Yasmin Fahimi, wir wollen einen Generalstreik gegen Kürzungen organisieren!

20.10.2025, Lesezeit 15 Min.
1
Bild: Radowitz / Shutterstock.com

Die DGB-Spitze droht dem angriffslustigen deutschen Kapital mit Streik. Wie kommen wir tatsächlich dahin und was hält die Arbeiter:innenklasse bisher gefangen?

Ausweitung der Arbeitszeit mit Ende des historisch erkämpften Acht-Stunden Tags, anstehende Angriffe auf die Pflege, noch mehr Abschreckung durch Bürgergeld-Kürzung – die Liste der geplanten Angriffe der „Großen Koalition“ von Unionsparteien und SPD ist lang. Sie schließt an die beispiellose Aufrüstung der „Sondervermögen“ an, die durch Sozialkürzungen bezahlt werden sollen. Und sie findet statt vor einem Szenario der autoritären Politik gegen Palästina-Aktivist:innen, gegen die inzwischen sogar der UN-Menschenrechtsrat eingegriffen hat, einer Regierungspolitik, die Forderungen der AfD gegen Links, gegen Migrant:innen „im Stadtbild“ (Friedrich Merz) und gegen Feminismus bei jeder Gelegenheit umsetzt. 

„Wenn wir so weitermachen, dann bekommen wir gesellschaftliche Zerwürfnisse, auf die wir als Gewerkschaften auch entsprechend antworten werden“, warnt Yasmin Fahimi, die Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), vor den bevorstehenden Angriffen des Kapitals auf Jobs und Sozialleistungen. Gleichzeitig beschwichtige sie aber, die Gewerkschaften seien jederzeit bereit „mit den Arbeitgebern an einen Tisch zu setzen, um gemeinsam über die Sicherung von Standorten und kluge Investitionen zu reden“, wenn man ihnen die Hand reiche – also die klassische Sozialpartnerschaft, die uns genau in die Misere bracht hat, in der wir jetzt sind.

Richtigerweise stellt Fahimi fest, dass die 0,6 Prozent sogenannten „Totalverweigerer“ beim Bürgergeld keine relevante Größe darstellen – wobei wir ergänzen möchten, dass der Begriff „Totalverweigerer“ bereits ein neoliberaler Kampfbegriff ist für Kolleg:innen, die aufgrund ihrer gesundheitlichen oder psychosozialen Lange oft nicht arbeiten können oder zurecht nicht bereit sind, jeden miesen Job noch so weit weg für Billiglohn anzunehmen. Bleiben wir aber bei Fahimis Warnung, „entsprechend (zu) antworten“: Denn es ist gut möglich, dass die Merz-Regierung eine Handreichung verweigern wird. Was also dann, wie sieht die entsprechende Antwort aus?

Wenn die „Spaltung der Gesellschaft“ sich fortsetzt, bei weiterer „neoliberaler Marktpolitik“ durch Unternehmen, droht Fahimi schließlich mit massiven Streiks – das war die Schlagzeile, das ist leider noch nicht die Realität. Den „gesellschaftlichen Großkonflikt“, den Fahimi befürchtet, kann nämlich nur eine aktive Arbeiter:innenklasse mit Streiks lösen. Wir brauchen einen Generalstreik. Denn vor dem Klassenkampf hat Kanzler Merz Angst, wie er selbst in Bezugnahme auf die Gelbwesten bei „Caren Miosga“ zugab.

Lernen aus Italien, Argentinien und Frankreich

Lasst uns also Yasmin Fahimis Worte weiterdenken und einen Generalstreik gegen Kürzungen vorbereiten. Der fällt nicht vom Himmel: Auch in Italien, als die Kolleg:innen Anfang Oktober in den Generalstreik gegen den Völkermord in Gaza traten, brauchte es zuvor Vorbereitung durch Basisgewerkschaften und Aktivist:innen. Eine bewusste Avantgarde ging der Arbeiter:innenklasse voraus und organisierte bereits zuvor politische Streiks und Blockaden, aber richtete sich auch an die Klasse als Ganzes, konnte sie so schließlich anführen. Dann stand Italien „plötzlich“ still und die Arbeiter:innenklasse war endlich in die Verteidigung Gazas eingetreten, was einen enormen Druck auf die Regierungen erzeugte – aber mehr noch zeigte, dass die Arbeiter:innen nicht dazu verdammt sind, kleinere Übel zu wählen oder zu ertragen, sondern selbst eine aktive Rolle in der Geschichte spielen können. 

