160 Tote bei Aufständen in Kasachstan

11.01.2022, Lesezeit 10 Min.
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Foto: PromKaz / Shutterstock.com

In Kasachstan löste die Erhöhung der Gaspreise eine Revolte aus, woraufhin brutale Repression gegen die Demonstrant:innen, inmitten eines totalen Internet-Blackouts im Land, eingesetzt wurde. Der Aufstand sorgt für Unruhe in Russland, geht aber auch gegen die Interessen der westlichen Mächte, da er sich gegen die “Transformation” des Kapitalismus in dem zentralasiatischen Land richtet.

Der Gaspreis, war diesmal der zündende Funke für eine tiefgreifende soziale Explosion. Alles begann durch den exorbitanten Anstieg des Gaspreises, der nach einem Ende von Subventionen und dem Aufheben des Preislimits, für tiefgreifende Unruhe sorgte. Die Rebellion schien sich über Jahre und Jahrzehnte entwickelt zu haben.

Durch die reichen Öl- und Gasvorkommen in der westlichen Region des Landes, erreichten die Proteste schnell nationale Tragweite, woraufhin der kasachische Präsident Kassim Khomart Tokajew diesen zunächst mit Zugeständnissen entgegen kam, um die Situation zu beruhigen. Er löste die Regierung auf, „setzte“ die Gaspreiserhöhung aus und führte vorübergehend wieder ein Preislimit ein. Tokajew brachte sogar Nursultan Nasarbajew, der das Land von 1990 bis 2019 regierte, dazu, von seinem Sitz im Sicherheitsrat zurückzutreten, wobei Tokajew weiterhin die Macht in Kasachstan innehält.

Doch nichts half, die Proteste gingen weiter.

Durch die für ihn dramatischen Ausmaße der Lage ergriff Präsident Tokajew die oben erwähnten Maßnahmen. Die Proteste entwickelten sich in eine offenen Revolte. Vor allem in Almaty, der wirtschaftlichen Hauptstadt des Landes, wurden mehrere Amtsgebäude gestürmt und in einigen Fällen sogar in Brand gesetzt. Die Demonstrant:innen besetzten mehrere Stunden lang den Flughafen der Stadt, bevor sie von den Kräften der Regierung vertrieben wurden. In einer Stadt nahe Almaty wurde eine Statue von Staatschef Nasarbajew gestürzt.

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Bild: „Karte der politischen Gliederung von Kasachstan by TUBS is licensed under CC BY-SA 3.0

Die Regierung griff schnell und hart durch. Das Internet im Land wurde abgeschaltet und selbst die Kommunikation per Telefon ist nur eingeschränkt möglich. Es kam zu heftigen Zusammenstößen zwischen Einsatzkräften und Demonstrant:innen, bei denen es Tote und Verletzte auf beiden Seiten gab. Um die Situation zu bewältigen wandte sich Der kasachische Präsident  an die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS), die von mehreren ehemaligen Sowjetrepubliken, darunter auch Russland, gegründet wurde.

Auf diesen Ruf hin kamen unmittelbar Truppen aus Russland und anderen Ländern nach Kasachstan, mit dem Auftrag insbesondere die Infrastruktur zu schützen. Damit überließen das Land der Repression durch lokale Sicherheitskräfte.

Einige Analysten sind jedoch auch der Ansicht, dass der Ruf nach den OVKS-Truppen durch das Misstrauen der Behörden gegenüber der Loyalität bestimmter Teile der Sicherheitsklräfte motiviert war. Obwohl es nach wie vor sehr schwierig ist, verlässliche Zahlen zu erhalten, sprechen wir mitlerweile von 164 Toten und knapp 2000 Verletzten, wie viele davon Zivilisten sind ist nicht bekannt. Außerdem gibt es rund 10.000 Festnahmen.

Es ist nicht möglich, mit Sicherheit zu sagen, wie weit dieser Aufstand gehen wird. Viele Hypothesen über die Motivationen der Rebellion überschwemmen die Zeitungen: westliche Verschwörung, interner Kampf zwischen Fraktionen der Oligarchie… Doch abgesehen von den Überlegungen, wer von der Situation profitieren könnte, ist eins klar: Diese Bewegung ist Ausdruck der Frustrationen über die tiefen Missstände in der Gesellschaft, die sich in den letzten Jahrzehnten, die seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion Anfang der 1990er Jahre als „Transformation“ bezeichnet werden, angesammelt haben.

