäude und Banken stürmten. An diesem Mittwoch sind Tausende auf die Straße gegangen, um sich der Repression entgegenzustellen und die libanesischen Truppen zurückzudrängen, woraus sich eine echte soziale Revolte entwickelt hat. Die Demonstrierenden, die es satt haben, unter einer galoppierenden Inflation von über 150 Prozent zu leben, wichen nicht einmal vor Schüssen mit scharfer Munition zurück.

In Vierteln wie al-Tal demonstrierten bewaffnete Jugendliche mit Schüssen in die Luft. Sie forderten auch die Schließung der Banken und Geschäfte aus Protest gegen die sich verschlechternden Lebensbedingungen. In den Vierteln Tabbaneh und Al-Barani kam es ebenfalls zu bewaffneten Demonstrationen und Protesten mit viel Empörung aufgrund von Treibstoffmangel, Stromsperren und unverschämten Preisen.

Diese Gegenden zählen zu den ärmsten des Landes. Hier brach die Empörung in der Bevölkerung aus, nachdem ein Kind infolge von Stromausfällen gestorben war. Seinem Sauerstoffgerät fehlte die Energieversorgung. Außerdem verschieben einige Krankenhäuser Operationen, um lebenswichtige medizinische Hilfsmittel, wie z. B. Narkosemittel, zu sparen.

Auch in der Hauptstadt Beirut und in Großstädten wie Sidon kam es in den letzten Tagen zu starken Protesten wegen des Treibstoffmangels an den Tankstellen, wo sich die sogenannten „Schlangen der Schande“ bildeten. Demonstrierende blockierten Straßen, indem sie Reifen und Müll verbrannten und Barrikaden errichteten. Bei den Zusammenstößen zwischen Polizei und Demonstrierenden wurden allein in Tripoli fast 20 Menschen verletzt. Für den Bürgermeister der Stadt ist „die Situation außer Kontrolle geraten“.

Um die Wogen zu glätten, hat das libanesische Parlament am Mittwoch eine Bargeldunterstützung für Familien mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten beschlossen. Die Maßnahme wird 556 Millionen Dollar pro Jahr kosten. Jede Familie, die für das Programm in Frage kommt, würde laut Reuters etwa 93 US-Dollar pro Monat erhalten. Die Devisenknappheit im Land kündigt jedoch keine nachhaltige Maßnahme an.

Eine wachsende organische Krise

Der Libanon befindet sich in einer Situation der organischen Krise, deren Startpunkt wir im Aufstand im Jahr 2019 setzen können. Seitdem sind mehrere Minister gestürzt und es ist ihnen noch nicht gelungen, im Parlament eine Regierung zu bilden. Die Weltbank stufte die Wirtschaftskrise des Landes im Juni als eine der schwersten und schlimmsten Krisen seit Mitte des neunzehnten Jahrhunderts ein. Sie kritisierte das Versagen des Staates bei der Milderung der Situation seit dem Ausbruch der ersten Krise. Derselbe Bericht stellte fest, dass das Bruttoinlandsprodukt des Landes von 55 Mrd. US-Dollar im Jahr 2018 auf nur noch 33 Mrd. US-Dollar im Jahr 2020 geschrumpft ist, wobei das BIP pro Kopf um rund 40 % gesunken ist.

Das libanesische Pfund schießt in die Höhe. Für jeden Dollar müssen die Libanes:innen zwischen 17.000 und 18.000 Pfund auf dem Schwarzmarkt bezahlen. Gleichzeitig hält die Zentralbank Dollar zurück, um eine Krise der Reserven zu vermeiden. Dies betrifft Tausende von Familien, die von den Überweisungen leben, die Millionen von Arbeiter:innen aus dem Ausland schicken, insbesondere aus Frankreich.