Italien ist nicht Deutschland, wird nun jemand sagen. Das ist richtig, aber Deutschland im Jahr 2025 ist auch nicht mehr Deutschland im Jahr 2021 vor dem Ukraine-Krieg oder Deutschland im Jahr 2003 vor den Hartz-Reformen. Es gibt heute mehr Politisierung und Polarisierung als in der Generation zuvor, weniger Illusionen in das Kapital und mehr Kampfbereitschaft, die aber noch von Bürokratien und dem Reformismus gefangengehalten werden. Wir haben dieses Jahr große Jugendbewegungen gegen Faschismus zu Jahresbeginn und in Solidarität mit Palästina erlebt. Wir haben eine ganze Menge Streiks der Arbeiter:innen, die bisher zwar von der Bürokratie abgewürgt werden, bevor sie viel Schaden für das Kapital anrichten können, aber es gibt einen Klassenkampf, trotz „angezogener Handbremse“.

In diesem Fall führen mehrere Wege gleichzeitig nach Rom, die sich aber vereinigen müssen, um ihre Ziele zu erreichen: Zum einen gilt es für Gewerkschaftsaktive, Aktivist:innen, neu Politisierte, die bestehenden Bewegungen gegen Rechts und für Palästina nicht versacken zu lassen, sondern gegen die Schuldigen am Rechtsruck und am Völkermord zu richten, das Kapital. Hier existieren bereits Initiativen wie „Rheinmetall entwaffnen“ oder das Palästina Aktionsbündnis Leipzig, die genau das versuchen. Sie können eine Avantgarde bilden, wenn sie das nicht für sich allein machen, sondern in Schulen, Unis und Betrieben Komitees der Selbstorganisation aufbauen, die Teile der Arbeiter:innenklasse mitnehmen und anführen können, etwa auch bei Blockaden gegen die Neugründung der AfD-Jugendorganisation in Gießen im November, wie es zuvor schon die Initiative „Wir fahren zusammen“ gemacht hat. Auch der Tag gegen Gewalt an Frauen am 25. November kann eine Möglichkeit sein, an Arbeits- und Lernorten gegen den Regierungskurs zu organisieren, denn der Sozialkahlschlag und die Militarisierung im inneren richten sich am meisten gegen Frauen und Queers, ebenso wie die Kriege und der Genozid im äußeren.

Zum anderen gilt es, Gewerkschaften und Streiks bewusst zu politisieren. Ohne einen aktiven Kern in der Arbeiter:innenklasse selbst können die mutigsten Bewegungen dem Kapital nicht die Stirn bieten und auch keine alternative Perspektive gegen den Kapitalismus aufstellen. Die Arbeiter:innenklasse muss übergangsweise lernen, dass sie selbst nicht nur einen Einfluss auf die Geschichte hat, die Politik selbst in die Hand nehmen kann, sondern auch ihre eigenen Streiks, Arbeitsplätze, Wohnorte, schließlich ganze Länder ohne Kapitalist:innen selbst kontrollieren und verwalten kann. Beispiele dafür sind Fabriken unter Arbeiter:innenkontrolle wie die Keramikfabrik Fasinpat / Zanon in Argentinien, von denen aus die Arbeiter:innen in den Kampf etwa gegen Rechts oder um die Renten wie von einer „Bastion“ aus eingreifen können. Dafür müssen die Arbeiter:innen auch lernen, erstmal ihre eigenen Streiks und Gewerkschaften mit basisdemokratischen Versammlungen, bindenden Beschlüssen, Funktionsträger:innen ohne Privilegien kontrollieren zu können. 

