6.000 Geflüchtete in 24 Stunden auf Lampedusa: Schluss mit der Festung Europa, öffnen wir die Grenzen!

18.09.2023, Lesezeit 9 Min.
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Foto: Alessio Tricani / shutterstock.com

Mehr als 6.000 Geflüchtete sind diese Woche auf der italienischen Insel Lampedusa angekommen. Während die Rechte und die extreme Rechte die Situation instrumentalisieren, um ihr fremdenfeindliches Gift zu verspritzen, ist es dringend notwendig, die Festung Europa und die Verantwortung der imperialistischen Länder anzuprangern und die Öffnung der Grenzen und die Aufnahme aller undokumentierten Migrant:innen zu fordern.

Lampedusa liegt zwischen Tunesien und Sizilien, 190 Kilometer von der Küstenstadt Sfax entfernt und ist der erste Anlaufhafen für Flüchtlinge aus Nordafrika sowie eines der wichtigsten Einfallstore nach Europa. In dieser Woche erlebte die Insel eine massive Ankunft von Geflüchteten: 2.000 Menschen strandeten am Montag, 5.000 am Dienstag und mehr als 1.000 am Mittwoch. Insgesamt sind seit Jahresbeginn mehr als 124.000 Geflüchtete auf dem Seeweg in Italien angekommen, gegenüber 65.000 im gleichen Zeitraum des Vorjahres und 41.000 im gleichen Zeitraum des Jahres 2021. Sie alle kommen aus Ländern, in denen Armut oder regionale Konflikte wüten, wie Guinea, Elfenbeinküste, Tunesien, Ägypten, Pakistan, Syrien, Kamerun oder Mali.

In Lampedusa befindet sich einer der zahlreichen „Hotspots“, die beschönigend als „Aufnahme- und Sortierzentren für Migranten“ bezeichnet werden und in Wirklichkeit echte Freiluftgefängnisse sind. Diese befinden sich hauptsächlich in Italien und Griechenland. Diesen Sommer erinnerte InfoMigrants an die schrecklichen Lebensbedingungen, die für die in diesen Lagern untergebrachten Menschen zum Alltag gehören: „Im Juli 2022 veranlassten in der Presse veröffentlichte Fotos, auf denen das Innere des Zentrums unter dem Müll zusammenbrach und die Exilanten gezwungen waren, draußen auf Schaumstoffmatratzen zu schlafen, die Behörden, das Zentrum dringend zu evakuieren.“

Die aktuelle Situation ist umso besorgniserregender, da das Aufnahmezentrum der Insel Lampedusa, auf der innerhalb von 24 Stunden mehr als 6.000 Geflüchtete angekommen sind, eine Kapazität von lediglich 400 Plätzen aufweist. Mit anderen Worten: Die Tausenden Geflüchteten haben keine andere Wahl, als sich übereinander zu drängen und darauf zu warten, dass ihr Asylantrag angenommen wird. Wobei sie Gefahr laufen, sich schwere Krankheiten einzufangen, zu verdursten oder zu verhungern, oder alternativ wieder aufs Meer hinauszufahren, mit einem erneuten Risiko zu ertrinken. Eine unmögliche Wahl, die niemand treffen kann und will: In den sozialen Netzwerken kursieren bereits Bilder, auf denen zu sehen war, wie Hunderte von ihnen versuchten, das Lager zu verlassen und von der Polizei gewaltsam zurückgewiesen wurden.

„Kriegshandlung“, „migrantische Überflutung“ oder Folge des Imperialismus und der Klimakrise?

