Der Sudan versinkt im Chaos

27.04.2023, Lesezeit 10 Min.
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Demonstration in Washington 2019 in Solidarität mit den Protesten im Sudan. Foto: Phil Pasquini / Shutterstock.com

Seit dem 15. April wird von heftigen Kämpfen berichtet, die in den Straßen der sudanesischen Hauptstadt Khartum Hunderte von Toten und Tausende von Verletzten gefordert haben. Zwischen zwei militärischen Fraktionen ist ein Konflikt um die Macht im Land entbrannt, dessen Folgen ungewiss sind.

Der Sudan ist erneut zu einem Schauplatz unkontrollierter Gewalt geworden, die die Stabilität Nordafrikas insgesamt stört. Das De-facto-Regime, das von den sudanesischen Streitkräften (SAF) unter der Führung von General Abdel Fattah al-Burhan kontrolliert wird, befindet sich nach dem Aufstand der paramilitärischen Gruppe Rapid Support Forces (RSF) unter der Führung des Generals und Geschäftsmanns Mohamed Hamdan Dagalo, genannt Hemedti, in seiner schwersten Krise. Der Anführer des Aufstands führt eine Privatarmee von rund 100.000 Soldat:innen an und hat die Kontrolle über Schlüsselpositionen in der Hauptstadt Khartum erlangt. Die beiden Generäle waren beim Militärputsch von 2021 Verbündete, doch in letzter Zeit verschärften sich die Spannungen zwischen ihnen.

Die Kämpfe begannen am 15. April. Hunderte von Videos in den sozialen Medien zeigen Zusammenstöße auf den Straßen und Tiefflieger, die den Boden beschießen oder verschiedene Teile der Stadt bombardieren, darunter auch den internationalen Flughafen. Nach Angaben des Generaldirektors der Weltgesundheitsorganisation der Vereinten Nationen, Tedros Ghebreyesus, gibt es derzeit mindestens 350 Tote und mehr als 3.200 Verletzte. Hinzu kommt eine unbestimmte Zahl von Vertriebenen, die bei einer Ausweitung des Konflikts in die Hunderttausende gehen könnte. Aufgrund der Verschlechterung der lebenswichtigen Infrastruktur sind etwa 70 Prozent der Krankenhäuser in der Nähe der Konfliktgebiete außer Betrieb, und neun von ihnen wurden nach Angaben der sudanesischen Ärztevereinigung bombardiert.

Diese Zusammenstöße kommen nicht aus heiterem Himmel. Die derzeitige Situation könnte, wenn sie weiter eskaliert, den Sudan in einen Bürger:innenkrieg stürzen und auf die Nachbarländer in der Region übergreifen. In den folgenden Zeilen werden wir versuchen, die Vorgänge im Sudan ausgehend von seinen strukturellen und historischen Problemen eingehend zu verstehen.

Die historischen Wurzeln der Kämpfe

Der Sudan hat in den letzten Jahrzehnten schwere politische Turbulenzen erlebt, darunter einen langwierigen Bürger:innenkrieg (1983-2005), der seine territoriale Integrität mit der Unabhängigkeit vom Südsudan im Jahr 2011 in zwei Hälften teilte. Hier ebenfalls zu nennen ist ein Mobilisierungsprozess, der 2019 die 30-jährige autokratische Herrschaft von Omar al-Bashir beendete. Dieser Prozess ähnelte durchaus dem arabischen Frühlung, der 2011 die autokratischen Regime in Ägypten, Libyen und Tunesien stürzte und langwierige Bürgerkriege in Jemen und Syrien auslöste. Seit seiner Unabhängigkeit vom Vereinigten Königreich im Jahr 1956 hat der Sudan in den Jahren 1958, 1969, 1985, 1989, 2019 und 2021 Putsche erlebt, wobei al-Bashirs drei Jahrzehnte dauernde Herrschaft die längste war.

Das Regime von al-Bashir orientierte sich an Militärregierungen in arabischen Ländern (Ägypten, Libyen, Syrien, Irak u. a.), und nach dem Sturz des Regimes blieb die mit dem Militär verbundene Machtstruktur erhalten.

