Was ist Internatio­nalismus?

06.07.2025, Lesezeit 20 Min.
Übersetzung:
1
Paul Klee: Auserwählte Stätte (1927, Detail), CC BY 4.0, https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.

Angesichts der Offensive nationalistischer und reaktionärer Kräfte auf der ganzen Welt kann nur der Internationalismus der Ausgebeuteten und Unterdrückten eine progressive Antwort liefern. Aber was genau ist dieser Internationalismus?

Im Jahre 1956 schrieb der polnische Philosoph Leszek Kołakowski das Gedicht Was ist Sozialismus? Der Text ist sehr beliebt in Polen und Ungarn. In beiden Ländern ereigneten sich damals sozialistische und proletarische Revolution gegen das stalinistischen Regime. Kołakowski, der die Bewegung unterstützte, beginnt sein Gedicht mit einer langen Liste darüber, was der Sozialismus nicht ist. Das Augenmerk legt er auf die Heuchelei und den Zynismus der an der Macht befindlichen Bürokratie. Er kritisiert die sozialen und politischen Eigenschaften dieses Regimes, das den Namen des Sozialismus vereinnahmte. Von diesem poetischen Geist wollen wir ausgehen, wenn wir die Bedeutung des Internationalismus beschreiben. Dafür gehen wir zuerst auf eine Reihe von aktuellen Entwicklungen ein, um definieren zu können, was Internationalismus nicht ist.

Sich für die Einheit der Arbeiter:innenklasse und „ihrer“ Bourgeoisie im Namen der Vaterlandsverteidigung auszusprechen, ist kein Internationalismus. Im Moment des aufstrebenden Kapitalismus drückte der Nationalstaat ein notwendiges politisches Werkzeug der Bourgeoisie im Kampf gegen den Feudalismus aus. Die Bildung der Nationalstaaten und die nationale Ideologie spielten also eine fortschrittliche Rolle, um die Herrschaft der Lehnsherren und der Monarchen zu beenden, die die gesellschaftliche Entwicklung behinderten. Die französische Revolution 1789 war der mächtige Ausdruck dieser Bewegungen, in denen die Bourgeoisie als unterdrückte Klasse eine revolutionäre Rolle spielte.

Heute ist die Situation eine völlig andere. Die Bourgeoisie ist auf ganzer Linie reaktionär geworden. Ihr wirtschaftliches und politisch-soziales System, der Kapitalismus, hat das imperialistische Stadium erreicht. Lenin zufolge bedeutet das, dass der Kapitalismus in einer Epoche angelangt ist, in der die Monopole die Wirtschaft beherrschen und in der der Kapitalismus sowohl „die Negation der Demokratie im Allgemeinen“ bedeutet, als auch

die fortschreitende Unterdrückung der Nationen der Welt durch eine Handvoll Großmächte. Er ist die Epoche der Kriege zwischen ihnen um die Erweiterung und Festigung der nationalen Unterdrückung. Er ist die Epoche des Betrugs an den Volksmassen durch die heuchlerischen Sozialpatritioten, d. h. durch die Leute, dieunter dem Vorwandder ‚Freiheit der Nationen‘, ‚des Selbstbestimmungsrechts der Nationen‘, der ‚Vaterlandsverteidigung‘ die Unterdrückung der Mehrheit der Nationen der Welt durch die Großmächte rechtfertigen und verteidigen.1

Anders gesagt: In der imperialistischen Epoche (also unserer Epoche) ist der kapitalistische Nationalstaat die politisch-administrative und militärische Organisation, von der die nationalen Kapitalist:innen ihren Kampf um die Aufteilung der Welt in einer Logik der Opposition zu den Kapitalist:innen der anderen Nationen organisieren. In diesem Kontext ist der Nationalismus die Ideologie, die sie verwenden, um die Arbeiter:innen und die Klassen, die sie ausbeuten und unterdrücken, auf dem nationalen Boden hinter sich zu versammeln – „zusammengeschweißt als Nation“ hinter den Interessen der Bourgeoisie. In der Vergangenheit führte dieser bürgerliche und imperialistische Kapitalismus Europa in das Gemetzel zweier Weltkriege, in denen Arbeiter:innen und Bäuer:innen des ganzen Kontinents sich gegenseitig töteten – im Dienst der Interessen ihrer Ausbeuter:innen. In diesem Sinne darf man sich nicht täuschen: Wenn nötig, ist die Bourgeoisie bereit, diesen unheilvollen Nationalismus zu schüren, um die Jugend und die Arbeiter:innenklasse in ihre reaktionären Abenteuer zu stürzen.

