Aus den Archiven des Marxismus: Eine sozialistische Kritik am Zionismus

23.12.2023, Lesezeit 30 Min.
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David Grün (vorn, Dritter von rechts), der spätere Staatsgründer Israels Ben-Gurion, war Mitglied von Poale Zion, hier 1905 in Płońsk, Kongresspolen. Bild: Government Press Office (Israel), CC BY-SA 3.0 DEED

Jüdische Marxist:innen lehnten den Zionismus stets ab. 1906 veröffentlichte ein führendes Mitglied des „Bundes“ diese Kritik in der Neuen Zeit, der theoretischen Zeitschrift der deutschen Sozialdemokratie.

Oft wird behauptet, dass Zionismus und Judentum identisch seien: Seit Jahrtausenden sei es der selbstverständliche Wunsch der jüdischen Massen, nach Jerusalem zurückzukehren. Dabei wird ausgeblendet, dass der Zionismus eine recht neue politische Strömung ist – ein Produkt der Zeit des bürgerlichen Nationalismus und des Kolonialismus. Das programmatische Manifest von Theodor Herzl erschien erst 1896. Zu dem Zeitpunkt hatte es bereits seit 20 Jahren jüdische sozialistische Gruppen in London und anderen Städten gegeben. Und schon lange bevor irgendjemand an die Kolonisation Palästinas dachte, hatten jüdische Revolutionär:innen für den Sozialismus gekämpft.

Der Zionismus war weit davon entfernt, die hegemoniale Kraft innerhalb der jüdischen Bevölkerung Europas zu sein. In den größten jüdischen Gemeinschaften, im Ansiedlungsrayon im Westen des Zarenreiches, fühlten sich deutlich mehr jüdische Menschen zum Sozialismus hingezogen. Die wichtigste Organisation des jüdischen Proletariats war der Allgemeine jüdische Arbeiterbund in Litauen, Polen und Russland, kurz „Bund“. Dem zionistischen Programm der Auswanderung setzte der Bund ein Programm des Klassenkampfes und der „doikayt“, also des Hier-Seins, entgegen.

Herzls Zionismus war bürgerlich. Der Gründer des Zionismus suchte Verbündete bei den antisemitischen Ministern des Zars, die furchtbare Pogrome veranstalteten — schließlich hatte man ein gemeinsames Interesse daran, dass Jüd:innen das Zarenreich verlassen und so von revolutionären Organisationen ferngehalten werden. Der Aufschwung des Klassenkampfes im Zarenreich und die Radikalisierung der jüdischen Arbeiter:innen führte dazu, dass der Sozialismus mächtiger wurden und sich vielfältige Mischformen von Sozialismus und Zionismus herausbildeten. Der „Sozialistische Zionismus“ wurde von Ber Borochov ins Leben gerufen, und seine wichtigste Organisation hieß Poale Zion (Die Arbeiter Zions).

Poale Zion hatte ein widersprüchliches Programm: mal hieß es, die Arbeiter:innen sollten sich auf die Auswanderung nach Palästina konzentrieren, um dort ein sozialistisches Gemeinwesen aufzubauen; mal wurde der Fokus auf den Klassenkampf vor Ort gelegt, und der Aufbau einer nationalen Heimstätte im Heiligen Land zu einem fernen Zukunftstraum erklärt. Aufgrund dieser Widersprüchlichkeit hielt Poale Zion auch nicht lange: nach der Russischen Revolution schloss sich der linke Flügel der Kommunistischen Internationale an, während der rechte Flügel zu einer reformistischen und kolonialistischen Partei wurde, die den Staat Israel gründete.

In diesem Aufsatz aus dem Jahr 1906 erklärte Chaim Jakow Gelfand, ein führendes Mitglied des Bundes, warum der sozialistische Zionismus eine reaktionäre Utopie war. Sozialismus und Zionismus ließen sich schlicht nicht kombinieren: ersterer setzte auf die politische Unabhängigkeit der Arbeiter:innen, während letzterer eine langfristige Zusammenarbeit sowohl mit der jüdischen Bourgeoisie wie mit den imperialistischen Kolonialmächten benötigte. Der Text erschien in der Neuen Zeit, der theoretischen Zeitschrift der deutschen Sozialdemokratie, herausgegeben von Karl Kautsky. In seinem eigenen Buch zur jüdischen Frage aus dem Jahr 1914 hatte Kautsky ebenfalls erklärt, dass unterdrückte jüdische Arbeiter:innen auf eine „Revolution in Russland“ statt auf Auswanderung nach Palästina setzen sollten.

Gelfands Aufsatz wirkt auf traurige Weise prophetisch. Auch im Jahr 1906 war klar, dass Palästina keineswegs unbesiedelt war, und dass der Aufbau eines ausschließlich jüdischen Nationalstaates dort zwangsläufig zu Konflikten mit der einheimischen Bevölkerung führen würde. Das würde, so konnten Marxist:innen sofort erkennen, zu neuer Unterdrückung und auch zu neuem Hass gegen Jüd:innen führen. Gelfand machte deutlich, dass ein jüdischer Staat nur in Zusammenarbeit mit dem Imperialismus entstehen könnte und deswegen niemals sozialistisch wäre.

Es ist sehr interessant zu lesen, was für fortschrittliche Ideen Teile der zionistischen Bewegung vor der Gründung des Staates Israel verteidigten. Doch die Widersprüche des „sozialistischen“ Kolonialprojektes waren unüberwindbar. Über die Jahrzehnte haben sich zahlreiche junge jüdischen Aktivist:innen, teilweise erst nach der Ankunft in Palästina, vom Zionismus abgewandt und dem Trotzkismus angeschlossen.

