Feministischer Widerstand in Südasien Teil I: Die Why Loiter?- Bewegung in Indien

21.02.2020, Lesezeit 15 Min.
Gastbeitrag

"Loitering" bedeutet soviel wie "Herumlungern". In Indien ist das Recht auf öffentliches Herumlungern weitgehend Männern vorbehalten. Die Initiative "Why Loiter?" will den öffentlichen Raum auch Frauen zugänglich machen. Erster Teil einer Serie über feministischen Widerstand in Südasien.

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Bild: WhyLoiter

Am 28. November 2019 erzeugte die Gruppenvergewaltigung und Ermordung einer 27-jährigen Tierärztin in der Nähe von Hyderabad großes mediales Aufsehen und löste Proteste in Neu Delhi, Hyderabad und Bangalore aus. 2017 wurden 32.500 Vergewaltigungsfälle von der indischen Polizei registriert, was durchschnittlich etwa 90 Vergewaltigungen pro Tag in ausmacht. Die Dunkelziffer liegt vermutlich viel höher. Statistiken zu sexualisierter Gewalt von queeren Menschen sind nicht leicht zu finden und zeigt wie wenig ihre Leben wertgeschätzt werden.

Diese Artikelserie hat den Zweck, Frauen und queere Menschen nicht als passive Opfer von sexualisierter Gewalt zu behandeln, sondern aufzuzeigen, wie feministischer Widerstand in Indien aussieht. Eine dieser feministischen Bewegungen, die im ersten Teil dieser Artikelserie als Einstieg vorgestellt werden soll, ist „Why loiter?“

In den Großstädten Indiens, Mumbai, Delhi und Bangalore sieht man Männer, die lachen, bummeln, warten, reden und Spaß haben. Sie bewegen sich frei auf der Straße, gehen zu Teehäusern oder zu Imbissbuden ohne jegliche Probleme. Frauen hingegen, die in der Stadt unterwegs sind, sehen oft unglaublich beschäftigt aus. Sie sind vermeintlich in Telefonartgespräche verwickelt, haben es sehr eilig und gehen direkt von Ort A zu Ort B. Frauen befinden sich in der Öffentlichkeit nur in Transit, so Shreena Thakore in ihrem Ted Talk „Why is she here?“:

Letzte Woche war ich also die einzige weibliche Einzelperson in einem Bus von Chennai nach Thritshi. Alle anderen Passagiere waren Männer oder ganz sichtbar die Frauen von Männern. Ich ging auf meinen reservierten Platz zu, in der vorletzten Reihe, am linken Fenster und traf auf einen leicht aufgeregten, sehr verwirrten Busfahrer, der mich anhält und sagt: „Mam´, Sie können hier nicht sitzen, Mam´, Sie sind eine Single-Lady. Bitte gehen Sie im Bus nach vorne.“ Ich gehe, achtzig Augen beobachten mich, vierzig Menschen flüstern lautstark: „Warum ist sie hier?“ Warum ist sie hier – die Frage, die schweigend an jede Frau im öffentlichen Raum gestellt wird.

Shreena Thokra stellt drei Fragen vor, die jede Frau in der Öffentlichkeit implizit und explizit durch ihr Auftreten, ihre Körpersprache und die Kleidung beantwortet.

1. Uhrzeit/Ort: Um welche Uhrzeit und wo hält sich diese Frau auf?
2. Begleitung/Gesellschaft: In welcher Gesellschaft befindet sich diese Frau?
3. Auftreten/Kleidung: Was hat diese Frau an?

Jede Frau ist in der Öffentlichkeit damit beschäftigt, diese Fragen zufriedenstellend zu beantworten. Sie muss demonstrativ ihren Gehorsam zeigen, ihre Akzeptanz und Einverständnis mit den sozialen Normen. Was könnte passieren, wenn eine Frau diese drei Fragen nicht korrekt beantwortet und Ungehorsam zeigt?