Interne Streitigkeiten zwischen dem Militär und den Überresten der alten Geheimpolizei, den institutionalisierten paramilitärischen Banden und den Stammesführern – die im Regime von Al Bashir einen untergeordneten Platz einnahmen – blieben latent, solange die RSF im Umfeld der Regierung bliebt. Diese paramilitärischen Milizen rekrutieren sich aus kamelhütende Stammesgruppen, den Janjaweed (übersetzt „bewaffnete Reiter“). Ihr Anführer Mohamed Hamdan Dagalo, alias Hemedti, unterstützte zunächst den Regimewechsel und dann die De-facto-Regierung von Abdel-Fattah Burhan (2021), indem er den Einfluss und die Autonomie seiner Organisation innerhalb des Staates ausbaute. Burhan und Dagalo haben bei der Zerschlagung der Massenmobilisierung und der demokratischen Erwartungen, die die Diktatur 2019 zu Fall brachten, zusammengearbeitet. Heute streiten sie sich um die Errichtung eines neuen autokratischen Regimes, das ihre lukrativen Geschäfte aufrechterhalten wird. Der aktuelle Machtkampf zwischen diesen beiden Generälen hat seine Wurzeln in diesem Ereignis, aber sie haben keine großen Differenzen darüber, welches Regime den Sudan regieren soll.

Die al-Burhan-Fraktion der Armee wurde beauftragt, den Diktator 2019 formell abzusetzen, um die Massen zu besänftigen und die Privilegien des Militärs aufrecht zu erhalten. Die Proteste wurden ein Jahr lang von Komitees aus Arbeiter:innen, Student:innen und Fachleuten organisiert. Die Anführer:innen der Proteste unter dem Dach der Parteifront „Kräfte für Freiheit und Wandel“ (FLC) gaben bei mehreren zentralen Forderungen nach. So wurde ein Übergangsabkommen mit dem Militär erzielt, das die Einsetzung einer gewählten Regierung unter der „Vormundschaft“ der Militärführung vorsieht, die einen erheblichen Anteil an der Macht behält.

Zwischen 2019 und 2021 blieb ein Teil der Übergangsregierung in militärischer und ein Teil in ziviler Hand, obwohl in der Praxis die wesentlichen Hebel der Macht von der Armee kontrolliert wurden. Reformen, die der ehemalige zivile Premierminister Abdalla Hamdok anstrebte, wurden systematisch von General al-Burham blockiert, der sein Engagement für den „demokratischen Übergang“ zunehmend in Frage stellte. Währenddessen erwiesen  sich die liberalen Parteien als unfähig, die Forderungen der Demonstrant:innen umzusetzen, die das Regime von al-Bashir gestürzt hatten. Entscheidend war, dass die Armee das Monopol auf Waffen, strategische Geschäfte und die Entscheidungen in der internationalen Politik behielt.

Die enttäuschten Erwartungen an den Übergangsprozess, die Unterordnung der liberalen Parteien unter die von der Armee vorgegebene Agenda und die Schwäche der Selbstorganisation der Bevölkerung, die 2019 auf die Straße ging, schwächten die Grundlagen der Bewegung. Der Putsch von 2021 vereinte die SAF und die RSF, um die Massenbewegung zu zerschlagen, in der sich Hunderttausende Sudanes:innen mobilisierten und eine rein zivile Regierung forderten, die sich um Widerstandskomitees herum organisiert. Der Druck der Bevölkerung, der sich angesichts der sich seit dem Staatsstreich verschlechternden wirtschaftlichen Lage (400 Prozent Inflation und 20 Millionen Hungernde) aufbaute, erzwang im Dezember 2022 ein neues Abkommen, mit dem eine schwache „Übergangsregierung“ eingesetzt wurde, die bis Ende 2023 Wahlen abhalten sollte.

Dieses Abkommen wurde von den USA zur Unterstützung von Burhan und der FLC gefördert, aber andere Sektoren lehnten es aus verschiedenen Gründen ab. Die RSF lehnt grundsätzlich jeden Übergang zu einer demokratischen Regierung ab. Einige lokale Führer:innen, die bewaffnete Gruppen kontrollieren, sind dagegen, weil sie nicht in den politischen Prozess einbezogen wurden, obwohl sie ihre Stärke durch die Blockade der wichtigsten sudanesischen Häfen im Osten des Landes demonstriert haben, über die 90 Prozent des Außenhandels abgewickelt werden. Einige Gewerkschaften, wie die Sudan Professionals Association (die seit Beginn der Proteste eine Schlüsselrolle spielt), fordern ebenfalls unnachgiebig strukturelle Veränderungen, um die Grundlagen des alten Regimes zu zerstören. Nach einer ersten gescheiterten Erfahrung halten die Widerstandskomitees an drei roten Linien fest: keine Verhandlungen mit dem Militär, keine Machtteilung mit dem Militär und keine Legitimierung des Militärs.