Der berühmteste von ihnen ist zweifellos Abraham Leon, ein Gelehrter und Kämpfer, der eine marxistische Studie zur Geschichte des jüdischen Volkes verfasste, während er im Untergrund gegen die Nazis kämpfte, bevor er mit nur 26 Jahren im Vernichtungslager Auschwitz ermordet wurde. Auch Berliner Linkszionist:innen wie Martin Monath und Rudolf Segall wurden zu Trotzkist:innen – ersterer im Exil in Belgien, letzterer, nachdem er in einem Kibbuz in Palästina arbeitete. Beide wurden, wie zahlreiche andere junge Ex-Zionist:innen, Mitglieder der Vierten Internationale.

Die internationalistischen Traditionen jüdischer Revolutionär:innen wird heute unsichtbar gemacht und geleugnet. Wir veröffentlichen diesen Text in seiner ursprünglichen Fassung als Erinnerung daran, dass der Zionismus nur einen kleinen und sehr umstrittenen Teil der jüdischen Geschichte ausmacht. Von Jüd:innen angeführte Proteste gegen den Krieg in Gaza beleben diese internationalistischen Traditionen neu.

– Nathaniel Flakin

Editorische Notiz: Interpunktion und Rechtschreibung des Originals wurden beibehalten. Die Fußnoten entstammen ebenso dem Original. Erklärende Anmerkungen sind in eckige Klammern gesetzt.

Der Poalei-Zionismus: Eine neue Strömung im russischen Judentum

In der letzten Zeit des revolutionären Aufschwungs in Rußland macht sich im russischen Judentum eine neue Strömung bemerkbar – der Poalei-Zionismus (Arbeiter-Zionismus), dessen Anhänger sich oft auch „Zionistische Sozialisten“ nennen. Wie wir es später nachweisen werden, ist es im Grunde keine neue Strömung, sondern unser alter bekannter Zionismus, der sich nolens volens der revolutionären Stimmung anzupassen sucht, sich deshalb mit roten Läppchen gar wunderlich herausputzt und sogar den Namen „Jüdische Sozialdemokratische Arbeiterpartei“ annimmt. Da dieser Name geeignet ist, bei Genossen, die mit dem Leben der jüdischen Arbeitermassen nur wenig bekannt sind, Mißverständnisse hervorzurufen, so dürfte es von einigem Interesse sein, festzustellen, ob und wieweit die zionistischen Sozialisten auf den Namen Sozialisten Anspruch erheben können.

Als ihr Grundprinzip, von dem sie ausgehen, stellen die zionistischen Sozialisten den historischen Materialismus auf,1 und demgemäß stützen sie sich zur Begründung ihrer Lehre auf die ökonomische Lage der jüdischen Volkes und insbesondere des jüdischen Proletariats. Sie kommen zu dem Schlusse, daß die Juden überall die Minderheit der Bevölkerung bildeten, daß in den Golus-Ländern2 die jüdische Produktion, daß jüdische Kapital und dementsprechend auch das jüdische Proletariat im Vergleich mit dem nichtjüdischen klein und unbedeutend seien. Bei allen kapitalistischen Nationen reiße das Proletariat im Gang der kapitalistischen Entwicklung einen immer größeren Teil der ökonomischen Macht an sich und komme es damit immer näher zum Sozialismus; das jüdische Proletariat habe aber keine Hoffnung, die ökonomische Macht je in seine Hände zu bekommen. Wie das Kleinbürgertum der Länder, wo er wohnt, sagen die zionistischen Sozialisten, so werde auch der jüdische Kleinbürger in den Strudel kapitalistischer Entwicklung gezogen und müsse zum Proletarier, zum Lohnarbeiter werden, doch nach der Meinung der zionistischen Sozialismus hat er weder die Kraft, noch die Möglichkeit dazu. Sein Judentum laste auf ihm wie ein Fluch: die Konkurrenz der nichtjüdischen Arbeiter, der Antisemitismus der herrschenden Klassen führten dazu, daß der jüdische Handwerker, der jüdische Kleinkrämer nicht zum Lohnarbeiter werden könne, daß die jüdischen Maßen sich nicht proletarisierten. Daher komme nun das ganze Elend der jüdischen Massen, daher komme es, dass sich bei den Juden keine normale Arbeiterklasse bilden könne. Sogar die vorhandenen jüdischen Lohnarbeiter wären keine wirklichen Proletarier, meinen die zionistischen Sozialisten, weil die Fabrik für sie verschlossen bleibt und nur für die christlichen Arbeiter reserviert ist. In dieser verzweifelten Lage bleibt dem jüdischen Handwerker nichts anderes übrig als zu emigrieren, aber auch die Emigration wird ihm täglich immer schwerer gemacht. Die Ursache aller dieser anormalen Erscheinungen sehen nun die zionistischen Sozialisten darin, daß die Juden keine nationale Wirtschaft haben; also, um dem Übel abzuhelfen, müßte eine solche geschaffen werden. Da es aber in den Golusländern durchaus unmöglich ist, so bleibt folgerichtig nur ein Ausweg übrig: sich ein freies Territorium zu erwerben, wo die Juden die Mehrheit bilden, wo die Bedingungen zu einem freien sozialpolitischen Leben vorhanden sind, wo eine jüdische Produktion möglich ist, die nur mit jüdischen Kräften betrieben wird. Nur unter diesen Umständen werde sich eine normale jüdische Arbeiterklasse bilden können, die die Kraft hätte, den Sozialismus zu verwirklichen. Das Mittel zur Erreichung dieses Zieles wäre vom Kapitalismus selbst gegeben: die Emigration. Die jüdischen Massen emigrieren, aber sozusagen unbewusst; Sache der zionistischen Sozialisten sei es nun, der Bewegung ein Ziel zu geben, ein Ideal zu weisen, sie zu organisieren. Aber diese Organisation der Emigration müsse in dem Sinne verstanden werden, daß, um sie zu einer für die jüdischen Massen nutzbringenden zu gestalten, diese Massen schon und Ort und Stelle, das heißt in den Golusländern, sich ihren Klasseninteressen gemäß organisieren müßten. Dadurch würden sie, und vor allem das Proletariat, zu einer sozialpolitischen Kraft gemacht, die einerseits den Sozialismus, andererseits den Zionismus würde verwirklichen können. Daher käme der zwiespältige Charakter der zionistisch-sozialistischen Tätigkeit. Als ihr erstes Mittel dabei erklären die zionistischen Sozialisten den Klassenkampf: bis zur Verwirklichung des Zionismus, sagen sie ganz richtig, werde noch viel Zeit vergehen, und so lange müßte sich das jüdische Proletariat in den Golusländern organisieren und gemeinsam mit dem Proletariat anderer Nationen seinen Klassenkampf führen – den Kampf gegen den Kapitalismus, für eine demokratische Ordnung, gegen die Überreste feudaler Zustände, also in Rußland gegen den Absolutismus. Ihr zweites Mittel ist die speziell zionistische Arbeit: hier kommt in erster Reihe in Betracht die Verbreitung des Bewußtseins unter den jüdischen Massen, daß ihre Lage in den Golusländern eine anormale sei. In dasselbe Gebiet zionistischer Arbeit gehören auch „freie Verhandlungen mit den Vertretern von Staaten, die Kolonialpolitik treiben“ zur Erwerbung eines freien Territoriums, und selbstverständlich auch das Beschaffen der nötigen Geldmittel.