 

Die Rechte und die extreme Rechte haben nicht lange gewartet, bevor sie die Situation instrumentalisierten, um immer rassistischere und repressivere Maßnahmen zu rechtfertigen. Für Matteo Salvini, den stellvertretenden Vorsitzenden des italienischen Ministerrats, ist die Ankunft so vieler Migrant:innen ein „Kriegsakt“. In einer an Verschwörungstheorien grenzenden Rede vor dem Club der Auslandspresse in Rom sagte der Bundesgeschäftsführer der rechtsextremen politischen Partei Lega Nord: „Ich bin überzeugt, dass es einen Plan gibt, ein gewisses Maß an Kontrolle hinter all dem […]. Wenn mehr als 100 Boote innerhalb weniger Stunden ankommen, ist das nichts Spontanes, sondern es ist organisiert, es ist ein kriegerischer Akt. Das Problem betrifft nicht nur Lampedusa, denn sie gehen dann nach Rom, Mailand, Turin, Neapel, Palermo, mit unglücklichen Folgen.“

In Frankreich zog Marine Le Pen schnell nach und twitterte am Donnerstag Morgen: „Wer wird sich noch weigern, von Überflutung zu sprechen, wenn innerhalb weniger Stunden die Bevölkerung einer Insel ankommt? Natürlich werden diese Migranten nicht auf Lampedusa bleiben…“. Eine Rhetorik, die an die Spitzenkandidatin für die Europawahlen der rechtsextremen Partei Reconquête, Marion Maréchal, erinnert, die von einer „zivilisatorischen Herausforderung“ sprach und erklärte: „Das ist erst der Anfang […], man kann von einer migrantischen Überflutung sprechen.“

Im Gegensatz zu den verschwörungstheoretischen und zutiefst rassistischen Theorien vom „großen Austausch“ muss man daran erinnern, dass die als „instabil“ bezeichneten Länder Afrikas, seit Jahrzehnten durch Krieg, Ausbeutung und Plünderung der Ressourcen destabilisiert wurden. Sei es durch militärische Interventionen in Syrien, im Irak und in Libyen oder durch die neokoloniale Kontrolle von Ländern wie Frankreich über Teile eines ganzen Kontinents wie Westafrika, wo noch heute Tausende französische Truppen stationiert sind.

Die Zeitung The Telegraph erklärte in Bezug auf Afrika: „Der Kontinent ist mit einer Rekordzahl von Überfahrten konfrontiert, die durch Naturkatastrophen in Libyen und Marokko noch verschärft werden könnten.“ Schließlich sind diese Migrationsströme auch eine Folge der nationalen Situation in den afrikanischen Ländern; so war beispielsweise Tunesien im Juli Schauplatz von Pogromen gegen die Schwarze und eingewanderte Bevölkerung Tunesiens. Eine Situation, die laut InfoMigrants Anfang Juli mit der Abschiebung von mindestens 2.000 Migrant:innen an den libyschen und algerischen Grenzen endete.

Nieder mit der Festung Europa! Öffnung der Grenzen und Aufnahme aller undokumentierten Migrant:innen!

 

Laut Reuters wird bei diesem Tempo der Migrationsströme die Gesamtzahl der Neuankünfte von Geflüchteten in Europa im Jahr 2023 voraussichtlich das gleiche Niveau erreichen oder sogar die Zahlen von 2016 übertreffen, als 181.000 Menschen das Mittelmeer überquerten. Angesichts der Möglichkeit einer neuen „Migrationskrise“ besteht die wichtigste Antwort der imperialistischen Staaten darin, die Grenzen und die fremdenfeindliche Politik der Europäischen Union zu verstärken, indem sie Abkommen mit verschiedenen Ländern schließen, die als „Tore Europas“ fungieren.

Das Beispiel Tunesien ist illustrativ für die europäische Politik der Externalisierung der EU-Grenzen: Im Sommer bot die EU dem tunesischen Regime eine Summe von 900 Millionen Euro an, im Gegenzug sollte Tunesien seine Rolle als Grenzschutz verstärken, den irregulären Einwanderungsstrom eindämmen und ihre Rückkehr fördern“, wie Gérald Darmanin, französischer Innenminister und Minister für Überseegebiete, es ausdrückte. Das heißt, Massenabschiebungen von Migrant:innen aus Europa akzeptieren. Mit anderen Worten: Die fremdenfeindliche und mörderische Politik der Europäischen Union, die beschlossen hat, die reaktionäre und rassistische Politik von tunesischen Präsidenten Kaïs Saïed, zu finanzieren, zeigt auf klare Weise die Rolle der EU bei der Förderung des Rassismus in Tunesien. Am Sonntag wurde in der Tagesschau mitgeteilt, dass es neben der Umsetzung dieses Abkommens mit neuen Verträgen nun auch “die Ausbildung der tunesischen Küstenwache und anderer Strafverfolgungsbehörden verbessert” werden soll.