In Delhi 2012 wurde die 23-jährige Studentin Nirbhaya von sechs Männern brutal vergewaltigt und gefoltert. Sie starb an ihren schweren inneren Verletzungen. Dies löste in vielen Städten Indiens mehrtägige Proteste aus sowie nationale und internationale Debatten um die Sicherheit der Frau. Was ist hier genau passiert? Beantwortet man die oben aufgeführten drei Fragen bezüglich des Falles Jyoti Singh, so sind die Antworten für die indische Gesellschaft nicht zufriedenstellend beantwortet worden. 1. Sie war zu spät an einem öffentlichen Ort unterwegs. 2. Sie war mit einem Mann unterwegs, mit dem sie nicht verheiratet ist und der kein Familienmitglied ist. 3. Sie war nicht angemessen für eine Frau gekleidet. Die Täter rechtfertigten ihre Tat, sie wollten ihr „eine Lektion erteilen“, da sie sich sozialen Normen und Geschlechterrollen demonstrativ widersetzt habe.

Bereits lange vor diesem Fall haben sich zahlreiche Aktionen und Bewegungen von Frauen und Queers gegen die patriarchalen Normen und Geschlechterrollen herausgebildet, deren Ziel es ist, einen Wandel in der Mentalität und den Diskursen sowie in der materiellen Lebensrealität von Frauen und Queers in der indischen Gesellschaft herbeizurufen.

Why Loiter?

Die Frage Why Loiter? ist erstmalig in dem im Jahre 2009 erschienen Essay „Why loiter? Radical possibilities for gendered dissent“ von Shilpa Phadke, Shilpa Ranade und Sameera Khan zu finden, drei Jahre vor dem Delhi Gang Rape. Zentrale Aufforderung des Essays ist es, dass Frauen durch zweckfreies Bummeln und Herumlungern im öffentlichen Raum ihre Sichtbarkeit und Rechte als Bürger*innen einfordern. Jede Frau soll dabei das Recht haben, Risiken eingehen zu dürfen. Zwei Jahre später erschien die dreijährige Forschung „Why Loiter? – Women And Risk On Mumbai Streets“ (2011) des Gender und Space Project, das 14 verschiedene Bezirke in Mumbai untersucht. Diese Lektüre führt aus, dass Männer sich unbeirrt in der Stadt aufhalten können und Spaß haben, während dieses Recht den Frauen genommen wird. Denn es gelte allgemein in der Gesellschaft, dass eine Frau, die sich herumtreibt, eben keine anständige Frau sei. Entweder sei sie verrückt, moralisch verdorben oder gefährlich für die Gesellschaft. Laut dem Buch wird schon jungen Mädchen beigebracht, dass ihr Aufenthalt in der Öffentlichkeit stets an einem konkreten Zweck gebunden sein sollte und streng von einem Punkt A zum Punkt B verlaufen muss – zur eigenen Sicherheit. Doch die indische Gesellschaft entscheidet sich nicht dafür, öffentliche Räume sicherer für junge Frauen zu machen, sondern sie sperrt diese stattdessen ein: zu Hause, in der Schule, im Internat oder bei einer Freundin. Einer der Wege, wie eine Frau die Stadt beanspruchen kann, ist der von Why Loiter? vorgeschlagene Akt des Herumlungerns in der Stadt, durch „Loitering“. So wird Why Loiter? von vielen jungen Frauen in Indien als Manifest und Aufforderung zur Handlung betrachtet und geht multimedial in Sozialen Netzwerken wie Twitter, Instagram oder Facebook um. Sie veröffentlichen provokante Fotos, Reportagen, Dokumentarfilme1 oder Videos, bei denen sie einfach nur herumlungern.