So ist, kurz skizziert, die Theorie der sozialistischen Zionisten; man muß aber gestehen, daß in ihren eigenen Reihen eine ziemlich große Verwirrung herrscht und man infolgedessen grundverschiedener Auslegung derselben Tatsachen und den buntesten Theorien begegnen kann.

Die zionistischen Sozialisten gehen, als historische Materialisten, von der ökonomischen Lage des jüdischen Volkes aus; aber diese Lage wird von ihnen durchaus unzutreffend geschildert, und deshalb kommen sie zu ganz anderen Schlüssen, als ein aufmerksamer und unvoreingenommener Beobachter es tun würde. Der springendste Punkt in ihren Ausführungen ist das Fehlen einer normalen jüdischen Arbeiterklasse und der Mangel notwendiger Vorbedingungen für die normale Proletarisation des jüdischen Mittelstandes. Auf diesen zwei Behauptungen ruht bei ihnen alles; wenn diese fallen, fällt auch das ganze zionistische Gebäude. Von der Kritik dieser Thesen wollen wir nun auch ausgehen.

Die jüdische Arbeiterklasse, sagen die zionistischen Sozialisten, ist nicht normal; die jüdischen Arbeiter sind keine „richtigen“ Proletarier, sie arbeiten nicht in Fabriken. Hier haben wir eine vollständige Verwechselung von zwei Begriffen: Proletarier und Fabrikarbeiter. Nach der allgemein angenommenen Theorie ist Proletarier jeder, der nicht im Besitz von Produktionsmittel ist, seine Arbeitskraft verkauft und für den Kapitalisten, der ihn beschäftigt, Mehrwert produziert; unter diese wissenschaftliche Definition fällt sowohl der Fabrikarbeiter wie auch der Handwerksarbeiter. Bei den zionistischen Sozialisten gilt aber der letztere, weil er nicht an der Maschine arbeitet, als kein wirklicher Proletarier. Dadurch wird eine Menge jüdischer Lohnarbeiter aus den Reihen des Proletariats gestrichen. Nach der Statistik der J. K. A.3 gibt es in Rußland 500986 jüdische Handwerker, darunter 259396 Meister, 140528 Gesellen, 101062 Lehrlinge, also beinahe die Hälfte der Handwerker sind reine Proletarier. Von ihnen sind 38 Prozent in der Konfektion, 11,6 Prozent in der Nahrungsmittelbranche beschäftigt, 17 Prozent sind Gerber, also nahezu 67 Prozent gehören solchen Industriezweigen an, wo auch in kapitalistisch vorgeschrittenen Ländern die Maschine noch lange nicht ihre Triumphzüge feiert.

