Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen?

Wie lebt es sich mit 563 Euro im Monat? Eine neue Studie von „Sanktionsfrei e.V.“ zeigt: Bürgergeld bedeutet für viele Hunger, Schulden und Scham. Doch was wäre eine Gesellschaft, die Erwerbslosigkeit nicht bestraft – sondern auffängt? Höchste Zeit, den Umgang mit Erwerbslosigkeit grundlegend zu verändern.
„Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.“ – Ein Satz, den in der Debatte um das Bürgergeld nur wenige offen aussprechen, der aber unausgesprochen mitschwingt. Immer wieder wird gefordert, die Lebenslage von Bürgergeldempfänger:innen weiter zu verschärfen. Erwerbslose gelten als „faul“ und „arbeitsscheu“ – und sollen diszipliniert werden.
Doch was ist mit den Alten? Den Kranken? Den frischgewordenen Eltern? Den Ausgebrannten? Den Menschen, die nicht funktionieren können – oder nicht mehr wollen? Sollen sie einfach hungern?
Eine neue Studie des Vereins Sanktionsfrei zeigt eindrucksvoll, was Bürgergeldbeziehende längst wissen: Das Bürgergeld reicht nicht zum Leben. Noch weniger zum Teilhaben. Und schon gar nicht zur Würde. Oder wie es eine befragte Person formuliert: „Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel.“
Armut als politisches Mittel
Seit der Umbenennung von Hartz IV in Bürgergeld im Jahr 2023 wurde viel versprochen – aber wenig gehalten. Der Regelsatz liegt bei 563 Euro. Laut der Studie sagen 72 Prozent der Befragten, dass dieser Betrag nicht für ein würdevolles Leben reicht. Nur 9 Prozent glauben, sich davon gesund ernähren zu können. Jede:r Zweite gibt an, dass in ihrem Haushalt nicht alle satt werden. Über ein Drittel verzichtet auf Essen, um andere Bedürfnisse zu decken. Besonders betroffen sind Eltern: 54 Prozent von ihnen hungern, damit ihre Kinder essen können.
Das ist kein Versehen – das ist System. Die Grundsicherung ist so niedrig, weil sie Druck erzeugen soll: Geh arbeiten – oder verhungere. Der Regelsatz als Erpressung.
„Mit dem Regelsatz kann man überleben, für ein würdevolles Leben mit sozialer Teilhabe reicht es leider nicht.“ – Bürgergeldbezieher:in in der Sanktionsfrei-Studie
Wer nicht funktioniert, wird aussortiert
Die Realität von Erwerbslosen ist geprägt von Scham, Kontrolle und Entwürdigung. 77 Prozent fühlen sich durch ihre finanzielle Lage psychisch belastet, 42 Prozent schämen sich dafür, Bürgergeld zu beziehen. Und nur 12 Prozent fühlen sich der Gesellschaft zugehörig.
Dabei sind nur etwa 230.000 Menschen im Bürgergeldbezug tatsächlich ohne sogenannte Vermittlungshemmnisse und damit formal „arbeitsmarktfähig“. Der Rest? Menschen mit Pflegeverantwortung, Krankheit oder Behinderung, ohne Ausbildung, Alleinerziehende. Trotzdem behandelt das System sie wie faules Kapital: Wer nicht verwertbar ist, hat verloren.
Existenzsicherung ist ein Recht – kein Tauschhandel
Jeder Mensch hat ein Recht auf ein gutes Leben – unabhängig davon, ob er arbeitet, krank ist, Kinder großzieht oder einfach eine Pause braucht, um wieder auf die Beine zu kommen. Doch unser aktuelles System behandelt dieses Recht wie eine Gegenleistung: Nur wer sich verwertbar macht, darf leben – alle anderen werden aussortiert oder unter Druck gesetzt.
Dabei entsteht der Reichtum in dieser Gesellschaft nicht durch Spekulation oder Kapitalanlagen, sondern durch Arbeit. Und zwar auch durch jene Arbeit, die unsichtbar bleibt: Pflege, Sorgearbeit, Erziehung, Bildung, Kultur. Viele Menschen im Bürgergeldbezug leisten genau das – und werden dennoch entrechtet.
Die Forderung nach einer sanktionsfreien Mindestsicherung ist daher keine Utopie, sondern die logische Konsequenz aus der Realität, die Betroffene täglich erleben. Eine alleinerziehende Mutter schreibt: „Ich verzichte auf so gut wie alles, um meinem Kind ein halbwegs gutes Leben bieten zu können.“ Eine andere Person berichtet: „Wenn ich Grundbedürfnisse bezahle, bleibt kaum noch etwas für andere Dinge übrig. Sonderausgaben machen mir Angst.“
Es zeigt sich: Ein Leben in Angst vor Stromnachzahlungen, Jobcenter-Briefen und leerem Kühlschrank ist kein Leben in Würde – es ist ein permanenter Ausnahmezustand.
