5 Präsidenten in 5 Jahren: Über die Situation in Peru

17.11.2020, Lesezeit 7 Min.
Übersetzung:
1
Foto: Rodrigo Abd

In Peru wurde der amtierende Präsident abgesetzt, nur kurz darauf auch sein Nachfolger. Jetzt hält ein dritter Mann das Amt übergangsweise bis April 2021. Was bedeutet das für das Land?

Am 9. November 2020 stimmte der Peruanische Kongress für die Abwahl des zu der Zeit amtierenden Präsidenten Martín Vizcarra. Man hatte ihm Korruption vorgeworfen, die Entscheidung des Kongresses bescheinigte ihm nun “moralische Unfähigkeit”, sein Amt wahrzunehmen. Dem Präsidenten wird vorgeworfen, Bestechungsgelder für die Vergabe von Aufträge an Bauunternehmen im südlichen Departement Moquegua erhalten zu haben, wo er von 2011 bis 2014 Gouverneur war.

Nach Artikel 115 der peruanischen Verfassung übernimmt im Falle eines Amtsenthebungsverfahrens der Präsident des Kongresses bis zum Abhalten von Neuwahlen die Präsidentschaft. Das bedeutete, dass der aktuelle Präsident des Kongresses, Manuel Merino de Lama, das Amt am 10. November 2020 übernahm. Merino ist Geschäftsmann und Mitglied der Acción Popular, einer der Parteien, die bei den Parlamentswahlen im vergangenen Januar die meisten Stimmen erhielt. Seine Partei von Konservativen und Neoliberalen hat aktuell die Mehrheit im peruanischen Kongress. Merino unterstützte deswegen im Laufe seiner Amtszeit als Kongressführer alle arbeiter:innenfeindlichen wirtschaftlichen Maßnahmen von Vizcarra.

Ein neuer Präsident in einer alten Krise

Dieser Regierungswechsel fiel in eine ohnehin schon turbulente Zeit für Peru. Peru, das von der Coronavirus-Pandemie hart getroffen wurde, hat eine der höchsten Pro-Kopf-Sterblichkeitsraten der Welt – mit fast 1 Million bestätigten COVID-Fällen und 35.000 Todesfällen. Das Land steht auch vor einer der schlimmsten Rezessionen in der Region, das Bruttoinlandsprodukt (BIP) wird in diesem Jahr voraussichtlich um 12 Prozent schrumpfen.

Der Sturz von Martín Vizcarra ist Teil einer langen und tiefen politischen Krise. Einer Krise, in Zuge derer 1993 der damalige Präsident Alberto Fujimori den peruanischen Kongress sowie dessen Justiz auflöste und die volle legislative und gerichtliche Macht übernahm. Seit 2016 im Zuge eines gewaltigen öffentlichen Korruptionsskandals die Verbindungen zwischen dem Baukonzern Odebrecht und Politiker:innen und Staatsbeamt:innen öffentlich gemacht wurden, sind viele der ehemaligen Präsidenten Perus ins Gefängnis gekommen. Einer beging sogar Selbstmord, um seiner Verurteilung zu entgehen.

Und während dies in den oberen Ebenen des Staates geschieht, verlieren täglich Tausende von Arbeiter:innen ihre Arbeit, und ihre Arbeitsrechte werden beschnitten; ihre Arbeitszeit wird verlängert, und ihre Löhne werden gekürzt. Dies ist ein Ergebnis der Anpassungsmaßnahmen von Vizcarra, die mit Hilfe des Nationalen Verbandes der privaten Wirtschaftsinstitutionen (CONFIEP) durchgeführt wurden, wobei das Narrativ einer nötigen wirtschaftlichen Erholung genutzt wurde, um den Kampf gegen die Pandemie zu untergraben.

Polizeigewalt führt zur Auflösung des Kabinetts

Und so nutzte es nicht, dass Vizcarra die Amtsenthebung akzeptierte, und Merino friedlich sein Amt antrat: Auf Merinos Ernennung folgten Massenproteste. Nach massiver Ablehnung auf der Straße zeigten sich am Freitag, den 13. November 2020 die ersten wirklichen Risse in der Unterstützung der politischen Institutionen für die Übergangsregierung in Peru.

Nach Protesten am Donnerstag im ganzen Land, die mit brutaler Repression bekämpft und teilweise niedergeschlagen wurden, kündigten zwei Gruppen im Kongress, die die Übernahme durch Merino im Prinzip unterstützt hatten, an, dem neuen Kabinett unter Führung des Konservativen Ántero Flores-Aráoz „kein Vertrauen“ entgegenzubringen. Merino schwieg, trotz der Kritik an seiner Legitimität, inzwischen hatten auch England, die Vereinigten Staaten und Spanien die neue Regierung in Frage gestellt.

