Der Tag des Bodens: Der palästinensische Widerstandstag

30.03.2024, Lesezeit 8 Min.
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Foto: Anas Mohamed/Shutterstock.com

Am 30. März 1976 protestierten Palästinenser:innen mit israelischer Staatsangehörigkeit gegen die massive Landnahme des israelischen Staates. Seitdem ist der Tag ein Symbol des nationalen Widerstands und der Verbundenheit zu Land und Boden.

Die Geschichte Palästinas ist geprägt von der Verbundenheit der palästinensischen Bevölkerung zu ihrem Land. 1947/48 wurden nicht nur 750.000 Menschen aus ihren Dörfern und Städten von zionistischen Truppen wie der Haganah vertrieben, sondern auch 80 Prozent des Landes unter die Kontrolle des entstehenden israelischen Staates gebracht, um das zionistische Projekt auch wirtschaftlich abzusichern. Nach dem Sechstagekrieg im Juni 1967 besetzte Israel auch die restlichen palästinensischen Gebiete im Westjordanland, Gaza und die syrischen Golanhöhen. Palästinenser:innen die nach 1948 Teil des israelischen Staates wurden, standen bis 1966 unter Militärrecht und leben bis heute als diskriminierte Minderheit im israelischen Apartheidstaat. Die Bevölkerung Palästinas, außerhalb der großen Städte, lebte hauptsächlich von Landwirtschaft. Sie optimierten den Anbau von Oliven, Zitronen, Orangen und vielen anderen Gütern über Jahrhunderte. Dies war schon immer ein Dorn im Auge des zionistischen Besatzungsregimes, weil es deutlich macht, dass es eine tiefe Verbindung zwischen Land und Leuten gibt, die bei den europäischen Siedler:innen erst künstlich hergestellt werden musste. In diesem Zuge wurde beispielsweise fruchtbares Land bewaldet, um den hochentwickelten Terrassenanbau zu verstecken. 

Im März 1976 enteignete die israelische Regierung unter Premierminister und Friedensnobelpreisträger Yitzhak Rabin 21.000 Hektar Land von der palästinensischen Bevölkerung in Galiläa. Selbsternanntes Ziel war eine „Judaisierung“ des Landes. Jüdische Siedlungen sollten ausgebaut und industrielle Projekte umgesetzt werden. Als die Regierung von geplanten Protesten hörte, setzte sie eine Ausgangssperre ab dem 29. März, 17 Uhr an. Daraufhin riefen unter anderem der Bürgermeister von Nazareth und die Kommunistische Partei zum Generalstreik auf. 

Am 30. März 1976 kam es dann zum Streik. Die Schulen waren geschlossen und die Schüler:innen protestierten gemeinsam mit Arbeiter:innen und Pensionierten gegen die Landnahme. Mein Vater war einer von ihnen. Als 18-Jähriger im Abiturjahrgang ging er auf die Straße in seinem Heimatort Qalansawe. Er war als Jugendlicher keine Ausnahme. Wie viele andere Palästinenser:innen in dieser Zeit schloss er sich sehr früh der Kommunistischen Partei an. Er verteilte Flugblätter, ging auf Demonstrationen und las James Baldwin. Wenn ich ihn nach den Ereignissen des 30. März frage, antwortet er sehr zaghaft. Die Polizei drang in das Dorf ein und wendete Gewalt gegen die Protestierenden an, die maximal mit Steinen bewaffnet waren. Mein Vater findet ein Versteck und kommt unbeschadet davon. In Sakhnin, im Norden Palästinas, tötet die israelische Polizei allerdings sechs Menschen. In einem der größten Polizeieinsätze des Staates mit etwa 4000 Kräften wurden Hundert verletzt und Hunderte verhaftet. Auch im Westjordanland, dem Gazastreifen und palästinensischen Flüchtlingslagern im Libanon kommt es zu solidarischen Protesten.

Seitdem ist der 30. März ein Tag des Widerstands, der Solidarität und der Einheit des palästinensischen Volkes und wird jedes Jahr durch Demonstrationen und Protestaktionen in Palästina und auf der ganzen Welt begangen. 

30. März 2018 – The Great March of Return

Einer der wichtigsten Tag des Bodens – Gedenktage in der neueren palästinensischen Geschichte ist der 30. März 2018. Etwa 100.000 Palästinenser:innen in Gaza versammelten sich in der Nähe des Grenzzaunes. Das israelische Militär tötete ab 9 Uhr morgens 18 Menschen, darunter auch Kinder, ältere Menschen und Menschen mit Behinderung im Alter zwischen zwei und 72 Jahren und verletzte tausende. Sie kamen, um ihr Recht auf Rückkehr in ihre Heimatstädte einzufordern. Dazu muss man wissen, dass etwa 80 Prozent der Bevölkerung in Gaza aus anderen Gebieten in Palästina vertrieben wurden. Im Zuge der Nakba 1948 wurde ein Großteil aus den umliegenden Ortschaften wie Majdal Asqalan, dem heutigen Ashkelon, vertrieben. Ein anderer Teil wurde 1967 in den nun besetzten Gazastreifen getrieben. Auch danach gab es immer wieder ethnische Säuberungen, die zum Bevölkerungszuwachs im dicht besiedelten Gazastreifen geführt haben. Die Proteste, die durch den Social Media Post des Dichters Ahmed Abu Artema ausgelöst wurden, hielten über bis zum 27. Dezember 2019 an. Jeden Freitag trafen sich Menschen am Grenzzaun. Insgesamt wurden mehr als 200 von ihnen von der Besatzungsarmee umgebracht, mehr als 36.000 verletzt. Videos der Militäreinsätze zeigen wie Scharfschützen feiernd und lachend auf weitentfernte Palästinenser:innen schießen und eine Art Spiel daraus machen — etwas, das wir seit dem Völkermord in Gaza nahezu täglich bestätigt sehen. Viele Protestierende sind für ihr Leben gezeichnet, da die Scharfschützen besonders oft die unteren Gliedmaßen ins Visier nehmen. Eine zynische Antwort auf den „Marsch“. Am 14.05.2018 kam es zu einer größeren Eskalation, als die Protestierenden in Gaza dem Nakba-Tag und der massenhaften Vertreibungen im Jahr 1948 gedenken wollten und gleichzeitig unter US-Präsident Trump die amerikanische Botschaft in Jerusalem eingeweiht wurde. An diesem Tag tötete die israelische Armee mehr als 30 Palästinenser:innen. 

