Der Aufstieg der revolutionären Linken in Argentinien

30.03.2017, Lesezeit 10 Min.
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Während die Rechten weltweit vorandringen und sich der Neoreformismus ausbreitet, wächst eine neue revolutionäre Linke in Argentinien heran.

Die Nacht brach ein über das Atlanta-Stadion in Buenos Aires am 19. November. Als „Die Internationale“ aus den Lautsprechern tönte, standen mehr als 20.000 Menschen bei der Kundgebung der trotzkistischen „Front der Linken und der Arbeiter*innen“ (FIT) auf – die Fäuste erhoben –, um die internationale Hymne der Arbeiter*innen mit einer vereinten Stimme erklingen zu lassen.

Unter ihnen befanden sich Frauen, die mit dem Slogan #NiUnaMenos an jüngsten landesweiten Aktionen gegen sexualisierte Gewalt teilgenommen hatten; Arbeiter*innen, die gegen Massenentlassungen und Gehaltskürzungen protestieren oder besetzte Fabriken unter ihrer eigenen Kontrolle betreiben; und Student*innen und Lehrer*innen aus dem ganzen Land. Das Event fand nicht als Unterstützung einer Wahlkampagne oder als Antwort auf ein bestimmtes politisches Ereignis statt, sondern als ein bewusster Schritt hin zum Aufbau einer revolutionären politischen Alternative.

Diese Kundgebung fand nur einige Tage nach der Wahl Trumps in den Vereinigten Staaten statt, und nachdem die Niederlage der postneoliberalen Regierungen den Vorstoß der Rechten in Lateinamerika mit sich gebracht hat – einschließlich des „institutionellen Putsches“ in Brasilien und der Wahl von Mauricio Macri in Argentinien. Sie war ein massives Zeichen der Stärke einer antikapitalistischen Kraft, welche die Macht der Arbeiter*innen und ihre Selbstorganisation vorantreibt. Wie war dieser Erfolg möglich?

Die Arbeiter*innenklasse an einem Scheideweg

Nach dem Ausbruch der Wirtschaftskrise 2001, welche zum Sturz des damaligen Präsidenten De la Rúa führte, und als Antwort auf weit verbreiteten Protest, unterlief Argentinien mehr als ein Jahrzehnt postneoliberaler Politik unter den Kirchners. Teil ihrer Politik war eine Zunahme von Sozialausgaben, die auf die Beschwichtigung von sozialen Unruhen abzielte. Doch sie konnte keine echten und langfristigen Lösungen für die Arbeiter*innenklasse anbieten. Gleichzeitig wurden Milliarden an Steuergeldern in die Bezahlung von Auslandsschulden und in Subventionen an private Firmen, geleitet von Kumpan*innen der Regierung, gepumpt.

Ende 2015 wurde dieser Kreislauf unterbrochen, als landesweite Wahlen der rechten Partei PRO zur Macht verhalfen. Ihr Wahlkampf basierte auf der Forderung nach einem Ende der Korruption. Heute – unter der Herrschaft von Präsident Macri – geht die Regierung den Interessen von nationalem und internationalem Kapital vermutlich unverblümter nach, als es jedwede andere Regierung in den letzten Jahren getan hat. Eine der ersten Regelungen, die die Regierung nach ihrem Antritt durchsetzte, war eine Währungsabwertung, die zu einem radikalen Anstieg der Inflation führte. Das hatte wiederum drastische Auswirkungen auf den Lebensstandard der Armen und der Arbeiter*innenklasse. Massenentlassungen in öffentlichen und privaten Sektoren folgten, sowie dramatische Erhöhungen der Preise für öffentliche Verkehrsmittel und grundlegende Versorgungsleistungen. Währenddessen steckte die Regierung Millionen in die Bezahlung von „Geierfonds“ und begann einen neuen Zyklus von Auslandsschulden.

Im Angesicht dieser Politik hat die peronistische Partei (Frente para la Victoria, „Front für den Sieg“) – geleitet von Cristina Kirchner – nicht nur keine starke Opposition zu der regierenden Partei aufbauen können, sondern die Partei führte in den Provinzen, die sie selbst regiert, sogar ihre eigene Sparpolitik ein. Im Kongress befürwortete sie die brutalsten Gesetzesentwürfe, die die PRO vorschlug, zusammen mit dem Rest der rivalisierenden kapitalistischen Parteien. In diesem Szenario tritt die FIT, welche die Unabhängigkeit der Arbeiter*innenklasse mit einer antikapitalistischen Perspektive vorantreibt, in den Augen einer immer größeren Menge von Arbeiter*innen als die einzige Alternative zu dieser Kürzungspolitik hervor.