Obwohl Vizcarra bereits der Korruption beschuldigt worden war, löste die Art und Weise und das Tempo seiner Absetzung eine Welle von Protesten aus, nachdem der ehemalige Kongresspräsident Manuel Merino sein Amt als Präsident der Republik angetreten hatte. Zwei Tage später wählte Merino seinen Premierminister, den ultra-neoliberalen Ántero Flores-Aráoz; am Tag darauf vereidigte er ein ganzes Kabinett von technokratischen und konservativen Persönlichkeiten aus früheren Regierungen, die alle zuvor ebenfalls wegen Korruptionsvorwürfen ihr Amt verlassen hatten. Die massiven Proteste auf den Straßen fügen der Krise der politischen Instabilität seit der Vertreibung Vizcarras ein neues Element hinzu.

Am sechsten Tag der landesweiten Proteste gegen die peruanische Übergangsregierung von Manuel Merino ging die Nationalpolizei brutal gegen die Demonstrant:innen in Lima vor, setzte Schusswaffen und Tränengas ein und tötete zwei der Protestierenden. Diese Nachricht löste eine unmittelbare Krise aus, führte zunächst zur Auflösung des Kabinetts Merino, und am 15. November 2020 trat der amtierende Präsident zurück – weniger als eine Woche nach seiner Amtseinführung.

Gestern Abend wurde dann Francisco Sagasti zum neuen Übergangspräsidenten Perus, durch seine Wahl zum Präsidenten des Kongresses. Sagasti, Politiker der Zentrumspartei, ist Ingenieur und arbeitete für die Weltbank. Diese Position soll er nun bis April halten – dann stehen Präsidentschaftswahlen an.

Für eine freie und souveräne Verfassungsgebende Versammlung

Doch das Kernproblem in Peru sind nicht die Regierungswechsel. Stattdessen ist es das Regime der kapitalistischen Herrschaft selbst, das uns von der Bourgeoisie aufgezwungen wurde, und dem wir ein Ende setzen müssen.

Um auf diesem Weg voranzuschreiten, muss die Arbeiter:innenklasse mit ihren eigenen Kampfmethoden und ihren Formen der Selbstorganisation die Bühne betreten. Damit dies geschieht, müssen wir an der Seite der Arbeiter:innen fordern, dass die Führungen der großen Gewerkschaftszentren, wie die Confederación General de Trabajadores del Perú (CGTP), so bald wie möglich ein nationales Treffen der Arbeiter:innen und anderer Sektoren der Bevölkerung einberufen, um einen Kampfplan auf nationaler Ebene zu diskutieren und zu verabschieden. Das Hauptziel eines solchen Plans wäre die Durchführung eines Generalstreiks, der die Bosse dazu veranlassen würde, von der Umsetzung ihrer Anpassungspläne Abstand zu nehmen, die auch die Regierung von Sagasti sicherlich weiter anwenden wird. Dieser Generalstreik wird uns auch helfen, durch Mobilisierung und Selbstorganisation der Arbeiter:innen und der Massen eine freie und souveräne verfassungsgebende Versammlung durchzusetzen, die es uns ermöglichen wird, dem Regime von 1993, das das konkrete Erbe des Fujimorismus ist, ein endgültiges Ende zu setzen.

Dies wird nur möglich sein, wenn wir mit der Mobilisierung und Selbstorganisation der Arbeiter:innen und Massen eine freie und souveräne Verfassungsgebende Versammlung durchsetzen. Eine solche Verfassungsgebende Versammlung wird nicht aus Neuwahlen oder einem Verfassungsreferendum hervorgehen, sondern aus den Trümmern des alten Regimes von 1993. Der Kampf für diese freie und souveräne Verfassungsgebende Versammlung trägt auch zum Kampf für eine Regierung der Arbeiter als eine grundlegende Lösung bei, die es uns ermöglicht, der kapitalistischen Ausbeutung ein Ende zu setzen und zum Sozialismus voranzuschreiten. Die Situation in Peru ist unbeständig und unsicher. “Mit dem Rücktritt haben die Peruaner ihren fünften Präsidenten innerhalb von fünf Jahren gewählt”, erklärte die Post, “da die südamerikanische Nation vor ihrer schlimmsten Verfassungskrise seit dem Sturz der verdorbenen Präsidentschaft von Alberto Fujimori vor zwei Jahrzehnten stand.”

Mehr zum Thema