Beispiele wie Zanon, das vor über 20 Jahren von ihrem Kapitalisten geschlossen und dann in einem großen Kampf unter Arbeiter:innenkontrolle enteignet wurde, werden aktueller, zumal in Deutschland im Jahr 2024 schon 120.000 Arbeitsplätze in der Industrie abgebaut wurden und auch Schließungen üblicher werden. Der Kampf um Zanon wurde nicht rein ökonomisch geführt, sondern zusammen mit den Communities vor Ort, etwa den Indigenen. Er wurde auch nicht nur spontan geführt, sondern durch jahrelange bewusste Tätigkeit sozialistischer Aktivist:innen und einen Kampf um die Rückeroberung der Keramikgewerkschaft gegen die Bürokratie, der die Erfolge ermöglichte. Analog dazu können wir unsere Streiks auch in Deutschland nicht in die eigenen Hände nehmen, wenn sie nicht auch politisch werden, sich besonders gegen die seit „Agenda 2010“ beispiellosen Sparprogramme der Regierungen richten sowie gegen die damit verbundene Hochrüstung, Militarisierung und autoritäre Politik. Das politische „Streiktabu“ – denn gesetzlich wurde der politische Streik in Deutschland nie verboten –, wird nicht zuerst vor Gerichten gekippt, sondern durch Arbeiter:innen selbst, die mit Solidaritätskomitees von Jugendlichen zusammen um mehr streiken können als einen halben Inflationsausgleich bei jahrelanger Laufzeit. 

Streiks finden zwar oft an mehreren Orten gleichzeitig statt, sind aber meist noch getrennt voneinander. Hier können wir etwa von Frankreich lernen, das in den letzten Jahren viele Phasen des Klassenkampfes durchlief. Zuletzt wurde durch Kämpfe ein Teilsieg errungen, die Verschiebung der Rentenreform. Mit der Koordinierung von Streiks und Versammlungen, wie in Frankreich, können einzelne Kämpfe wie aktuell zum Beispiel bei Deliveroo oder ab Dezember im Tarifvertrag der Länder (TV-L) ausgedehnt werden (viele weitere Beispiele mehr sind möglich). Durch Koordinierung von Streiks miteinander sowie mit anderen gesellschaftlichen Kämpfen wie gegen Rechts und gegen Militarisierung, werden diese zum einen stärker, denn Solidarität macht stark. Aber sie werden auch mehr und mehr die Gesamtinteressen der Arbeiter:innenklasse vertreten können, nicht nur einzelner Berufsgruppen, die wie im Fall der Industriegewerkschaften durch die nationalistische „Standortlogik“ gefangen gehalten werden. 

Aus der Gefangenschaft ausbrechen

Bei der politischen Gefangennahme der Arbeiter:innenklasse in der Standortlogik und Logik der Sozialpartnerschaft spielt zum einen die Bürokratie der Gewerkschaften eine Rolle, also der gigantische Apparat an Hauptamtlichen, der objektiv andere Interessen hat als die Arbeiter:innen und immer die Möglichkeit zur Vermittlung mit dem Kapital aufrecht erhalten will. Daher unterstützen die Spitzen der Gewerkschaftsbürokratie auch den Kurs der Aufrüstung in „Sondervermögen“ mit der Illusion, die Arbeiter:innen könnten etwas von der Militarisierung abbekommen – das ist ein altes Spiel und immer gescheitert, denn Aufrüstung und Krieg werden nicht für die Arbeiter:innen gemacht, sondern für die Gewinne ihrer Gegner:innen, der Kapitalist:innen. Dem begegnet man nur erfolgreich durch Streikdemokratie, Basisentscheidungen, Koordination kämpfender Sektoren der Arbeiter:innen und Jugend sowie Politisierung der eigenen Gewerkschaften – wie die Beispielen aus Italien, Argentinien und Frankreich zeigen. 

Zum anderen aber spielt auch der Reformismus eine Rolle darin, die Arbeiter:innenklasse in ihrer Rolle zu beschränken. Unter Reformismus verstehen wir politische Strömungen, die die Illusion geben, durch Reformen könnte der kapitalistische Staat ein Staat im Interesse der Arbeiter:innenklasse anstatt des Kapitals werden. Durch Regierungsbeteiligungen sind diese Parteien, allen voran die SPD seit über 100 Jahren, aber seit den 90ern auch die PDS und dann Die Linke in den Ländern, dann selbst zu Vertreter:innen kapitalistischer Staaten geworden. Als solche setzen sie Repression gegen Demos, Abschiebungen und Zwangsräumungen durch. Sie stellen sich gegen demokratische Entscheidungen wie Rot-Rot-Grün, das in Berlin den Volksentscheidung zur Enteignung von Deutsche Wohnen und Co. nicht umsetzte. Sie beteiligen sich an der Schließung von Kreißsälen, wie SPD, Grüne und Linkspartei in München 2024/25, gegen alle Versprechen. Viele Beispiele mehr sind möglich. Sie stehen außerdem in Streiks im Öffentlichen Dienst trotz vielfacher Solidaritätserklärungen objektiv oft auf der anderen Seite – nämlich auf der Seite der Sparhaushalte der Länder und Kommunen, in denen sie mit regieren.