Die zionistischen Sozialisten sagen, das jüdische Kapital wäre im Verhältnis zum nichtjüdischen klein und unbedeutend; aber wiederum haben sie hier nur die Fabrik im Auge. Aber Manufaktur und Hausindustrie zählen auch zu den kapitalistischen Betrieben, wenn auch zu einer niedrigeren Stufe, und gerade diese Produktionsformen sind in der jüdischen Industrie vorwiegend. Ein schlagender Beweis dafür ist der Umstand, daß das jüdische Handwerk für die entferntesten Mächte arbeitet, also notwendig mit Aufkäufern, Vermittlern, Grossisten [Großhändler, A.d.R.] zu tun und seinen selbstständigen Charakter in hohem Maße eingebüßt hat. Hier seien nur einige Beispiele erwähnt. In Radom (Polen) werden jährlich für eine Million Schuhwaren nach allen Ecken Rußlands versandt. In Brzeziny (Gouvernement Piotrkow, Polen) arbeiten die Schneider für Aufkäufer, diese verkaufen die Ware an Grossisten, die zu diesem Zwecke aus Südrußland, dem Kaukasus und sogar Transkaukasien kommen. Grodzisk (Gouvernement Warschau) verkauft mit Hilfe von Vermittlern alljährlich Strumpfwaren nach dem inneren Rußland. Witebsk versendet Tischlerarbeiten und gegerbte Felle nach auswärts, in Litauen schicken die Handschuhmacher, Tischler, Drechsler ihre Produkte auf die entferntesten Märkte. In Südrußland ist in einer Reihe kleiner Städtchen die Produktion einiger Schuhsorten verbreitet, die erfolgreich mit den Fabrikanten bester Warschauer und Petersburger Firmen konkurrieren und sich in ganz Rußland einer großen Nachfrage erfreuen. Angesichts aller dieser Tatsachen müssen Tausende und aber Tausende solcher, die die zionistischen Sozialisten als selbstständige Handwerker behandeln, dem Proletariat zuzurechnen, und dazu gehören sie noch seinen elendesten und ausgebeutetsten Schichten an.

Was die Zahl der jüdischen Fabrikarbeiter anbetrifft, so zählt die J. K. A. deren 34000; aber es ist von äußerster Wichtigkeit, hervorzuheben, daß in ihrer Statistik, auf die sich die zionistischen Sozialisten stützen, Angaben über das Gouvernement Cherson mit Odessa, Angaben über ganz Polen mit Städten wie Warschau, Lodz, Pabianitzy, Zgierz, Zdonska Wolja und verschiedene andere vollständig fehlen und somit die wichtigsten Punkte jüdischer Industrie, wo viele Tausende jüdischer Fabrikarbeiter an der Maschine stehen, unberücksichtigt bleiben. Infolgedessen dürfte die Zahl der jüdischen Fabrikarbeiter viel höher sein, als die J. K. A. und mit ihr die zionistischen Sozialisten annehmen. Der Prozentsatz der russischen Fabrikarbeiter im Verhältnis zur gesamten russischen Bevölkerung beträgt 1 ½ Prozent (130 Millionen Einwohner und 2 Millionen Arbeiter); die jüdische Bevölkerung beträgt in Rußland 5 Millionen, dementsprechend müßte sich die Zahl der jüdischen Fabrikarbeiter auf 75000 belaufen. Wenn man alle die gewaltigen Rechenfehler bedenkt, die in der Statistik der J. K. A. obwalten, so kann man als höchst wahrscheinlich annehmen, dass die wirkliche Zahl der jüdischen Fabrikarbeiter hinter dieser Ziffer nicht zurückbleibt, wenn sie nicht übersteigt. Jedenfalls ist aber die Zahl der jüdischen Handwerker absolut und relativ erheblich höher als die Zahl der jüdischen Fabrikarbeiter. Gehen wir zur Untersuchung der Ursache dieser Tatsache über.

Die zionistischen Sozialisten behaupten, diese Ursache liege in dem Umstand, daß die jüdischen Massen, der jüdische Mittelstand, der kleine Handwerker und Krämer, sich nicht proletarisieren. Ihr Gedankengang ist folgender: Im Laufe der ökonomischen Entwicklung wird das Handwerk von der Maschinenproduktion verdrängt; da aber die Juden in die Fabriken keinen Zutritt haben, so ist für sie der Ausweg der Proletarisation, des Übergangs zur Fabrikarbeit verschlossen, der Handwerker verlumpt oder emigriert. Die Berufung der zionistischen Sozialisten auf die ökonomische Entwicklung ist jedoch nicht so richtig und jedenfalls nicht so „marxistsich“, wie sie auf den ersten Blick aussehen mag: sie stellen die Sache so vor, als ob das Handwerk unmittelbar in die Maschinenindustrie überginge, was in Wirklichkeit durchaus nicht der Fall ist; sie ignorieren vollständig die Übergangsformen der kapitalistisch ausgebeuteten Hausindustrie und Manufaktur; wie wir aber schon gesehen haben, sind gerade diese Formen besonders stark in der jüdischen Industrie vertreten. Ferner sagen die zionistischen Sozialisten, die Juden würden vielfach nicht in Fabriken aufgenommen; die Tatsache steht ja fest, aber ihre Erklärung kann eine verschiedene sein; die zionistischen Sozialisten suchen nicht einmal nach einer solchen, sie sagen einfach: „So ist’s und so wird es immer bleiben in den Golusländern.“ Ihr Mangel an dialektischem Denken springt hier in die Augen. Für uns aber liegen diese Ursachen klar auf der Oberfläche des jüdischen Lebens in Rußland; sie sind durchweg politischer Art. Vor allem kommt hier die Beschränkung der Freizügigkeit in Betracht, wodurch die Juden in einem beschränkten Ansiedlungsrayon zusammengepfercht werden; in diesem Rayon dürfen sie aber nicht auf dem platten Land wohnen und sind somit von allen ländlichen Betrieben, wie Zuckerraffinerien, Schnapsbrennereien, Ziegeleien, Sägemühlen und anderen, und der eigentlichen Landwirtschaft ausgeschlossen. Daß sich unter diesen Umständen, bei solcher Zusammendrängung in den Städten eine erbitterte Konkurrenz entwickelt und nicht alle in der städtischen Großindustrie Platz finden, ist ja selbstverständlich, deshalb sind auch so viele Juden aufs Handwerk, auf den Kleinhandel usw. angewiesen. Die Auswanderung des jüdischen Handwerkers ins innere Rußland, die gesetzlich erlaubt ist, hat für ihn praktisch nur geringen Wert, da er beim ersten Zufall, der ihn am Ausüben seines Handwerkes hindert, wie Krankheit, Arbeitslosigkeit und dergleichen, stets eine Ausweisung zu befürchten hat: er kann so lange im inneren Rußland leben, solange er in seinem Beruf tätig ist, und überhaupt ist er den kleinlichen Schikanen ausgesetzt, die seine Existenz fortwährend bedrohen.