Wir brauchen ein garantiertes Einkommen, das Armut unmöglich macht – etwa 1.200 Euro netto für alle Erwachsenen, ohne Sanktionen oder Schikanen. Die Kosten für Miete, Strom und Gesundheit müssen vollständig übernommen werden, weil sie zur Grundversorgung gehören. Wohnen ist ein Recht und keine Ware. 12 % der Bürgergeldhaushalte zahlen aus eigener Tasche drauf, viele fürchten Wohnungslosigkeit – und das zu Recht, denn 28 % machen sich Sorgen, ihr Zuhause zu verlieren. Deshalb fordern wir einen Mietenstopp, die Enteignung der Wohnungskonzerne und den Aufbau kommunaler Wohnprojekte. Wohnen, Bildung, Mobilität und Energie dürfen nicht vom Geldbeutel abhängen, sondern müssen frei zugänglich sein – für alle.
Denn niemand soll gezwungen sein, sich selbst aufzugeben, nur um überleben zu dürfen. Oder wie es ein Befragter in der Studie auf den Punkt bringt: „Man kann überleben, aber es darf nichts Größeres passieren.“
Recht auf Arbeit statt Arbeitszwang
Wir wollen Arbeit – aber nicht jede Arbeit. Nicht schlecht bezahlt, nicht unter Zwang, nicht unter Bedingungen, die krank machen. Wir wollen Arbeit, die sinnvoll ist, die Gesellschaft nützt, die Menschen stärkt.
Für viele im Bürgergeld ist genau das eine ferne Aussicht: Sie wollen arbeiten, doch sie werden in schlecht bezahlte, instabile oder nicht passende Jobs gedrängt – oder erleben gar keine Unterstützung. Eine Befragte beschreibt die Realität so: „Es werden nur Forderungen gestellt. Auf mich und meine Wünsche wird absolut keine Rücksicht genommen.“
Arbeit soll kein Zwang sein, sondern ein Recht – verbunden mit echter Wahlfreiheit und mit Würde. Wer arbeiten will, soll dies tun können – mit Tariflohn, mit einer 35-Stunden-Woche, mit Sicherheit. Wer nicht kann oder nicht will, soll trotzdem ein gutes Leben führen dürfen – ohne Angst vor Entzug, Demütigung oder Armut.
Denn wie soll jemand arbeiten, wenn bereits der Alltag nicht mehr zu bewältigen ist? Eine Person aus der Studie sagt: „Ich kämpfe täglich, schreibe alle Einnahmen und Ausgaben akribisch auf, damit wir einigermaßen über die Runden kommen.“ Eine andere: „Ein Job, mehr Geld, gute und gezielte Förderung. Sicherheit, dass keine Kürzungen drohen.“
Dafür braucht es öffentliche Programme, die gute Arbeitsplätze schaffen – in der Pflege, im Bildungsbereich, im sozialen und ökologischen Umbau. Diese Arbeit muss demokratisch organisiert sein, von denen, die sie tatsächlich tun – nicht von Behörden, die Menschen von Maßnahme zu Maßnahme schicken.
Es braucht eine Umkehr: Nicht wir sollen der Arbeit dienen, sondern die Arbeit den Menschen. Erst dann ist sie wirklich frei.
Schluss mit der Schikane!
Nur 16 % der Befragten fühlen sich vom Jobcenter individuell gefördert. Die Mehrheit kennt keine Anlaufstellen, hat Angst vor Bescheiden und erlebt Bestrafung statt Hilfe.
Wir sagen deshalb: Schluss mit der Repressionsmaschine Jobcenter. Stattdessen fordern wir kommunale Sozialzentren, die selbstverwaltet von Betroffenen organisiert werden. Dazu gehören kostenlose Sozialberatung, Rechtsbeistand und Kinderbetreuung sowie die Einrichtung von Erwerbslosen-Komitees in den Kommunen.
Die Reichen sollen sich schämen!
Wenn Erwerbslose sich schämen, dann nicht, weil sie faul sind – sondern weil sie in einer Gesellschaft leben, die ihnen jeden Tag sagt, dass sie nichts wert sind. Dieses System produziert Armut – und schiebt die Schuld dafür den Armen in die Schuhe.
Wir sagen: Armut ist kein individuelles Versagen, sondern politische Gewalt. Wer lebt eigentlich vom Schaffen anderer?
Der Kapitalismus dreht die Realität um: Er behandelt Arme wie Schmarotzer – und Reiche wie Leistungsträger. Es wird Zeit, diesen Mythos zu brechen. Nicht Erwerbslose leben vom Staat – sondern Konzerne, Immobilienbesitzende und Erben leben von der Arbeit aller anderen.
Nicht die Armen sollten sich rechtfertigen müssen und in Scham leben, sondern die Reichen. Es sind nicht Erwerbslose, die auf Kosten der Gesellschaft leben – es sind die Superreichen. Die größten Vermögen stammen nicht aus Arbeit, sondern aus Kapital, aus Spekulation, aus geerbtem Besitz. Wer ein Haus vermietet, bekommt Miete, ohne zu arbeiten. Wer Aktien besitzt, lebt vom Profit derjenigen, die in Fabriken, in Büros und in Pflegeheimen schuften.
Für eine Gesellschaft ohne Zwang
Unser Ziel ist nicht einfach nur ein besseres Bürgergeld. Unser Ziel ist eine andere Gesellschaft: Eine, in der Versorgung nicht unter Vorbehalt steht. In der nicht Profite, sondern Bedürfnisse im Zentrum stehen. In der Arbeit demokratisiert ist. In der Menschen nicht hungern, sondern gestalten. Wer nicht arbeitet, soll leben. Satt. Sicher. Würdevoll.