20 Jahre Pogrom in Rostock-Lichtenhagen

25.08.2012, Lesezeit 8 Min.
1

// Die Schuldfrage ist eine Klassenfrage //

Vor 20 Jahren überfielen hunderte Neonazis in Rostock-Lichtenhagen die Zentrale Aufnahmestelle für AsylbewerberInnen und ein Wohnheim für ehemalige vietnamesische VertragsarbeiterInnen. Flüchtlinge, ArbeiterInnen aus anderen Ländern oder mit sonstigen kulturellen und politischen Merkmalen außerhalb rechter Weltanschauungen wurden tagelang gewaltsam überfallen. Das Wohnheim der ehemaligen VertragsarbeiterInnen wurde in Brand gesteckt und von Neonazis gestürmt, während sich ca. 100 der migrantischen ArbeiterInnen in dem Gebäude aufhielten.

Dieses rassistische Pogrom wurde von tausenden nebenstehenden AnwohnerInnen bejubelt, die die Feuerwehreinsätze absichtlich blockierten. Der Polizeiapparat griff nur halbherzig ein und zog sich bald ganz zurück. Wirklich griff er nur an anderer Stelle durch: Die zum Schutz der attackierten migrantischen Lohnabhängigen angereisten AktivistInnen der damals bedeutsamen „Antifaschistischen Aktion/Bundesweite Organisation“ (AA/BO) und anderer Gruppen wurden von den Bullen angegriffen und aufgehalten.

Dieser Artikel soll das Gedenken unterstützen. Davon schließen wir allerdings die Heuchelei der bürgerlichen Presse aus, die ähnliche Pogrome aktuell mit ihrer Hetze gegen MuslimInnen und GriechInnen erneut vorbereitet. Exemplarisch dafür steht vor allem die Gedenkveranstaltung des Bundespräsidenten Gauck, der noch heute die Phrasen der damaligen „Wiedervereinigungs“-Propaganda drischt und höchst symbolisch die Opfer des Pogroms erst in letzter Minute einlud. Ebenso ist es uns mit diesem Artikel ein Anliegen, zu helfen, die Erfahrungen im Sinne zukünftigen Antifaschismus aufzuheben.

Der Imperialismus: Ursache der Fremdenfeindlichkeit

Das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen ist kein Einzelfall. Allein zwischen 1989 und 1992 gab es wenigstens 1900 rechtsradikale Anschläge. Damals war die Zeit der sogenannten „deutschen Wiedervereinigung“. Unter dieser nationalistischen Parole sicherte sich der deutsche Imperialismus sein Stück vom Kuchen des zusammenbrechenden Stalinismus. Dank Treuhand und co. verdiente die herrschende Klasse der Bundesrepublik gut am Zusammenbruch der DDR und dem darauf folgenden, rasanten Abfall der Lebens- und Arbeitsbedingungen der lohnabhängigen Klasse der „neuen Bundesländer“. Die Zukunft sollte laut herrschender Propaganda nun dem Kapitalismus gehören. Dazu mussten die sich verschärfenden Übel der als „Neoliberalismus“ bekannten bürgerlichen Restauration (mit dem Zusammenbruch des Ostblock-Stalinismus als ihrem Höhepunkt) jedoch ideologisch gedeckt werden: Der neue/alte Sündenbock hieß „Asylproblem und Ausländerfrage“.

Und das fand Anklang, nicht nur in der Mittelschicht, sondern auch in der lohnabhängigen Klasse. Nach Jahrzehnten des Stalinismus und der bürgerlichen Restauration gab es keine revolutionäre Organisation der ArbeiterInnen und Jugend, die ein politisches Gegengewicht gegen die rechte Hetze der herrschenden Klasse und ihres Parlaments hätte bieten können. Der Stalinismus hatte mit dem Einsatz und der von der restlichen DDR-Gesellschaft getrennten Unterbringung der VertragsarbeiterInnen, insbesondere aus Vietnam, selbst die ausgegrenzte Schicht produziert, die 1992 dann in den Asylbewerberheimen wohnten. Das Pogrom zeigt, dass es keine „automatische“ Verbindung zwischen ArbeiterInnenklasse und Marxismus gibt. Die revolutionäre Organisation der lohnabhängigen Bevölkerung muss im politischen Tageskampf geschaffen werden.