Die gewichtige Ursache sind auch die Hindernisse, die den Juden in ihren Bildungsbestrebungen entgegengestellt werden: fast in allen Bildungsanstalten werden Juden nur in einem gewissen, sehr sparsam bemessenen Prozentsatz aufgenommen; ganz besonders gilt dies von der technischen Bildung, die den Juden beinahe ganz unzugänglich ist. Auch der Staatsdienst, der Semstwo- und Stadtdienst sind ihnen mit nur geringfügigen Ausnahmen verschlossen; und dies nicht nur für die freien Berufe, für Ärzte, Rechtsanwälte, Lehrer usw., sondern auch für Stellungen in Eisenbahnen, in allen staatlichen Betrieben, im weitaus größten Teile der städtischen Betriebe usw. Außerdem kommt noch der Antisemitismus der herrschenden Klassen und – es mag vielleicht sonderbar scheinen – der revolutionäre Geist der jüdischen Arbeitermassen, der dazu führt, daß sogar jüdische Fabrikanten oft mit Vorliebe christliche Arbeiter heranziehen, da sie in ihnen eine billigere und auch willigere Arbeitskraft haben.

Es gehört eine unglaubliche Dosis politischer Kurzsichtigkeit und Unwissenheit dazu, um zu behaupten, daß es immer so bleiben würde. Es ist ja klar wie der Tage, daß alle diese Ursachen, die die Proletarisierung der jüdischen Massen aufhalten, Produkte der russischen Selbstherrschaft sind und mit ihrem Sturze, mit der Einführung einer demokratischen Ordnung verschwinden werden. Mit der Forträumung des letzten Restes feudal-absolutistischer Zustände fallen auch Ausnahmegesetze gegen Juden, alle Hindernisse, die sich der Entwicklung des russischen Kapitalismus entgegenstellen, er wird mit Riesenfortschritten vorwärtseilen und die Massen der jüdischen Bevölkerung in seinen Strudel reißen; dann werden die zionistischen Sozialisten, wenn sie überhaupt bis dahin noch nicht vom Erdboden verschwunden sind, keine Ursache haben, über ungenügende Proletarisierung des jüdischen Mittelstandes zu klagen.

Aber für die zionistischen Sozialisten liegen die Ursachen der anormalen Lage der Juden in den Golusländern (eigentlich in Rußland, da ihre ganze Theorie für Rußland zurechtgestutzt ist) ganz wo anders, nur nicht in politischen Gründen. Den Ursprung des Übels suchen sie vielmehr darin, daß die Juden keine nationale Wirtschaft haben. Was sie eigentlich unter diesem Worte verstehen, haben sie nirgends deutlich zu erkennen gegeben, deshalb läßt es verschiedene Auslegungen zu. Sollte nationale Wirtschaft eine solche bedeuten, die sich selbst genügt, die weder der Aus- noch der Einfuhr bedarf, die sozusagen eine Art geschlossene Naturalwirtschaft bildet, so ist diese Form von der ökonomischen Entwicklung längst überholt; nicht nur kein Volk, sondern auch kein einziger Staat kann jetzt eine derartige geschlossene Wirtschaft aufweisen; wir stehen in der Periode der Weltwirtschaft, nicht der Nationalwirtschaft, und die letztere aufbauen wollen, heißt sein Ideal nicht in der Zukunft, sondern in der Vergangenheit suchen. Wenn aber die zionistischen Sozialisten unter Nationalwirtschaft eine solche verstehen, die nur von jüdischen Kräften betrieben wird, die sich nur auf Juden stützt, so zeugt dies von einer unglaublichen Naivetät [sic] in der politischen Ökonomie; das Ideal der zionistischen Sozialisten geht dann dahin, daß der jüdische Arbeiter nur von einem Kapitalisten geschunden, das „freie Land“ nur von jüdischem Kapital ausgebeutet, nur von jüdischem Schweiße getränkt wird. Wissen denn die sozialistischen Zionisten nicht, daß der Kapitalist das Geld überall nimmt, wo er es findet, daß es ihm ganz einerlei ist, welche nationale Farbe das Arbeiterblut trägt, das er trinkt? Oder glauben sie, daß der jüdische Kapitalist „um der heiligen nationalen Sache willen“ in Palästina keine billigeren beduinischen oder eingewanderten Arbeitskräfte heranziehen wird, wenn er sich nur Profit davon verspricht? Oder gedenken die zionistischen Sozialisten einen Ansiedlungsbezirk für Beduinen und Ausnahmegesetze gegen einwandernde nichtjüdische Arbeiter einzuführen?