Haq al ‚Awda – Das Recht auf Rückkehr

Das Recht auf Rückkehr ist eines der zentralen Forderungen im palästinensischen Befreiungskampf. Es betrifft Menschen, die heute in Gaza, dem Westjordanland oder Ostjerusalem leben genauso wie sogenannte 1948 Palästinenser:innen, die im heutigen israelischen Staatsgebiet leben und alle, die im Exil leben. Der ursprüngliche Tag des Bodens zeigt uns, dass auch die palästinensische Bevölkerung im Kernland Israel nicht frei ist. Viele wurden innerhalb des Gebietes vertrieben. Ländereien wurden enteignet, jüdische Siedlungen wurden gezielt um palästinensische Städte gebaut, um eine Ausdehnung und Entfaltung zu verhindern. Gesetze machen das Leben für palästinensische Bürger:innen Israels unnötig schwer und die territoriale Trennung der Gebiete an sich stellt ein Verbrechen am palästinensischen Volk dar. Familien, Freundschaften, Religions- und Kulturgemeinschaften werden durch die Apartheidpolitik des israelischen Staates vorsätzlich getrennt. Im Westjordanland lebt ein großer Teil der Bevölkerung außerdem durch innere Grenzen und Checkpoints, abgetrennt von ihren Ländereien. Die Osloer Verträge teilen das palästinensische Autonomiegebiet in drei Einheiten A, B und C. Oft befinden sich die Äcker im Gebiet C, das komplett durch die israelische Besatzungsarmee kontrolliert wird, während die Menschen im Gebiet A leben. Israel verwendet ein altes Gesetz aus dem osmanischen Reich, deutet es für seine Zwecke um, und enteignet dadurch die palästinensische Bevölkerung, da sie das Land nicht bestellen dürfen und es somit nach fünf Jahren in israelisch kontrolliertes Gebiet übergeht. Im Norden Palästinas, wo der Tag des Bodens seinen Ursprung fand, verbietet der israelische Staat wiederum das Sammeln von wildwachsenden Kräutern wie Za’atar und Akoub. Eine jahrhundertealte Tradition, die vielleicht mit dem Sammeln von Pilzen in ländlichen Regionen Deutschlands vergleichbar ist. Ziel ist nicht nur die bewusste Attacke gegen diesen Teil der palästinensischen Kultur, sondern auch eine klassische Form des kolonialen Kapitalismus. Diese Kräuter werden von israelischen Firmen kultiviert und industriell vermarktet, wie der diese Woche auf Palestine Film Institute verfügbare Film „Foragers“ (2022) anschaulich zeigt. 

Was können wir daraus lernen und wie geht es weiter?

Die israelische Propaganda versucht uns weiszumachen, dass der palästinensische Befreiungskampf im Kern religiös motiviert ist. Der Tag des Bodens zeigt aber gerade den antikolonialen und antikapitalistischen Charakter des palästinensischen Befreiungskampfes und die Verbundenheit der Palästinenser:innen untereinander und zu ihrem Land. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass sich dieser Kampftag nun seit fast 50 Jahren etabliert hat. Erst vor ein paar Tagen hat die israelische Regierung bekanntgegeben, dass sie mehr als 800 Hektar Land aus dem Westjordanland geraubt hat.

Auch dieses Jahr werden auf der ganzen Welt wieder Demonstrationen unter dem Motto des „Tag des Bodens“ stattfinden. „Palästina spricht“ ruft am 30. März zu einer Demonstration in München auf und auch in Berlin-Gesundbrunnen und Münster wird dazu aufgerufen. Natürlich dienen alle Proteste dieser Tage dazu, schnellstmöglich den Völkermord in Gaza zu beenden, aber gleichzeitig müssen wir weiterdenken. „Forensic Architecture“ hat sich den Tag des Bodens zum Anlass genommen und am 29. März eine neue Untersuchung veröffentlicht, die die systematische Zerstörung der Agrarflächen im Gazastreifen zeigt. Laut der Recherche hat die IDF seit dem 7. Oktober mehr als 40 Prozent davon vernichtet. „Forensic Architecture“ spricht in diesem Zusammenhang von einem Ökozid. 

Es ist an der Zeit Palästina zu dekolonisieren und einen sozialistischen Arbeiter:innenstaat aufzubauen, der endlich Gerechtigkeit für die Millionen vertriebenen Palästinser:innen bietet und wortwörtlich das Land vom Kapitalismus befreit. 

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