Der Kampf um eine unabhängige Arbeiter*innenbewegung

Seit den 1940ern war die bürgerliche, populistische peronistische Partei die stärkste politische Kraft unter Arbeiter*innen und Gewerkschaften in Argentinien. Das verdankte sie vor allem dem Monopol, welches sie über ausgedehnte Zeiträume hinweg über Ressourcen der Regierung genoss. Dennoch hat eine revolutionäre sozialistische Politik in den letzten 15 Jahren in großen Teilen der Arbeiter*innenklasse Fuß gefasst, trotz der Erstarkung der peronistischen Partei während der Kirchner-Jahre. Seit der Krise 2001 sind viele Fabriken und Betriebe besetzt worden, von denen manche nun unter der Kontrolle von Arbeiter*innen verbleiben. Arbeiter*innenkomitees in den Betrieben schossen empor, um sich demokratisch zu organisieren und die Gewerkschaftsbürokratie zu bekämpfen.

Heute, wo die Arbeiter*innen massiven Gehaltskürzungen und Entlassungen gegenüberstehen und eine wachsende Kriminalisierung von Protesten sich Bahn bricht, gewinnt der Kampf um die Zurückeroberung der Gewerkschaften aus den Händen der Bürokratie zunehmend an Dringlichkeit. Trotz der Welle an Angriffen auf die Arbeiter*innenklasse hat die CGT (General Confederation of Labor – die größte Arbeiter*innenföderation im Land) lange Zeit nicht zu einem einzigen Streik aufgerufen, während die CTA (Argentinische Arbeiter*innen Zentral-Union) nur isolierte Demonstrationen und Streiks organisierte. [Inzwischen hat es im März erste größere Streiks gegeben, A.d.Ü.] Dass die CTA nicht mobilisiert hat, liegt an ihrer kirchnerischen Oppositionspolitik zu Macri, die eine Strategie der Klassenversöhnung verfolgt. Die FIT forderte, dass die Gewerkschaftszentralen zu einem aktiven Generalstreik gegen die Sparpolitik der Regierung aufrufen sollen, bei dem Tausende von Arbeiter*innen aus dem ganzen Land mobilisiert werden, als Teil eines progressiven Aktionsplanes, der auf die Abschaffung der Anti-Arbeiter*innen-Gesetze der Regierung abzielt.

Der Kampf gegen die Gewerkschaftsbürokratie ist ein praktischer Weg, durch den Mitglieder der FIT das Vertrauen und die Unterstützung ihrer Kolleg*innen in Betrieben in ganz Argentinien gewonnen haben. Einige wichtige Kämpfe überschritten die Zäune der Fabriken und wurden zu Leuchtfeuern des Kampfes und des Widerstands, wie zum Beispiel die Druckerei MadyGraf und die Keramikfabrik Zanon, welche beide unter Kontrolle von Arbeiter*innen stehen und ihre Produktion an den Bedürfnissen der Gesellschaft ausrichten.

Aufbau einer revolutionären politischen Alternative

Eine der bemerkenswertesten Eigenschaften der FIT ist ihre Fähigkeit, die Organisation und Kämpfe der Arbeiter*innen mit einer revolutionären Politik zu verbinden. Die Koalition beinhaltet drei trotzkistische politische Kräfte: die PTS (Partido de los Trabajadores Socialistas, Partei der sozialistischen Arbeiter*innen), PO (Partido Obrero, Arbeiter*innen-Partei), and IS (Izquierda Socialista, Sozialistische Linke). Diese drei Organisationen sind vereint unter einem Programm, das die Unabhängigkeit der Arbeiter*innenklasse in ihrem Ringen für eine sozialistische Arbeiter*innenregierung betont. Durch ihre gesamte Geschichte hinweg ergriff die FIT Maßnahmen zur Wiederherstellung der Verbindung zwischen der revolutionären Linken und der Arbeiter*innenklasse, wies dabei Mitte-Links-Alternativen der Unterwerfung unter kapitalistische Parteien zurück, und hielt Abstand von „nationalistischen“ oder „progressiven“ Regierungen Lateinamerikas, welche trotz Spannungen zu imperialistischen Mächten kapitalistische Vermögensbeziehungen aufrecht erhielten.

In den letzten Jahren erzielte die FIT außerdem wachsende Wahlerfolge: Sie sammelte in den Präsidentschaftswahlen im letzten Jahr 3,27 Prozent der Stimmen (eine höhere Prozentzahl als sowohl Gary Johnson als auch Jill Stein in den US-Wahlen diesen Jahres) unter dem Leitspruch „Der Kapitalismus kann nicht weitergehen!” Die Koalition hat ebenfalls vier Sitze im Nationalkongress und Dutzende Vertreter*innen in Stadträten.