Während der beiden Weltkriege – um nur die bekanntesten Beispiele zu nennen – kämpften die internationalistischen und sozialistischen Revolutionär:innen gegen den Strom, gegen den Nationalismus der Bourgeoisie, aber auch gegen die chauvinistischen Agent:innen des Kapitals innerhalb der Arbeiter:innenbewegung. Ihr Ziel war es, die reaktionäre Einheit zwischen den Ausgebeuteten und ihren ausbeutenden „Mitbürger:innen“ zu brechen und zugleich Brücken der Solidarität und der Verbrüderung mit ihren Klassengeschwistern auf der anderen Seite der Grenze zu bauen. Die Bourgeoisie hingegen verurteilte jeden Soldaten zum Tode, der versuchte, sich mit den feindlichen Armeen zu verbrüdern.2 Tatsächlich bedeutete die Klassenverbrüderung einen Bruch mit dem Chauvinismus, der den Krieg am Leben hielt, und war eine Brücke zu den internationalistischen Ideen innerhalb der Truppen, die mehrheitlich aus Arbeitern und armen Bauern bestanden. In diesem Sinne ist der Internationalismus eine mächtige Waffe des Proletariats im revolutionären Kampf um den Sturz der politischen Macht der Bourgeoisie und des kapitalistischen Systems.

Internationalismus bedeutet ebenso wenig „Vaterlandsliebe“. In Zeiten wirtschaftlicher Krisen versuchen nationalistische Strömungen, darunter auch die extreme Rechte, die Sympathien der Arbeiter:innen und der Mittelschichten zu gewinnen, und meinen, diese müssten sich hinter ihre Chefs stellen, um die „nationale Industrie“ und ihre sozialen Errungenschaften und ihre Lebensbedingungen zu retten. Daher können reaktionäre und arbeiter:innenfeindliche Politiker:innen, aber auch so genannte „progressive“ Politiker:innen dazu gelangen, verschiedene Typen des „Protektionismus“ als eine für die Arbeiter:innenklasse günstige Politik darzustellen. Der Protektionismus ist der kleine Bruder der „Vaterlandsliebe“: Sie zielen beide darauf ab, die Interessen der am stärksten konzentrierten nationalen Kapitalsektoren gegen die ausländische Monopolkapitalkonkurrenz, aber keinesfalls die Interessen der Arbeiter:innen und ihrer Familien, zu schützen. Der Protektionismus verlangt zunächst, gegen die ausländischen Konkurent:innen der nationalen Bosse zusammenzuhalten, und später das Einfrieren und dann die Kürzung von Gehältern und Entlassungen im Namen des „Schutzes der nationalen Wirtschaft“ hinzunehmen. Man darf sich nicht täuschen lassen: Es sind dieselben „patriotischen Bosse“, die sich zu nationaler, sentimentaler Lyrik hinreißen lassen, um den Arbeiter:innen die größten Anstrengungen in den schwierigen Momenten der Wirtschaft abzuverlangen. In Momenten des Aufschwungs jedoch machen sie keinen Cent locker für das Proletariat – getreu dem berühmten Motto: „Die Gewinne privatisieren, die Verluste sozialisieren.“

Die Bourgeoisie hat jedes Interesse, den wirklichen Gegensatz zu verschleiern: den der Klasse. Dabei stehen sich Kapitalist:in und Arbeiter:in gegenüber, also Ausbeuter:innen und Ausgebeutete. Sie versucht die Aufmerksamkeit von diesem Gegensatz abzulenken und stattdessen auf den „Gegensatz der Nationen“ zu lenken. Dafür zögern die herrschenden Klassen und ihr politisches Personal nicht, das Gift des Rassismus und der Xenophobie innerhalb der Arbeiter:innenklasse und den ausgebeuteten Sektoren der Wirtschaft zu streuen, um die „nationalen“ Arbeiter:innen von ihren ausländischen Klassengeschwistern zu trennen. So werden die Ausländer (oder die als solche wahrgenommenen) die „Gefahr“, die „Feinde“, die „Sündenböcke“ der Misere, in die der Kapitalismus Millionen von Arbeiter:innen und ihre Familien treibt.