Why Loiter? gehört weiteren feministischen- und Frauenbewegungen an. Es gibt eine Vielzahl feministischer Proteste, Kampagnen und Social Media Aktivismus mit ähnlichen Forderungen für indische Queers und Frauen in der Post-Liberalisierung Indiens. Beispielsweise Pinjra Tod (Break the Cage), ein autonomes Frauenkollektiv in Delhi, die gegen Restriktionen in Student*innenwohnheimen für Studentinnen kämpfen, Blank Noise in Bangalore, ein Kunstprojekt initiiert von Jasmeen Patheja im Jahr 2003, das gegen sexualisierte Gewalt ankämpft, die Comicbuchserie Priya Shakti, die Menschenhandel und sexuelle Ausbeutung thematisiert, die Kampagne #RapeIsRape, die von Transmenschen initiiert wurde usw. Diese einzelnen Projekte und Kampagnen sind (queer)feministisch, kämpfen gegen stereotypische Geschlechterrollen und teilen ein allgemeines Gefühl von ungerechter Behandlung.

Ausschluss vom Recht auf Stadt

Why Loiter? sieht den Aspekt der Mobilität von Frauen im öffentlichen Raum als sehr zentral an. Mobilität bedeutet Bewegung von Menschen, Daten und Informationen, Waren, Kapital und Ressourcen zwischen unterschiedlichen Orten und zu verschiedenen Ausmaßen. Ungleiche Mobilität bedeutet alternative, umständliche Zugänge zu sozialen Praktiken, (sozialen) Infrastrukturen und/oder öffentlichem Raum. Ungleiche Mobilität ist ein Produkt einer Hierarchie von „Rasse“, Klasse, Geschlecht und Sexualität. Zum Beispiel sind öffentliche Räume so konstruiert, dass einige problemlos Anschluss finden und andere ausgeschlossen werden. Geschlechterrollen beeinflussen den öffentlichen Raum. Schaut man sich eine traditionelle indische Familie an, so erkennt man, dass es oft Männer sind, die sich außerhalb des Hauses aufhalten. Mit ihrer (Lohn)arbeit außer Hauses sind sie die Brotverdiener der Familie. Die Ehefrauen hingegen sind an den Haushalt gebunden. Diese beschriebenen Geschlechterrollen sind sehr stereotypisch, doch real vor allem in der Stadtarchitektur zu finden und schaffen somit geschlechtlich differenzierte Räume. Öffentliche Orte in der Stadt, oder generell das „Draußen“ werden als ein männlicher Raum betrachtet, während das „Drinnen“, das Heim oder das Private Räume sind, die Frauen zugeschrieben werden. So sind Frauen in der Öffentlichkeit ausgeschlossen, ihnen wird das Recht auf Stadt abgesprochen.

Die unausgedrückte Befürchtung

Die benannte dreijährige Forschung konzentriert sich auf die Global City Mumbai in der Hoffnung, dass ihre Botschaft so leichter in anderen indischen und weltweiten Städten Resonanz findet und bemüht sich, die aktuelle Relevanz des Feminismus aufzuzeigen. Feminismus in Indien wird mit dem Fehlen von Spaß und Genuss gleichgesetzt: Hass auf Männer, Zurückweisung von Schönheitsidealen, gegen die Familie eingestellt sein. Diese negativen Stereotypen werden in dem Manifest Why Loiter? nicht unterstützt. Das Manifest betont deswegen, dass die Forderung nach Spaß und das Eingehen von Risiken dafür feministische Akte mit radikalen Folgen sind. Das Manifest will zeigen, wie relevant feministische Politik ist im Hinblick auf eine inklusive Staatsbürger*innenschaft, beziehungsweise demokratische Rechte, die allen Menschen in Indien de facto und nicht nur auf dem Papier zustehen müssten.