Sowohl die SAF als auch die Janjaweed, die die RSF bilden, sind zwar zerstritten, scheinen aber nicht bereit zu sein, eine der Forderungen der Komitees zu akzeptieren. Beide streben die Bildung eines autokratischen Regimes an. Bislang haben sie seit 2019 ungestraft Hunderte von Demonstrant:innen getötet, in der Vergangenheit haben sie abscheuliche Verbrechen begangen, wie den 2003 in der Region Darfur verübten Völkermord, der 300.000 Menschenleben forderte. Heute stehen sie sich gegenüber, aber für beide Gruppen hat die endgültige Zerschlagung der Massenmobilisierung als notwendige Voraussetzung für die Errichtung eines neuen Regimes Priorität.

Die große militärische Kluft

Die Differenzen zwischen den Fraktionen verzögerten den „Übergang“ auf unbestimmte Zeit. Die RSF weigerte sich, in die Armee einzutreten, weil Hemedti die Grundlage seiner Macht und seiner Privilegien, die auf der Autonomie der Miliz beruhten, nicht verlieren will. Obwohl Hemedti und die RSF nie den Anspruch erhoben haben, Teil der Zentralregierung zu sein, haben sie während des al-Bashir-Regimes und seit dem letzten Staatsstreich im Jahr 2021 enorme Macht erlangt. Andererseits vertreten sie auch unterschiedliche wirtschaftliche Interessen und internationale Allianzen, was darauf hindeuten könnte, dass sie unterschiedliche Visionen vom Regime haben.

Burhan kontrolliert als Chef der SAF einen großen militärisch-industriellen Komplex und unterhält enge internationale Beziehungen zu den USA (die eine Blockade gegen al-Bashir aufrechterhielten und ihn beschuldigten, dem „internationalen Terrorismus“ Unterschlupf zu gewähren). Zudem möchte er „Frieden“ mit dem israelischen Staat. Unterstützt wird er auch von Ägypten (mit dem er eine Verbindung unterhält, um das Wachstum Äthiopiens zu bremsen) und von einflussreichen islamischen Führern im Land. In diesem Sinne wird er wahrscheinlich eine Art Legitimation durch Wahlen anstreben, wie es al-Sisi in Ägypten tut.

Hemedti kontrolliert die Goldminen in der Region Darfur (neben dem Öl der wichtigste Bodenschatz des Sudan) sowie verschiedene Unternehmen, darunter für Eisen, Stahl und Transport. Zu seinen Verbündeten gehören Libyens General Haftar, die Vereinigten Arabischen Emirate und Saudi-Arabien, die Hauptabnehmer des geschmuggelten Goldes aus Darfur, denen er RSF-Truppen für den Krieg im Jemen zur Verfügung stellte. Diese Verbindungen lassen vermuten, dass ihre Vorstellungen von Staatlichkeit denen der Golfmonarchien ähneln.

Jeder von ihnen betreibt eine parallele Außenpolitik und hält seine eigenen hochrangigen Treffen mit regionalen und internationalen Regierungen ab, die Interessen im Land haben, darunter: Die Vereinigten Staaten (als treibende Kraft hinter den Übergangsregelungen), Russland (das einen Hafenstützpunkt am Roten Meer bauen wird) und der Staat Israel (Burhan würde den Frieden im Rahmen des bekannten Abraham-Abkommens unterzeichnen). Andererseits ist der Sudan Teil der von China vorangetriebenen Neuen Seidenstraße und hat über die China Harbour Corporation Ausschreibungen für den Bau von Containerterminals gewonnen.

Bislang wurden die Waffenstillstandsverhandlungen von keiner der beiden Seiten eingehalten, und die Kämpfe gehen weiter. Auf internationaler Ebene wächst die Sorge, dass der Konflikt, wenn er zu einem Bürgerkrieg eskaliert, auf mehrere afrikanische Länder übergreifen könnte, was eine Art von Intervention der Nachbarländer begünstigen und das Ausmaß des Konflikts vergrößern würde. Kurzfristig musste Ägypten Truppen evakuieren, die mit seinen Verbündeten trainierten und von der RSF auf dem Flughafen Merowe nördlich von Khartum gefangen genommen wurden. Zudem wurden RSF-Flaggen im Tschad gesichtet, von wo aus sie schnell Soldat:innen aus den Schwesterstämmen des Landes rekrutieren können.

Ein langwieriger Konflikt zwischen der SAF und der RSF könnte den Sudan und sogar die Nachbarländer in ein noch nie dagewesenes Chaos stürzen und jede Aussicht auf einen Strukturwandel zunichte machen, den die Demonstrant:innen, die das al-Bashir-Regime gestürzt haben, anstrebten. Aber so wie sie sich seitdem immer wieder erhoben haben, könnte der Gewinner der Auseinandersetzungen zwischen den militärischen Fraktionen erneut auf seinen schlimmsten Feind auf der Straße treffen: die Proteste der Bevölkerung.

Dieser Artikel erschien zuerst im Spanischen auf La Izquierda Diario.

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