Kommen wir also auf Yasmin Fahimi zurück, die, bevor sie DGB-Vorsitzende wurde, unter anderem Generalsekretärin der SPD war. Wird sie ihre angedeutete Drohung nach Streiks gegen Kürzungen wahr machen, wenn „ihre“ SPD im Bund mit regiert? Kaum. Im Gegenteil machen Yasmin Fahimi und ihre Kompagnons in den Führungen der Mitgliedsgewerkschaften solche Ansprachen, um die Kontrolle über die Arbeiter:innen nicht zu verlieren, deren Jobs und Zukunft immer mehr bedroht werden – nur um dann am Verhandlungstisch Abfindungen auszuhandeln, bei denen Entlassungen und Stellenabbau „abgefedert“ werden sollen, während es stetig bergab geht, also eine Verwaltung des Niedergangs, wie zuletzt bei VW, wo unter Segen der Gewerkschaftsspitzen ein Stellenabbau von 35.000 Jobs stattfand

Gerade aus Desillusionierung durch die SPD und Grünen im Bund sind dieses Jahr viele junge Leute und Arbeiter:innen in die Linkspartei eingetreten. Deren Mitgliederzahl hat sich innerhalb eines Jahres verdoppelt. Neue Mitglieder werden ihre Partei nun daran messen, wie sie den Rechtsruck und den Sozialabbau bekämpfen kann und möchte. Und, was derzeit der größte Widerspruch zwischen Basis und Führung in der Partei ist, an der Haltung zu Palästina – zumal sich die Linkspartei offiziell nach wie vor als Partner Israels sieht, während immer mehr Linkspartei-Aktivist:innen der Basis für ein Ende der Apartheid insgesamt eintreten. Wenn diese 60.000 neuen Mitglieder, wie Generationen vor ihnen in SPD, PDS und Die Linke, zum Stillhalten im Klassenkampf verdonnert werden und ihre Stimme nur bei der Wahl abgeben dürfen, werden diese massiven Neueintritte im Sand verlaufen und sich in Erschöpfung verlieren. Wir sind in einer Übergangssituation von wenig zu mehr Klassenkampf und die Eintrittswelle ist ein solches Übergangsphänomen – entweder sie geht voran und konfrontiert den Reformismus oder sie fällt zurück, das ist noch nicht ausgemacht.

Lasst also auch die Linkspartei-Strukturen dazu auffordern, in Einheitsfronten mit Arbeiter:innen statt mit Kapital und Staat zu gehen, indem sie politische Streiks vorbereiten, Betriebsversammlungen dafür organisieren, innerhalb von Gewerkschaften für Streiks gegen die Kürzungen eintreten und bestehende Kämpfe miteinander verbinden. Lasst uns konsequent gegen Zusammenarbeit mit Israel und gegen jede Regierungsbeteiligung eintreten sondern für die Aktivität der Arbeiter:innenklasse selbst. Dies ist nicht als ein Kampf mit Anträgen und Posten innerhalb der Apparate möglich, denn hier wird die Bürokratie mit ihrer Erfahrung und ihren Ressourcen immer die Überhand haben – und es wäre nicht viel zu gewinnen, denn auch eine „linkere Bürokratie“ könnte nur das bestehende Übel weiter mit verwalten.

Sondern der Kampf ist in gemeinsamen Versammlungen und Aktionen an Unis, Schulen und Betrieben zu führen, in Vereinigung der Arbeiter:innen mit den Kämpfen gegen Rechts und Aufrüstung sowie für Palästina. Lasst uns aus der Gefangenschaft durch Bürokratie und Reformismus ausbrechen. Lasst uns Komitees gründen, die mit einer solchen Perspektive für politische Streiks kämpfen – und für den Generalstreik gegen Merz‘ Kürzungen! Lasst uns zum DGB sagen: „Yasmin Fahimi, wir wollen einen Generalstreik gegen Kürzungen organisieren!“ Aber lasst uns nicht warten, bis der DGB uns das erlaubt, sondern jetzt mit Schritten der Selbstorganisation beginnen. 

Mehr zum Thema