Die extreme Armut hat sich seit 2019 verdreifacht, als die Wirtschaft auf einen Abgrund zusteuerte. Für viele Haushalte sind grundlegende Dienstleistungen wie Gesundheit, Strom, Wasser, Internet und Bildung fast unerreichbar. Aber das hat wenig Einfluss auf die Politiker:innen, die versuchen, ein System der Vetternwirtschaft zu schützen, das entlang konfessioneller Linien verläuft. Dies hat die Regierungsführung untergraben, die seit dem Bürger:innenkrieg 1975-1991 in den Händen der führenden Familien und Politiker:innen lag. Die allgemeine Empörung gilt der starken Korruption, die in der ethnisch-religiösen Klientelwirtschaft an der Tagesordnung ist.

Zu den Hauptquellen der Korruption gehören die Verträge des Libanon, die sich auf Kraftstoffimporte, Stromerzeugung, Telekommunikation, Biometrie und Pässe beziehen. Eines der Geschäfte von mit der Regierung verbundenen Kapitalist:innen besteht zum Beispiel darin, Treibstoff und Medikamente auf Schiffen zu lagern, um die Gewinnspanne zu erhöhen und sie zu höheren Preisen in Syrien zu verkaufen.

Diese Situation hat das Land in aufeinanderfolgende offene politische Krisen hineingezogen. Die Explosion eines Lagerhauses im Jahr 2020, das fast 3.000 Tonnen Ammoniumnitrat enthielt – eine Chemikalie, die manchmal zur Herstellung von Sprengstoff verwendet wird – war kein schwarzer Schwan, der vor den Augen der politischen Elite des Libanon explodierte, sondern war Teil einer Reihe von ungelösten Krisen im Land. Angesichts der Katastrophe trat der damalige Premierminister Hassan Diab von seinem Amt zurück, und seit August 2020 wurde im Land keine Regierung mehr gebildet.

Im Libanon wird der Strom für lange Zeitspannen abgeschaltet, manchmal mehr als 21 Stunden am Tag, zusätzlich zu den Rationierungen, die von den Besitzer:innen der Generatoren in der Nachbarschaft aufgrund des Treibstoffmangels auferlegt werden und die Arbeit in Krankenhäusern und anderen Einrichtungen unterbrechen.

Diese Krisen gehen einher mit einem Anstieg der Arbeitslosenquote, Inflation, Unterbrechungen in der Lieferung einer großen Anzahl von Medikamenten und einem Anstieg der Preise für Lebensmittel, die größtenteils importiert werden, was zu einer Beschleunigung der Ausbreitung der Armut in großem Umfang geführt hat. Nach Angaben der Vereinten Nationen lebt heute die Hälfte der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze.

Darüber hinaus könnte der finanzielle Zusammenbruch die Finanzierung der Armee untergraben, ein grundlegendes Instrument, das die verschiedenen Fraktionen des Landes seit dem Taif-Abkommen, das die nationale Wiedervereinigung ermöglichte, zusammengehalten hat. In diesem Zusammenhang haben mehrere hochrangige Armeekommandeure davor gewarnt, dass die Situation zu Instabilität führt.

All diese Elemente zeigen, dass sich im Libanon eine organische Krise entwickelt, die schwer zu lösen ist. Die Proteste nehmen zu. Am 17. Juni letzten Jahres nahmen Tausende libanesischer Arbeiter:innen an einem von Gewerkschaften ausgerufenen Generalstreik teil, der die Wirtschaft des Landes lahmlegte, Antworten auf die Situation forderte und die politische Kaste bloßstellte. Während die Regierung versucht, die Proteste mit Almosen zum Schweigen zu bringen, zeigen die regionalen Aufstände ein Bild davon, was in den kommenden Tagen passieren könnte, wenn die Massen mehr als Krümel fordern. Wie ein Aktivist der Zukunftsbewegung, der in Tripoli lebende Mustapha Alloush, es ausdrückte: „Was gerade passiert, ist erst der Anfang.“

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