Aber die wahrscheinliche Annahme ist die, daß die Nationalwirtschaft ein Territorium bedeutet, wo das jüdische Volk, also bei der kapitalistischen Produktionsweise die jüdische Bourgeoisie, die Mehrheit bildet und die in der Minderheit befindlichen Völker wohl ebenso unterdrückt, wie sie es bisher selbst gewesen.

Zu diesem Ziele, zur Erwerbung eines freien Territoriums mit einer Nationalwirtschaft, drängt die kapitalistische Entwicklung selbst, so sagen die zionistischen Sozialisten; sie läßt die jüdischen Massen emigrieren. Aber für uns ist es klar, daß diese Emigration von rein politischen Ursachen abhängt, von der russischen Selbstherrschaft: nach jeder neuen Judenverfolgung schwillt die Emigration bedeutend an, dasselbe ist auch nach den furchtbaren Oktobermetzeleien beobachtet worden. Deshalb können wir getrost annehmen, daß mit dem Falle des Absolutismus, mit der Einführung einer demokratischen Ordnung auch die jüdische Emigration weit unter ihr bisheriges Niveau sinken wird, und also kann sie für uns überhaupt als kein Beweis der Notwendigkeit einer nationalen Wirtschaft gelten.

Aber den zionistischen Sozialisten erscheint die nationale Wirtschaft doch unumgänglich nötig für das jüdische Volk, das sonst unrettbar dem politischen und ökonomischen Untergang geweiht sei. Zur Erreichung dieses erhabenen Ideals wollen sie die schon vorhandene jüdische Emigration organisieren, ihr als Ziel, als Ideal ein „freies Territorium“, ein „gesichertes Heim“ verheißen.

Aber sie wollen daneben auch die jüdischen Massen und insbesondere das jüdische Proletariat in den Golusländern selbst organisieren. Einerseits, meinen sie, erwächst in ihm dadurch die Kraft zur Verwirklichung des Sozialismus, andererseits zur Erwerbung des „freien Territoriums“. „Zum Sozialismus führt der Klassenkampf“, proklamieren die zionistischen Sozialisten, und sie tun so, als würden sie schon durch diese bloßen Worte zu Sozialdemokraten gestempelt. Aber nicht das Wort, sondern die Tat beweist den sozialdemokratischen Geist, und wir werden gleich sehen, daß es mit ihren Taten des Klassenkampfes nicht weit her ist.

Wo wollen die zionistischen Sozialisten den Sozialismus verwirklichen? Natürlich nicht in den Golusländern, dort kann das jüdische Proletariat die ökonomische Macht nie an sich reißen, sondern in seiner „gesicherten Heimstätte“, in dem freien Territorium. Also soll der Klassenkampf in Rußland zur Verwirklichung des Sozialismus in Palästina oder in Uganda führen!

Der Klassenkampf kann nur dort gedeihen und Früchte tragen, wo die Massen selbst leben, er wächst nur auf dem Boden der Produktion und kann nur zu ihrer Umgestaltung in eine sozialistische führen; ein anderes Ziel, ein anderes Resultat ist ihm fremd; der Klassenkampf in den Golusländern kann nur zum Sozialismus in diesen Ländern führen, aber es ist unmöglich, den Zionismus durch den Klassenkampf zu verwirklichen. Der Zionismus ist ein Ziel, das den Arbeitermassen fremd ist; ihre Interessen wurzeln fest in dem Lande, das ihre gegenwärtige Heimat ist, sie wissen, daß ihr Klassenkampf den Sozialismus hier, im Golus, verwirklichen wird, und dann hört der Golus auf, ein Golus zu sein; was brauchen sie sich dann um Zion zu kümmern? Und wozu, weshalb sollte man das Proletariat von dem Boden, auf dem es sich eingelebt, auf dem es seine sozialpolitischen Kräfte gestählt hat, losreißen, in neue Existenzbedingungen verpflanzen, viele Jahre vergehen lassen, ehe es sich ihnen anpaßt und den Klassenkampf aufs neue aufnimmt, damit es dann erst zur Verwirklichung des Sozialismus schreite? Man kann ja den Sozialismus im alten Lande viel eher und mit weniger Mühe erringen. Wir sprechen schon nicht davon, daß die zionistischen Sozialisten mit sich selbst in Widerspruch geraten: einmal behaupten sie, das jüdische Proletariat in den Golusländern könne nicht zu einer sozialpolitischen Kraft werden, und das andere Mal meinen sie, es erlange so viel Kraft, daß es imstande ist, den Sozialismus sogar im entfernten Palästina zu verwirklichen und nebenbei noch ein „freies Territorium“ zu erwerben.