Phadke erklärt in ihrem Ted Talk „Why Loiter?“, dass die allgemeine Besorgnis in der indischen Gesellschaft die Gewalt gegen Frauen durch fremde Männer an öffentlichen Orten sei. Statistiken würden aber zeigen, dass eine Frau im eigenen Haushalt deutlich mehr sexualisierte Gewalt von Familienmitgliedern oder Bekannten erfahre als im öffentlichen Raum, worüber allerdings nicht gesprochen werde. Dies ist ein globales Phänomen aller heutiger patriarchal-kapitalistischer Gesellschaften und nicht nur in Indien der Fall. Frauen werden in der indischen Tradition oft an fremde Männer verheiratet. Die eigentliche unausgedrückte Befürchtung liege daher laut dem Manifest darin, dass Frauen mit den falschen Männern außerhalb der Ehe oder sogar mit Frauen Beziehungen führen könnten. Es handelt sich um Männer, die muslimisch sind (bei Hindu Frauen), um Männer, die in einer niedrigeren Klasse oder Kaste sind, beziehungsweise alle Männer, die der Familie nicht würdig oder respektabel erscheinen. Letztendlich geht es also um die Angst, dass Frauen „falsche Männer“ auf der Straße kennenlernen könnten. Um solche Situationen zu vermeiden, werden vermeintliche Lösungen und Rhetoriken angeboten, die die Machtstrukturen und Hierarchien zwischen den Geschlechtern verstärken: „Zieh keinen kurzen Rock an, sonst wirst du vergewaltigt.“; „Gehe nicht so spät raus, sonst wirst du vergewaltigt.“ Diese vermeintlichen Sicherheitsmaßnahmen verstärken nur die Machtstrukturen der existierenden Geschlechterrollen und schaffen zusätzlich neue kulturelle Parameter, aus denen mehr Restriktionen und Hürden für die Präsenz von Frauen in der Öffentlichkeit folgen. Dies wiederum hat zur Konsequenz, dass neue Rechtfertigungen geschaffen werden, sollten Frauen diese vermeintlichen Sicherheitsmaßnahmen missachten. Diese Einschränkungen der räumlichen Mobilität sind strukturelle Gewalt und werden als Sicherheit, Fürsorge oder Liebe verkauft.

Recht auf Risiko

Sicherheit ist vermeintlich nur für bestimmte Frauen vorgesehen, für respektable Frauen, die es wert sind, beschützt zu werden. Weil der Zugang zu öffentlichen Orten bei Frauen immer zufriedenstellend begründet sein muss, sei es laut Why Loiter? nicht die Sicherheit, die Frauen benötigen, um in der Stadt sein zu können, sondern das Recht auf Risiko, das heißt Risiken eingehen zu dürfen. „Sicherheit“ sperrt die Frau ein, doch das Recht auf Risiko befähigt die Frau, sich in der Stadt zu bewegen. Frauen können freiwillig entscheiden, ob sie öffentliche Orte betreten möchten mit dem Bewusstsein, dass sie Gewalt von Fremden erfahren könnten. Allerdings sollten Frauen nun nicht mit dem Recht auf Risiko alleine gelassen werden, sodass sie es auf das tatsächliche Eintreten all dieser Risiken ankommen lassen müssen.

Der patriarchale und hegemoniale Begriff von „Sicherheit“ ist offensichtlich nicht erstrebenswert. Es muss kritisiert werden, dass „das Recht auf Risiko“ kein Zweck in sich selbst ist. Die tatsächliche Sicherheit für Frauen und Queers ist eine legitime Forderung, das bedeutet beispielsweise das Recht auf körperliche und seelische Unversehrtheit.

Why Loiter? fordert, dass Stadtplanung auch Frauen berücksichtigen muss, und Infrastruktur so konzipiert wird, dass Frauen sich wohler und sicherer fühlen. Dazu gehört die Art und Menge des Lichtes der Straßenlaternen oder bessere öffentliche Transportmittel für Frauen; Busse, Züge, öffentliche Toiletten rund um die Uhr. Diese Veränderungen würden das Stadtleben komplett verändern.