Eine Revolte gegen das kapitalistische „Transformations“-Regime

Aynur Kurmanov von der Sozialistischen Bewegung Kasachstans erklärt: “Die Arbeiter von Schangaösen waren die ersten, die sich erhoben. Die Gaspreiserhöhung diente nur als Auslöser für die Massenmobiliserungen, schließlich türmte sich der Berg an sozialen Problemen seit Jahren auf. Im vergangenen Herbst wurde Kasachstan von einer Inflationswelle heimgesucht. Zu bedenken ist, dass Waren die in die Region Mangghystau importiert werden dort immer 2-3 mal teurer waren. Doch mit einer Welle von Preiserhöhungen Ende 2021 sind die Kosten für Lebensmittel noch wesentlich stärker gestiegen. Außerdem ist zu beachten, dass der Westen des Landes die Arbeitslosigkeit hoch ist. Im Zuge der neoliberalen Reformen und Privatisierungen wurden die meisten Unternehmen dort geschlossen. Der einzige hier noch tätige Sektor sind die Ölproduzenten, diese sind zum größten Teil in den Händen von ausländischem Kapital. Bis zu 70 Prozent des kasachischen Öls wird in westliche Märkte exportiert und auch der größte Teil der Gewinne geht an ausländische Eigentümer“.

Ein von The Guardian befragter Demonstrant nannte auch andere Gründe für die Rebelion als die Gaspreiserhöhung, darunter Korruption, Vetternwirtschaft und soziale Ungleichheit. „Nasarbajew und seine Familie haben alle Sektoren monopolisiert, von den Banken bis hin zu Straßen und Gas. Diese Demonstrationen haben mit der Korruption zu tun (…) Alles begann mit der Erhöhung des Gaspreises, aber der wahre Grund für die Demonstrationen sind die schlechten Lebensbedingungen der Menschen, die hohen Preise, die Arbeitslosigkeit und die Korruption“, erklärt er.

In vielerlei Hinsicht ist Kasachstan ein Paradebeispiel für die „Übergangsländer“ der ehemaligen Sowjetunion. In diesen Ländern wurde die Wiederherstellung des Kapitalismus und der „Stabilität“ durch ein diktatorisches Regime gewährleistet, das direkt von der stalinistischen Bürokratie der Kommunistischen Partei in der ehemaligen UdSSR tief korrumpiert wurde. Kasachstan ist vielleicht eines der Länder, in denen die Umwandlung von Bürokraten in Bourgeoisie am deutlichsten war. Der Präsident zur Wiedereinführung des Kapitalismus, Nursultan Nasarbajew, war 1984 Ministerpräsident und wurde Ende der 1980er Jahre Erster Sekretär der Kommunistischen Partei Kasachstans. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR wurde er nicht nur zum „starken Mann“ des Landes, sondern seine Familie wurde zu einer der reichsten eines Landes, in dem das Durchschnittsgehalt nur 7.000 US-Dollar pro Jahr betrug. Darüber hinaus ist festzustellen, dass Nasarbajew den für den Stalinismus typischen Personenkult beibehalten hat. So wurde die ehemalige Hauptstadt des Landes, Astana, nach dem Vornamen von Nasarbajew umbenannt: “Nursultan“.

Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass sich der Hass der Bevölkerung auch gegen diese Person richtet und die Demonstrant:innen zahlreiche Parolen gegen den ehemaligen Präsidenten skandierent. Durch ihn wird das gesamte Regime des „Übergangs“-Kapitalismus angeprangert. Eine Spielart des Kapitalismus die sehr stark vom Export von Kohlenwasserstoffen abhängig ist, sehr hart zu den Ausgebeuteten des Landes, aber sehr freundlich gegenüber den großen kasachischen und multinationalen Kapitalist:innen ist.

Ein Regime, das Russland, aber auch westlichen multinationalen Unternehmen freundlich gesinnt ist

Auch wenn man den Eindruck haben könnte, dass Kasachstan eines der Länder ist, die zur „Einflusszone“ Russlands gehören, ist die Realität viel komplexer. Das Land war im Laufe der Jahre sicherlich ein privilegierter Partner Russlands, aber seine Regierung hat sich stets bemüht, sehr gute Beziehungen zu China und anderen westlichen imperialistischen Mächten zu erhalten, was auch eine Möglichkeit ist, dem russischen Einfluss entgegenzuwirken.