Während aber die zionistischen Sozialisten der Arbeiterbewegung ein ihrem Wesen fremdes Ziel aufdrängen, verfallen sie, die sich so mit der Reinheit ihrer sozialdemokratischen Lehre brüsten, in den allergewöhnlichsten kleinbürgerlichen Sozialismus. Das Ziel des Zionismus, das „freie Territorium“, ist ein Ziel, „an dem auch die übrigen Klassen des jüdischen Volkes ein Interesse haben“ („Deklaration“, S. 13). Wie scharf, wie unerbittlich kann denn der Klassenkampf gegen Klassen sein, mit denen das Proletariat ein gemeinschaftliches Ziel, ein gemeinschaftliches Ideal hat, mit denen es, nach Aufforderung der zionistischen Sozialisten, zur Verwirklichung dieses Ideals Hand in Hand gehen soll?! Und mit wem soll sich das Proletariat zur Verwirklichung des Zionismus vereinigen? Mit der allgemeinen zionistischen Organisation, antworten die zionistischen Sozialisten. Wir aber fügen hinzu: mit der Organisation von jüdischen „Handwerkern und kleinen Krämern“, da „der größte Teil der Anhänger des Zionismus sich gegenwärtig aus der Kleinbourgeoisie rekrutiert“ („Deklaration“, S. 9). Daß bei dem Zusammenschluss mit diesen Elementen der Klassenkampf des jüdischen Proletariats seine Schärfe und Rücksichtslosigkeit einbüßen würde, scheint den zionistischen Sozialisten gar nicht zum Bewußtsein zu kommen.

Welche Mittel soll das Proletariat – in Einverständnis mit der Kleinbourgeoisie natürlich – für die Erwerbung des „freien Territoriums“ anwenden? In erster Linie schlagen die zionistischen Sozialisten „freie Verhandlungen mit Vertretern der Staaten vor, die Kolonialpolitik treiben“. Diplomatische Verhandlungen mit den Staaten, mit den bürgerlichen Regierungen – das ist es, was diese „Sozialdemokraten“ in Vorschlag bringen! Proletariat – und bürgerliche Diplomatie! Proletarischer Kampf, der die ganze bestehende gesellschaftliche Ordnung zu vernichten strebt – und Feilschen mit bürgerlichen Regierungen, um ein Stückchen Land zu kaufen! Das Proletariat kann sich an eine Regierung nur mit einer Forderung wenden, nicht mit einer Bitte. „Gieb [sic] mir, oder ich nehme selbst“ – nur eine solche Diplomatie steht nicht im Gegensatz zum proletarischen Klassenkampf.

Wir wissen schon, daß „die Erfüllung der jüdischen Massen mit dem Bewußtsein ihrer anormalen Lage in den Golusländern“ zu den vornehmsten Aufgaben der zionistischen Sozialisten gehört. An dieser Aufgabe arbeiten die zionistischen Sozialisten mit wahrem Feuereifer, und sie scheuen keine Mühe, um im jüdischen Proletariat festen Fuß zu fassen, bei ihm politischen Einfluss zu gewinnen. Aber vergebens: das jüdische Proletariat hat taube Ohren für die Lockrufe der zionistischen Sozialisten; nur vereinzelte Arbeiter, die sich über ihre wahren Klasseninteressen noch nicht klar geworden sind, lassen sich von ihnen betören; die Masse ist und bleibt unter der Führung des „Bundes“, der aus ihr selbst hervorgegangen ist und eng mit ihr verbunden, der wirklicher Vertreter der Interessen des jüdischen Proletariats ist. Wie keine andere sozialdemokratische Partei versteht er die inneren Zusammenhänge des jüdischen Lebens, versteht er infolgedessen das kleinbürgerliche Wesen der zionistischen Sozialisten, und vom ersten Augenblick ihres Erscheinens an bekämpfte er sie mit Nachdruck und stets wachsendem Erfolg. Man muß gestehen, die zionistischen Sozialisten wehren sich mit Zähnen und Klauen, und in ihrer verzweifelten Lage greifen sie zu den unschönsten Mitteln: sie nennen den „Bund“ eine Partei von „Assimilatoren“, die suchen mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln den Gang seiner Arbeit zu stören, sie schrecken dabei sogar nicht vor Verleumdungen zurück; die in den „Letzten Nachrichten des Bundes“ veröffentlichten Korrespondenzen zahlreicher Organisationen sind mit der Beschreibung derartiger Heldentaten der zionistischen Sozialisten überfüllt. In ihrer „aufklärenden“ Tätigkeit gehen die zionistischen Sozialisten noch weiter: indem sie ihrem geradezu krankhaften nationalen Gefühl freien Lauf lassen, führen sie in den Massen eine direkt chauvinistische Propaganda: sie rufen in ihnen feindselige Gefühle gegen die christliche Bevölkerung wach, sie flößen den jüdischen Arbeitermassen Mißtrauen zu ihren russischen Genossen ein. Damit unsere Behauptung nicht unbegründet erscheine, lassen wir einige Zitate aus verschiedenen zionistisch-sozialistischen Aufrufen folgen.

Das Grodnoer [Hrodna, Belarus, A.d.R.] Komitee der zionistischen Sozialisten schreibt:

Die Möglichkeit, uns niederzumetzeln, rührt daher, daß wir über den ganzen Erdball zerstreut sind, wir leben in einer kleinen Zahl unter anderen Völkern, die uns als Fremdlinge betrachten. Und solange wir schwach sind, werden sich immer niederträchtige Seelen finden, die unsere Schwäche ausnutzen werden; wir werden immer der Sündenbock sein, der für die Missetaten anderer zu leiden hat. Wenn wir die Möglichkeit abschaffen wollen, müssen wir uns an einem Orte konzentrieren und uns ein gesichertes Heim schaffen. Dazu strebt der Zionismus, der die einzige Lösung der jüdischen Frage bildet.

Das Jekaterinoslawer [Dnipro, Ukraine, A.d.R.] Komitee schreibt in seinem Aufruf „An alle jüdischen Arbeiter und Arbeiterinnen“:

Das jüdische Proletariat muß seine eigenen unterdrückten Genossen, das Proletariat anderer Nationen,beneiden.