Wie Karl Marx und Friedrich Engels im Manifest der Kommunistischen Partei 1848 sagten: „Die Arbeiter haben kein Vaterland. […] In dem Maße, wie die Exploitation des einen Individuums durch das andere aufgehoben wird, wird die Exploitation einer Nation durch die andere aufgehoben. Mit dem Gegensatz der Klassen im Innern der Nation fällt die Stellung der Nationen gegeneinander.“3 Und dort schlummert die Macht des Internationalismus. Marx verankert seine Worte in der Tatsache, dass die Arbeiter:innenklasse eine internationale Klasse ist: Sie kämpft gegen ihre nationale Bourgeoisie, aber auch weltweit gegen die Gesamtheit der kapitalistischen Klasse. Im Gegensatz zu den Erzählungen der Kapitalist:innen und ihrer Politiker:innen, hat die Arbeiter:innenklasse eben keine bessere Position, wenn ihre nationalen Kapitalist:innen stark sind. Im Gegenteil: Die Arbeiter:innenklasse ist in einer besseren Position, wenn sie in Solidarität, aber auch im Kampf, mit den Arbeiter:innen über die nationalen Grenzen hinaus verbunden ist. Dazu beizutragen, „unsere“ Kapitalist:innen zu stärken, heißt nicht mehr und nicht weniger als dazu beizutragen, diejenigen zu stärken, die Gehälter kürzen, die kündigen, die Werke schließen und Dienstleistungen einstellen, die uns bis zum Tod arbeiten lassen wollen, die unsere Errungenschaften beschneiden, nur um sich selbst mit Staatsubventionen und Steuergeschenken die Taschen vollzustopfen. 

Internationalismus bedeutet nicht, die koloniale oder imperialistische Herrschaft der nationalen kapitalistischen Klasse zu verteidigen. Für die Arbeiter:innenklasse, insbesondere für die der imperialistischen Länder, ist das eine ganz entscheidende Frage. Ein großer Teil des Reichtums und der politischen Macht der imperialistischen Bourgeoisien fußt auf ihrer wirtschaftlichen, politischen und militärischen Vorherrschaft. In diesem Sinne ist der Besitz von Kolonien oder die imperialistische Herrschaft über Halbkolonien wesentlich, was insbesondere auch das Proletariat dieser unterdrückenden Länder betrifft. Wenn behauptet wird, die Verteidigung des Kolonialbesitzes oder der „Macht“ über dieses oder jenes imperialistischen Staates sei im Interesse der Arbeiter:innenklasse dieser Staaten, dann ist das gefährlich: Je mehr die imperialistische, kapitalistische Klasse verschiedene Regionen der Welt beherrscht, umso einflussreicher ist sie auf internationaler Ebene und sie erhebt sich so nicht nur gegenüber den unterdrückten Völkern, sondern auch über ihre imperialistischen Rivalinnen und steigert so ihre Macht und ihre Ausbeutungsleistung der Arbeiter:innen weltweit.

Die Verteidigung des „nationalen Glanzes“ führt auch zur Verbreitung von Chauvinismus und Xenophobie innerhalb der Arbeiter:innenklasse. Auf nationaler Ebene zeigt sich dies dann in einer Form von nationaler oder rassischer Überlegenheit. Über die koloniale und rassistische Spaltung des Proletariats in England schrieb Karl Marx in einem Brief im April 1870: 

Alle industriellen und kommerziellen Zentren Englands besitzen jetzt eine Arbeiterklasse, die in zweifeindlicheLagergespaltenist, englische proletarians und irische proletarians. Der gewöhnliche englische Arbeiter haßt den irischen Arbeiter als einen Konkurrenten, welcher den standard of life herabdrückt. Er fühlt sich ihm gegenüber als Glied derherrschenden Nationund macht sich eben deswegen zum Werkzeug seiner Aristokraten und Kapitalistengegen Irland, befestigt damit deren Herrschaftüber sich selbst. Er hegt religiöse, soziale und nationale Vorurteile gegen ihn. Er verhält sich ungefähr zu ihm wie die poor whites zu den niggers in den ehemaligen Sklavenstaaten der amerikanischen Union. Der Irländer pays him back with interest in his own money. Er sieht zugleich in dem englischen Arbeiter den Mitschuldigen und das stupide Werkzeug derenglischen Herrschaft in Irland.4 