Myriam Bregman, eine der Repräsentantinnen der FIT im Kongress, war eine der Redner*innen bei der gewaltigen Kundgebung am 19. November. Sie betonte die Bedeutung des kürzlichen Aufstiegs der Kämpfe der Frauen in der ganzen Welt, darunter machtvolle Aktionen der argentinischen Frauenbewegung: Märsche und Arbeitsniederlegungen gegen sexualisierte Gewalt unter dem Banner von #NiUnaMenos und die riesige Nationale Frauen-Konferenz letzten Oktober. Bregman forderte die Regierung auf, Maßnahmen für den Schutz von Frauen vor sexualisierte Gewalt zu treffen, Abtreibungen zu legalisieren und gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit durchzusetzen. Sie betonte die Notwendigkeit einer Stärkung des Kampfes um Frauenrechte durch die Einrichtung von Frauenkomitees an jedem Arbeitsplatz und die Organisierung von großen Demonstrationen für den Tag gegen Gewalt an Frauen am 25. November und die Gay Pride Demonstration.

Ein weiterer Redner im Atlanta-Stadion war Claudio Dellecarbonara, ein Anführer der U-Bahn-Arbeiter*innen-Gewerkschaft in Buenos Aires. Er hob die Notwendigkeit des Kampfes gegen die Gewerkschaftsbürokratie und ihre Ersetzung durch vom Staat unabhängige demokratische Arbeiter*innenkomitees hervor. Bezug nehmend auf seine Rolle als Arbeiter*innen-Anführer proklamierte er: „Ich kam her, um als revolutionärer sozialistischer Anführer zu sprechen. Gewerkschaften dürfen nicht Selbstzweck bleiben. Sie müssen ein Mittel sein, Arbeiter*innen zu organisieren, um die Kapitalist*innen und ihre Regierungen zu besiegen.“

Die Schlussrede wurde von Nicolás del Caño vorgetragen, einem ehemaligen Präsidentschaftskandidaten der Front der Linken und der Arbeiter*innen. Er forderte andere politische Kräfte auf, sich der FIT anzuschließen – basierend auf ihrem revolutionären Programm –, um die Koalition als politische Alternative zu stärken. Del Caño verurteilte ebenfalls den Aufstieg Trumps in den Vereinigten Staaten und erklärte: „Unser Kampf besteht nicht nur darin, dem nationalen Kapitalismus ein Ende zu bereiten, sondern den Imperialismus in der gesamten Welt zu beenden.“

Für eine sozialistische Lösung der Krise

Angesichts der aktuellen internationalen Wirtschaftskrise erwiesen sich die traditionellen Parteien in verschiedenen Teilen der Welt als unfähig, überhaupt tatsächliche Lösungen für die Probleme der Arbeiter*innenklasse zu bieten. Die alte Sozialdemokratie in Europa zahlt den Preis für das vorbehaltslose Annehmen des Neoliberalismus. Verfechter des freien Marktes stehen wachsendem Widerstand gegenüber. In Lateinamerika befinden sich postneoliberale Regierungen im Rückgang, da ihnen die nötigen Ressourcen zur Aufrechterhaltung der populistischen Politik fehlten, die sie während ihres Aufstiegs in den 2000er Jahren aufgestellt hatten.

Gegenüber dem Vordringen des Rechtsaußen-Spektrums in den Vereinigten Staaten und Europa nehmen die Widerstandsbewegungen verschiedene Formen an. Diejenigen, die an bürgerliche politische Parteien geknüpft sind, haben ihre Grenzen offenbart – keine wirkliche Alternative für die Arbeiter*innenklasse kann aus der Unterordnung der Bedürfnisse der Menschen unter die Bedürfnisse von bürgerlichen politischen Strukturen entstehen. Reformistische Parteien wie Syriza und Podemos in Europa zeigten ihre Bereitschaft, ihr Programm im Tausch für den kurzfristigen Zugang zu Machtpositionen aufzugeben. In diesem Kontext schlägt die revolutionäre Linke, die in Argentinien an Boden gewinnt, ein klares antikapitalistisches Programm für die Machtübernahme der Arbeiter*innen vor, und zeigt, dass sie in dem Kampf für den Sozialismus einen langen Atem hat.

Dieser Artikel erschien ursprünglich am 25. Februar 2017 bei Left Voice.

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