Wahrlich, eine sonderbare Auslegung des Rufes: „Proletarier aller Nationen, vereinigt euch!“ welche Aufschrift alle Publikationen der zionistischen Sozialisten tragen.

Die Wilnaer [Vilnius, Litauen, A.d.R.] Gruppe studierender zionistischer Sozialisten wendet sich folgendermaßen an die studierende jüdische Jugend:

Nicht nur die finsteren Mächte haben benutzt und benutzen die Juden als ein Mittel für ihre Zwecke, nicht nur bei ihnen ist der Jude ein Sündenbock gewesen, sogar die fortschrittlichen Kräfte maßen sich bis jetzt das Recht an, die Juden nicht als Selbstzweck, sondern nur als ein Mittel zur Erreichung ihrer (der Fortschrittler) Zwecke zu betrachten. …Die russischen Revolutionäre der‚Narodnaja Wolja‘haben die russischen Massen auf die Juden gehetzt.… Die Vertreter der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei bekämpfen den ‚Bund‘, weil er die jüdische Intelligenz von der Arbeit in den russischen Massen ablenkt. … Nieder mit dem schändlichen Golus! Es lebe die nationale Freiheit!“

Überhaupt, welches Produkt des zionistisch-sozialistischen Literatengenies wir immer zur Hand nehmen, überall wird dem jüdischen Arbeiter eingeprägt, daß die Ursache aller Übel nicht die kapitalistische Ordnung, nicht die Ausbeutung sei, daß das Fundament aller nationalen Unterdrückung wiederum nicht diese bourgeoise Ordnung sei; man schiebt vielmehr die ganze Schuld einem untergeordneten Faktor zu, der jüdischen Zersplitterung unter fremden Völkern, man hört nicht auf, zu erzählen, daß es zwischen den jüdischen Arbeitern und den Arbeitern anderer Nationalitäten keine Einigkeit, keine Solidarität geben könne, weil die jüdischen Arbeiter „schwach“ seien, die nichtjüdischen seien aber die Mehrheit und unterdrückten die jüdischen.

Kann dann nach alledem ein Zweifel sein, wie auf die Fragen zu antworten: Klären die zionistischen Sozialisten das Proletariat auf oder verdunkeln sie sein Klassenbewusstsein? Haben sie auch das mindeste Recht auf den Titel „Sozialdemokratische Arbeiterpartei“? Darüber kann es wohl keine zwei Meinungen geben.

Die zionistischen Sozialisten mögen noch so viel zetern und schreien, der zionistische Sozialismus wäre ein Produkt der anormalen Lage der Juden in der ganzen Welt; einem jeden, der sich die Sache genau ansieht, ist es klar, daß es nur ein Echo des Jammerns der jüdischen Kleinbourgeoisie in Rußland ist. Der revolutionäre Anflug, den der alte Zionismus in letzter Zeit in Rußland angenommen hat, verdankt seinen Ursprung der revolutionären Stimmung, die jetzt in Rußland herrscht. Der alte politische Zionismus ist längst in Verfall geraten, der Boden unter seinen Füßen wankt; er war nur so lange gut genug, als die jüdischen Massen sich damit begnügten, gen Himmel zu sehen und zu seufzen; aber jetzt, wo selbst die Kleinbourgeoisie unter dem Eindruck des heldenhaften Kampfes des Proletariats in gewissem Maße revolutionär geworden ist, hat auch der Zionismus der Bewegung folgen müssen: um seine unsicheren Kantonisten [metaphorisch: Rekruten, die sich der Einberufung zu entziehen versuchen, A.d.R.] nicht zu verlieren und neue Anhänger im kraftvoll aufsteigenden Proletariat zu gewinnen, hängt er sich einen Mantel um, zusammengeflickt aus „Proletarisation“, „Klasseninteressen“, „sozialdemokratischem Standpunkt“, „sozialpolitischen Kräften“ usw., der den alten, verfaulten und verschimmelten politischen Zionismus verdecken soll.

Der Zionismus der zionistischen Sozialisten hat die gedrückte ökonomische und politische Lage der Juden in Rußland zur Ursache. Der revolutionäre Anstrich der zionistischen Sozialisten verdankt seinen Ursprung der freiheitlichen Bewegung in Rußland. Mit dem Falle des Absolutismus, wenn die Judenverfolgung aufgehört und die freiheitliche Bewegung ihr Ziel erreicht hat, wird der Polaei-Zionismus jeder Grundlage entbehren und rettungslos ins Meer der Vergessenheit versinken

A. L. [Chaim Jakow Gelfand]: Der Poalei-Zionismus. Eine neue Strömung russischen Judentum, in: Die neue Zeit, Bd. 1, Heft 25 (1906), S. 804-813.

Fußnoten
1. Unsere Ausführungen stützen sich in der Hauptsache auf die „Deklaration“, herausgegeben von dem Zentralkomitee der poaleizionistischen Partei.

2. Länder, in die sich die Juden nach der Zerstörung Jerusalems zerstreut haben. [Jiddisch für Diaspora, A.d.R.]

3. Allgemeine Jüdische Kolonisationsgesellschaft. Leider gibt es in Rußland keine offizielle Statistik der jüdischen Bevölkerung, und deshalb müssten wir uns mit diesen von Privatpersonen durch Umfragen gesammelten Zahlen begnügen. [Bezieht sich vermutlich auf die Jewish Colonization Association, JCA, A.d.R.]

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