Marx, für den ein Volk, welches ein anderes Volk unterdrückt, nicht frei sein konnte, leitet in diesem Brief die sozialistischen Aufgaben für England ab. Er schreibt: „Die spezielle Aufgabe des Zentralrats in London, das Bewußtsein in der englischen Arbeiterklasse wachzurufen, daß die nationale Emanzipation Irlands für sie keine question of abstract justice or humanitarian sentiment ist, sondern the first condition of their own social emancipation.“5 Tatsächlich benutzen für Marx die englische Aristokratie und das englische Bürgertum ihre koloniale Herrschaft über England, um ihre Herrschaft über das englische Proletariat zu festigen. Die nationale Befreiung Irlands war so eng an die Revolution in England geknüpft, weil diese einerseits die herrschenden englischen Klassen geschwächt hätte und andererseits weil eine Revolution in England das Joch über Irland geschwächt hätte, was sich leichter hätte befreien können. Und andersherum.

Leider gibt es in den Organisationen der so genannten radikalen Linken Verwirrung im Bewusstsein der Arbeiter:innen, was immer wieder gewisse nationalistische Vorurteile befeuert. In Frankreich betrifft dies La France Insoumise (LFI), wo der Patriotismus und der Stolz über den französischen Kolonialbesitz offen ausgesprochen werden. Vor Kurzem haben wir geschrieben

In einer Situation der Verschärfung der internationalen Spannungen und dem Wettrüsten, hat die ‚diplomatische‘ Zentralität der so genannten ‚Überseegebiete‘ eine genauso große Bedeutung für La France insoumise wie sie dem französischen Staat die Tür zur Welt öffnen. Weil LFI es ablehnt, sich den Vereinigten Staaten von Amerika und der Europäischen Union unterzuordnen und versucht, von Fall zu Fall Bündnisse zu schmieden, vor allem mit den BRICS-Staaten, damit der französische Staat einen Ausweg findet und sich dadurch den aktuellen Dynamiken entgegenstellen kann, spielen die französischen Kolonien eine zentrale Rolle in der Strategie von LFI. 

In einem Kontext des Aufstiegs des Nationalismus und des Militarismus ist diese Orientierung sehr gefährlich für die Arbeiter:innenklasse. Indem LFI sich als „Verteidigerin“ der „Größe Frankreichs“ gibt, nährt sie damit eine gewisse Form des Chauvinismus in der Arbeiter:innenklasse und relativiert damit zugleich die imperialistische Herrschaft Frankreichs auf der Welt.

Internationalismus bedeutet nicht die Leugnung der nationalen Rechte der Völker und der unterdrückten Nationalitäten. Der Kampf für die nationale Befreiung der unterdrückten Völker ist zentral in der Strategie der internationalistischen, sozialistischen Revolutionär:innen. Manche Strömungen innerhalb des Marxismus pflegen jedoch manchmal eine schematische und undialektische Herangehensweise an diese Frage und zwar unter dem Vorwand der Ablehnung des Nationalismus und setzen so den Chauvinismus der imperialistischen Staaten mit dem Nationalgefühl der unterdrückten Nationen gleich. Im ersten Fall ist der Nationalismus reaktionär, im zweiten jedoch kann er eine fortschrittliche Rolle spielen im Kampf gegen die nationale Unterdrückung und den Weg zum Sozialismus ebnen. Daher bedeutet der sozialistische Internationalismus die bedingungslose Verteidigung des Rechts der unterdrückten Völker auf Selbstbestimmung.