Ein Beleg für diese Nähe zum westlichen Kapital ist ein Artikel im Forbes Magazin vom Juli 2021, in dem es heißt: „Westliche Unternehmen, angeführt von großen amerikanischen Namen, begannen zunächst in den Öl- und Gassektor zu investieren, dann in viele andere Branchen. Sie reichen von General Electric, das an Eisenbahnen und alternativen Energien beteiligt ist, über Technikriesen, bis hin zu Konsumgüterunternehmen wie PepsiCo und Procter & Gamble. Die gesamten ausländischen Direktinvestitionen beliefen sich im Jahr 2020 auf 161 Mrd. USD, davon 30 Mrd. USD aus den Vereinigten Staaten“. Euronews seinerseits erwähnte im vergangenen Dezember die multinationalen Unternehmen, die während eines Investitionsforums eine Auszeichnung für die „langfristige Zusammenarbeit“ mit Kasachstan erhielten: „Zu diesen Unternehmen gehören der Energiekonzern Chevron, der französische multinationale Konzern Total Energies, die Hevel Energy Gruppe, der georgische Industriekonzern Goldbeck Solar, das Pariser Unternehmen Danone, der Schweizer Vermögensverwalter INOKS Capital, das polnische Pharmaunternehmen Polpharma, der französische Molkereimulti Lactalis und viele andere“.

Kasachstan ist in der Tat ein sehr wichtiges Land, sowohl regional als auch weltweit. Aus diesem Grund wird die Situation von Moskau und den westlichen Hauptstädten genau beobachtet. Wie Emma Ashford für den pro-imperialistischen Think Tank Atlantic Council feststellt: „Kasachstan ist für die Wirtschaft der europäischen und in geringerem Maße auch der asiatischen Staaten von überraschender Bedeutung, da seine politische Stabilität es ihm ermöglicht hat, ein wichtiger Exporteur von Erdöl, Erdgas und Kohle zu werden. Kasachstan ist auch ein wichtiges Energietransitland für die benachbarten ressourcenreichen zentralasiatischen Staaten. Die Proteste betrafen bereits die Arbeiter des Tengis-Ölfeldes, obwohl die Produktion bisher nicht beeinträchtigt wurde. Wenn diese Proteste so groß werden, dass sie die Energieproduktion oder den Energietransit unterbrechen, könnten sie wirtschaftliche Auswirkungen haben, die in keinem Verhältnis zur politischen Bedeutung Kasachstans stehen.

Für Russland ist schließlich das, was in Kasachstan geschieht, von besonderer Bedeutung. Das zentralasiatische Land ist für die russische Verteidigungsstrategie von zentraler Bedeutung. Seine Destabilisierung beunruhigt die russischen Behörden, die einen Großteil ihrer Energie darauf verwenden, ein ganzes Netz von Ländern zu erhalten, das Russland vor jedem möglichen Angriff schützt. Dies ist umso wichtiger, da Moskau sich durch die angespannte Situation mit der Ukraine, im Konflikt mit den Mächten an seiner Westgrenze befindet.

Mit der Krise in Kasachstan hatte niemand gerechnet, weder russische noch westliche Analysten. Dies ist eine böse Überraschung für Moskau. Kein Wunder, dass pro-russische Zeitungen gegen die westliche „Verschwörung“ wettern, natürlich ohne irgendwelche Beweise vorzulegen. Die Realität ist jedoch, dass Putin und sein Regime zutiefst konterrevolutionär sind und sich jeder direkten Aktion der Massen widersetzen. Ein „Überlebensinstinkt“, den man zweifellos in der stalinistischen KGB-Schule gelernt hat, aus der Wladimir Putin stammt.

Im Wettbewerb zwischen den Mächten, der durch ständige Reibungen und drohende zwischenstaatliche Konflike, immer härter und direkter wird, werden große Klassenkonflike, die manchmal aus dem Kalkül der herrschenden Klassen zu verschwinden scheinen, immer weiter zunehmen.

Wir können nicht wissen, wie sich die Lage in Kasachstan entwickeln wird. Vielleicht gelingt es dem Regime sich, mit Hilfe seiner Verbündeten und durch respressives Vorgehen, zu retten, indem es die Mobilisierungen in die Schranken weist.

Aber dies ist eine Warnung. Nicht nur für die kasachische Führung, sondern für eine ganze Reihe von autoritären Regimen in der Region und weltweit. Die Arbeiter:innenklasse und der Klassenkampf werden nicht aufhören, bis sie in der nächsten Periode angelangt sind.

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