Die EU hat daher im Juni ein Abkommen unterzeichnet, das eine Stärkung der Festung Europa auf zwei Ebenen vorsieht. Einerseits sieht das Abkommen einen Sprung bei der Stärkung der europäischen Grenzen vor, insbesondere durch die Stärkung von Frontex; politische Unterstützung für die offen fremdenfeindlichen Regierungen von Meloni in Italien und Mitsotakis in Griechenland; und die Stärkung und Einrichtung neuer Grenzlager, um Asylsuchende schneller abweisen zu können. Andererseits sieht das Abkommen vor, die Abschiebung von Geflüchteten zu beschleunigen. In diesem Sinne kündigte Gérald Darmanin an, dass Frankreich die Patrouillen der Polizei und des Militärs entlang seiner Grenze zu Italien verstärken werde. In Wirklichkeit ist es so, dass, wenn sich die herrschende Klasse darauf einigen kann, neue rassistische Maßnahmen durchzusetzen, die nationalen Interessen immer Vorrang vor den gemachten Versprechungen haben. Und natürlich sind die ersten Opfer die Geflüchteten.

Diesen Mittwoch kündigte Deutschland an, die Aufnahme von Asylsuchenden aus Italien „bis auf Weiteres“ auszusetzen, da Italien darauf verzichtet hatte, Migrant:innen, die ursprünglich an seiner Küste gelandet waren, zurückzunehmen, obwohl dies in dem im Juni unterzeichneten Abkommen vorgesehen war. Am Sonntag verkündete EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen des Weiteren die Vorlegung eines Zehn-Punkte-Plans, der das kommende gewaltvolle Vorgehen gegen Flüchtende konkretisieren soll. Dieser beinhaltet unter anderem einen gemeinsamen Einsatz von Frontex und Europol, eine Verstärkung der Überwachung auf See und im Luftraum, sowie schnellere Asylverfahren für schnellere Abschiebungen. Auch auf Melonis Äußerung, sogar die Marine gegen Flüchtende auf dem Meer einsetzen zu wollen, bezog sich von der Leyen positiv.

Die Aufnahme von Geflüchteten durch die europäischen Regierungen ist alles andere als eine Geste der Menschlichkeit, sondern wirtschaftlich kalkuliert. So erhöhte die Regierung Meloni, während sie Tausende Menschen in Lagern mit unmenschlichen Lebensbedingungen parkte und Hunderte weitere an den Grenzen abwies, laut Reuters die Einreisequoten für nichteuropäische Arbeitsmigrant:innen für 2023-2025 auf 452.000, gegenüber etwa 83.000 im Jahr 2022. Eine Entscheidung, die eindeutig mit dem Kontext des Bevölkerungsrückgangs und des Arbeitskräftemangels in Italien zusammenhängt und den Zynismus der herrschenden Klassen zeigt.

Während sich die Klimakrise immer weiter verschärft und der Krieg in der Ukraine die geopolitischen Blöcke der Welt erschüttert und eine Reihe regionaler Konflikte ausgelöst hat, sind die Migrationsströme weit davon entfernt, abzureißen. Doch jeden Tag ereignen sich neue Tragödien: Vor zwei Tagen, in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch, ist ein fünfjähriges Kind auf Lampedusa ertrunken. Allein im Jahr 2023 sind mehr als 2.000 Menschen im Mittelmeer gestorben oder werden vermisst. Vor diesem Hintergrund ist es zwingender denn je, für die bedingungslose Öffnung der Grenzen und die Aufnahme aller Geflüchteten zu kämpfen.

Dieser Artikel erschien zuerst auf unserer Schwesterseite Révolution Permanente am 14. September. Wir haben aktuelle Entwicklungen ergänzt.

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