Loitering

„Sicherheit“ für Frauen beruht auf Exklusion von den „Anderen“ in der Stadt. Diese anderen sind Sexarbeiter*innen, Männer niedriger Klasse oder Kaste, Drogendealende, Zuhälter etc. Das Recht auf Stadt sollte deshalb nicht nur für vermeintlich respektablere Menschen aus der Bourgeoisie gelten, sondern für alle Menschen aus der arbeitenden Klasse und den armen Massen, auch für diejenigen, die möglicherweise frauenfeindlich sein könnten. Why Loiter? zeichnet eine Vision von der Stadt, in der alle Menschen in ihrer Verschiedenheit existieren können. Für gewöhnlich fühlt man sich in Menschenmengen sicherer, denn man ist nicht alleine. Wenn also vielen verschiedenen Menschen der Zugang zur Stadt gewährt wird, so ist dies sicherer für Frauen.

„Loitering“, der Akt des Herumlungerns impliziert, sinnloses unproduktives Abhängen oder Bummeln in der Stadt. Durch dieses rebellische Nichtstun in der Stadt und die Sichtbarmachung der Existenz von Frauen, werden öffentliche Orte beansprucht, und das Recht auf Stadt ausgeübt. Des Weiteren wird durch Loitering gegen bestehende stereotypische Geschlechterrollen angekämpft und diese neu definiert. Frauen erobern also öffentliche Orte mit ihren demonstrierenden Körpern. Die Stadt kann nur für sich beansprucht werden, indem Menschen physisch in ihr anwesend sind. Bei Why Loiter? geht es nicht nur um Recht auf Stadt und die Einforderung demokratischer Rechte, sondern auch um das Recht, Spaß zu haben.

Kritik

Der Akt des Loiterings ist auf einer gewissen Weise antikapitalistisch. Das aktive Nichtstun, sich gegen Produktivität und Profit zu wehren ist ebenso ein Versuch aus dem kapitalistischen patriarchalen System auszubrechen. Denn es sind „kapitalistische Wege des Profits oder Produktivität“, also beispielsweise der Arbeitsweg oder der Schulweg, die legitime Wege und Motive für Frauen und Queers sind, sich in der Öffentlichkeit aufhalten zu dürfen.

Der Fokus bei Why Loiter? liegt jedoch vor allem auf jungen cis-Frauen, idealerweise Hindu, ohne physische und seelische Beeinträchtigung und aus der Mittelschicht. Realitäten von beispielsweise muslimischen queeren Menschen, Menschen aus niedriger Klasse und Kaste, oder Arbeiter*innen werden gar nicht behandelt und rücken somit in den Hintergrund. Queere Menschen werden im Manifest gar nicht erwähnt. Why Loiter? basiert auf einer binären Ordnung der Geschlechter in Mann und Frau. Wenn sie von Frauen sprechen, dann ist tatsächlich auch die binäre Konstruktion von Frau gemeint. Männer werden als die alleinige Bedrohung einer Frau betrachtet. Doch queere Menschen können ebenso Opfer oder Täter sexualisierter Gewalt sein. Urvashi Butalia erklärt, dass Queers und Transfrauen essentiell für den Feminismus in Indien sind. Denn es sind queere Menschen, die brutal marginalisiert sind, denen ihre Existenz vollkommen abgesprochen wird und die tagtäglich Repressionen erleiden müssen.

Das Recht auf Risiko scheint ein unvollständige Forderung zu sein, denn das Recht, Risiken eingehen zu dürfen, ist Mittel zum Zweck. Es ist so, als ob man in dieser Situation, Risiken ständig einzugehen, stecken bleibt und nicht mehr herauskommt. Doch ändert dies tatsächlich etwas an den patriarchalen Strukturen der indischen Gesellschaft? Der eigentliche Zweck ist der Kampf gegen die patriarchale Gesellschaft. Die Stadt mit demonstrierenden Körpern einzunehmen, ist eine sehr wichtige Protestform, doch sie alleine ist nicht ausreichend.
Das Problem ist die patriarchale Mentalität oder Konvention, die geändert werden muss. Hinter diesen patriarchalen Konventionen oder Mentalitäten liegt eine materielle Realität.