Das Parlament: Keine „Stimme gegen Rechts“

Das Parlament bereitete Rostock-Lichtenhagen vor und nach. Nachdem sich ihre „Asyldebatte“ in Pogrom-Form entladen hatte, änderten CDU/CSU mit Hilfe der damaligen „Opposition“ SPD das Grundgesetz und schafften das Asylrecht faktisch ab. Dies unter kapital-treuer Mithilfe Oskar Lafontaines (Linkspartei), der damals Vorsitzender der SPD war. Es zeigte sich einmal mehr: Gesetze beruhen auf keinem „gesunden Menschenverstand“, der über den Klassen stünde. Sie sind Werkzeuge des kapitalistischen Staatsapparats und stehen und fallen mit den Profitraten der herrschenden Klasse.

Die kleinen Parteien und Organisationen wurden wie immer medial übertönt. Es gewannen nur die an Einfluss, die auf der rechten Welle des etablierten Parlaments mitschwommen: Das waren damals vor allem die rechtsradikalen Republikaner und die ebenso rechte DVU (Deutsche Volks Union). Entsprechend äußerte sich der damalige bayerische Innenminister Edmund Stoiber (CSU) offen, dass die Hetze nicht den Rechtsradikalen überlassen werden dürfte.

Obwohl das Parlament damit einmal mehr die Bühne für das Vor- und Nachspiel rassistischen Terrors geboten hatte, rufen einige antifaschistische Parolen bis heute zur „Stimme gegen Rechts“ auf. Doch wie soll eine Unterstützung für SPD, Grüne oder Linkspartei helfen, wenn doch gerade ihre unsoziale Politik den sozialen Nährboden für rassistische und faschistische Ideologien bereitet?

Wir dürfen auch kein Vertrauen in Verbote rechtsradikaler Organisationen durch diesen Staatsapparat setzen, wie erst diese Woche wieder in verschiedenen Artikeln der linken Szene geschehen. Diese Verbote dienen im Endeffekt nur der repressiven Aufrüstung des bürgerlichen Staats gegen links. Der VS hat im Fall des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ bewiesen, dass er schon dafür sorgen wird, dass Nazis weiterhin über Wasser bleiben, während die Konzernmedien stets die ideologischen Grundlagen warm halten.

Die Polizei: Kein Freund, kein Helfer!

Es kann nicht gesagt werden, dass die Polizei in Rostock-Lichtenhagen dem Pogrom tatenlos zugesehen hätte. Ganz im Gegenteil hat sie es sogar unterstützt, indem sie die spontan zum Schutz der migrantischen Lohnabhängigen angereisten Antifas angriff. Das ist keine Ausnahme. Der Polizeiapparat stellt das Gewaltmonopol des kapitalistischen Staatsapparats im Inland dar. Damit dient er – gleich dem gesamten bürgerlichen Staat – der herrschenden Klasse als Gesamtheit. Es sollte also niemanden verwundern, dass er das Pogrom ebenso auf seine Art unterstützt hat, wie das Parlament es auf dessen Art vorantrieb und nachbereitete.

Besonders im Gedenken an Rostock-Lichtenhagen ist es höchste Zeit, dass die letzten Parolen von einigen Linken, einen „Keil in die Polizei“ zu treiben, verklingen und der Bullenapparat als Feind jeder revolutionären Politik wahrgenommen und aus dem Gewerkschaftsbund verjagt wird.

Die Perspektive: Revolutionärer Antifaschismus der lohnabhängigen Bevölkerung

Das Pogrom in Rostock-Lichtenhagen wurde von faschistischen AktivistInnen durchgeführt und von rassistischen AnwohnerInnen unterstützt. Beide Übel, Faschismus und Rassismus, sind Erscheinungen des kapitalistischen Systems. Denn beide Ideologien sind überaus funktional für die Spaltung der ArbeiterInnenklasse. Diese Entsolidarisierung der ArbeiterInnen wird in einer kapitalistischen Gesellschaft immer wieder geschürt, um den Widerstand gegen Ausbeutung und Unterdrückung zu Schwächen oder dem Vorzubeugen. Vor 20 Jahren zerbrachen die Illusionen innerhalb der Nachwendegesellschaft in den „goldenen Westen“. Die neue Situation in Ostdeutschland war von einer massiven Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit weiter Teile der Gesellschaft verbunden. Durch die rassistische Asyldebatte konnten die entstehenden Frustrationen aber, mit den bereitwillig hingenommenen „Nebenwirkungen“, im Sinne einer Stabilisierung des kapitalistischen Systems kanalisiert werden. Schließlich hätten beispielsweise klassenkämpferische Streiks gegen Treuhand und co. die Profite ernstlich gefährdet.

Deshalb muss Antifaschismus revolutionär sein. Dafür muss er die Klasse ansprechen, die das Potential zu seiner Überwindung besitzt: die lohnabhängige Bevölkerung. Deren Einbindung, nicht in irgendeiner Weise, sondern konkret als ArbeiterInnen, kann nicht nur heutige antifaschistische Aktionen stärken. So benötigt es zum Beispiel statt hunderter AktivistInnen nur noch eines Bahnführers/einer Bahnführerin, um einen Naziaufmarsch samt Anreise der NeofaschistInnen zu blockieren.

Die besondere Stellung der lohnabhängigen Bevölkerung im Produktionsprozess ermöglicht darüber hinaus die Kontrolle von Produktion und Austausch (den Schlüsselstellen der gesellschaftlichen Macht) und stellt damit direkt die Eigentumsverhältnisse in Frage. Und gerade weil Lohnabhängigkeit Menschen aller Religionen, Kulturen, sexuellen Ausrichtungen und Nationen auszeichnet, bietet sie das materielle Fundament für wirklichen Internationalismus und Solidarität. Diese Eigenschaften machen die revolutionäre Zerschlagung des Kapitalismus samt seines Staatsapparates und die Errichtung eines rätedemokratischen ArbeiterInnenstaates möglich.

Abschließend ist noch einmal zu betonen, dass das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen gezeigt hat, dass es keine „automatische“ Verbindung zwischen der lohnabhängigen Klasse und revolutionärem Marxismus gibt. Diese Verbindung muss von revolutionären AktivistInnen im täglichen, politischen Kampf erobert werden. Auch in der kritischen Auseinandersetzung mit dem Stalinismus. Dafür benötigt es einer revolutionären, internationalistischen Organisation und eines Programms, dass es vermag, das Bewusstsein der lohnabhängigen Bevölkerung in revolutionäre Richtung voranzutreiben. Wir halten das Übergangsprogramm der historischen Vierten Internationale für diese politische Grundlage1.

  • Gleiche Rechte für Alle, unabhängig von Herkunft, Geschlecht, Kultur oder Religion!
  • Kein Freund, kein Helfer – Verteidigung von Demos, Blockaden und Streiks selbst organisieren!
  • Kein Frieden mit diesem Staat und seinen Verbotsmechanismen – Naziorganisationen selber zerschlagen!
  • Faschismus und Kapitalismus den Boden entziehen: Enteignung der Betriebe unter ArbeiterInnenkontrolle!
  • Für einen klassenkämpferischen und revolutionären Antifaschismus!
  • Hoch die Internationale Solidarität!

Mehr zum Thema