Wie Why Loiter? dies schon thematisiert, müssen die Infrastrukturen und öffentliche Sicherheitsvorkehrungen frauenfreundlich sein. Sie müsse ebenso queerfreundlich sein. Das heißt Architekt*innen, Stadtplaner*innen stehen in dieser Verantwortung und müssen queere Menschen und Frauen in ihrer Stadtplanung mitbedenken.

Realistisch gesehen wird sich dieses Problem nicht schnell lösen, sondern es bedarf sicherlich einen langen sehr notwendigen Kampf in Form von Streiks, Proteste und so weiter, zudem den (Um)bau der Stadtarchitektur für den die indische Bürokratie jahrelang brauchen kann.
Indien hat als abhängig gehaltenes Land, das konstant weiter vom Imperialismus ausgebeutet wird, viele grundlegende Probleme, wie mangelndes Müllrecycling, Luftverschmutzung, schwaches Gesundheitssystem, Korruption und weitere. Es gibt viele Gesetze im indischen Justizsystem, aber die Anwendung der Gesetze in der Realität sieht anders aus. Es fehlt hier an Infrastruktur und Überwachung dieser Gesetze. In der aktuellen Situation Indiens ist es nicht realistisch, dass die materielle Realität der Sicherheit der Frau und queere Menschen sich so leicht ändern wird.

„Loitering“ bietet in dieser Situation eine etwas abstrakte und „schnelle“ Protestform, die jederzeit und überall funktionieren kann. Diese Protestform kann ebenso eigenständig von queeren Menschen angeeignet werden. Sie ist jedoch, wie oben erwähnt neben ihrem Fokus auf die Hindu Mittelschicht Frau und ebenso wegen ihrer Abstraktheit unvollständig.

Sicherheit für Frauen und Queers ist von vielem Materiellem abhängig, wie bereits gesagt die Stadtarchitektur, aber auch Lebensqualitäten wie Bildung und Gesundheit, gleiches Einkommen für alle Geschlechter, bessere Arbeitsbedingungen – etwas abstrakter gesehen – die im indischen patriarchalen System, die ökonomische Unabhängigkeit von Frauen und queeren Menschen beeinflusst. Bedeutet mehr Unabhängigkeit von Frauen und Queers mehr Sicherheit? Unabhängigkeit und Sicherheit von Frauen und Queers hängt sicherlich zusammen, aber ist zu trennen. Denn jede Frau und queere Menschen können – platt ausgedrückt – vergewaltigt werden, egal was deren Einkommen, Bildung oder ihre Arbeitsbedingungen sind. Patriarchale Konventionen liegen nicht nur einer materiellen Realität zugrunde, sondern ebenso nicht fassbare, allgemeingültig gewordene Denkmuster.

Einer der wichtigsten Aspekte der Sicherheit für Frauen und queere Menschen, ist der grundlegende Respekt und Akzeptanz für sie. Wie kann „Respekt“ materiell irgendwo verankert sein? Es gibt in Zügen in Indien getrennte Bereiche oder Abteile nur für Frauen. Bedeutet diese physische Trennung von Mann und Frauen und queere Menschen, Respekt in der materiellen Realität? Eine Trennung zwischen allen Geschlechtern ist keine Gewährung von Respekt, sondern vielmehr eine vorläufige Vorbeugung – eine sogenannte Sicherheitsvorkehrung – denn was passiert außerhalb, sobald die Geschlechter nicht mehr getrennt sind? Es gibt keine Garantie. Sicherheitsvorkehrungen sind wichtig, doch es ist der grundlegende Respekt für Frauen und queere Menschen, der Bestandteil und Garantie für die Sicherheit ist. Wie kann sich dieser Respekt in der materiellen Realität und in den Köpfen der Menschen manifestieren?

 

Fußnoten (Auwahl von Dokumentarfilmen):

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