Folglich haben die internationalistischen Revolutionär:innen in der Frage des Nationalismus jeweils spezifische Aufgaben abhängig von ihrer Situation (in den imperialistischen Staaten, den Kolonialstaaten oder den Halbkolonien). Lenin schrieb 1915: „Im Namen dieses Rechts [auf nationale Selbstbestimmung, A. d. Ü.], […] müssen die Sozialdemokraten der unterdrücktenden Nationen die Freiheit der Absonderung für die unterdrückten Nationen fordern“. Bezüglich der Aufgaben der Revolutionär:innen in den unterdrückten Ländern fügt er hinzu: 

Die Sozialdemokraten der unterdrückten Nationen aber müssen die Forderung nach Einheit und Verschmelzung der Arbeiter der unterdrückten Nationen mit den Arbeitern der unterdrückenden Nationen als Hauptsache betrachten, – weil widrigenfalls diese Sozialdemokraten unwillkürlich zu Verbündeten dieser oder jener nationalenBourgeoisiewerden, dieimmerdie Interessen des Volkes und der Demokratie verrät, dieimmerihrerseits bereit ist, Annexionen zu machen und andere Nationen zu unterdrücken.6

Anders ausgedrückt bedeutet die Verteidigung der nationalen Befreiung unterdrückter Völker für internationalistische Sozialist:innen, weder sich hinter die eigene nationale Bourgeoisie zu stellen noch sich hinter die Politik einer konkurrierenden imperialistischen Bourgeoisie zu stellen. Der proletarische Internationalismus darf niemals als Vorwand dazu dienen, die Unterstützung des Kampfs um die nationale Befreiung eines unterdrückten Volkes zu verneinen, was umso mehr für die Revolutionär:innen der imperialistischen Länder gilt. Sozialismus bedeutet eine Gesellschaft frei von Ausbeutung und jeder Form von Unterdrückung, auch der nationalen Unterdrückung. Der Kampf gegen die nationale Unterdrückung ist ein zentraler Bestandteil der politischen Kämpfe des Proletariats in seiner Bewegung für den Sturz des Kapitalismus. Im selben Text erklärt Lenin: 

Die sozialistische Revolution ist keineswegs eine einzige Schlacht, sondern im Gegenteil eine Epoche, bestehend aus einer ganzen Reihe von Schlachten umalleFragen der ökonomischen und politischen Umgestaltungen, die nur durch die Expropriation der Bourgeoisie vollendet werden können. […] Es ist denkbar, daß die Arbeiter eines gegebenen Landes die Bourgeoisie niederwerfen werden,bevorsie auch nur die einzige demokratische Umgestaltung vollständig verwirklichen. Aber es ist ganz undenkbar, daß das Proletariat, als eine geschichtliche Klasse, die Bourgeoisie besiegen könnte, wenn es dazu nicht vorbereitet wird durch die Erziehung im Geiste des konsequentesten und revolutionär entschiedensten Demokratismus.7

Internationalismus bedeutet nicht die Öffnung der Märkte, die internationale Ausbeutung der Arbeiter:innen und der natürlichen Ressourcen durch die Kapitalist:innen. Marx und Engels behaupteten im Kommunistischen Manifest

Die Bourgeoisie hat durch ihre Exploitation des Weltmarkts die Produktion der Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet. Sie hat zum großen Bedauern der Reaktionäre den nationalen Boden der Industrie unter den Füßen weggezogen. Die uralten nationalen Industrien sind vernichtet worden und werden noch täglich vernichtet. Sie werden verdrängt durch neue Industrien, deren Einführung eine Lebensfrage für alle zivilisierten Nationen wird, durch Industrien, die nicht mehr einheimische Rohstoffe, sondern den entlegensten Zonen angehörige Rohstoffe verarbeiten und deren Fabrikate nicht nur im Lande selbst, sondern in allen Weltteilen zugleich verbraucht werden. An die Stelle der alten, durch Landeserzeugnisse befriedigten Bedürfnisse treten neue, welche die Produkte der entferntesten Länder und Klimate zu ihrer Befriedigung erheischen.8 

Anders ausgedrückt ist die Bourgeoisie durch ihre wirtschaftliche Tätigkeit selbst „internationalistisch“. Sie benutzt die nationalistische Ideologie und die des Nationalstaates als ein Werkzeug, um ihre Herrschaft zu perfektionieren und ihre soziale Ordnung aufrechtzuerhalten.

Der Internationalismus der Arbeiter:innenklasse ist nicht zu verwechseln mit der Herrschaft und Ausbeutung, die durch die Kapitalist:innen organisiert wird und die sich durch die Globalisierung ausgeweitet hat. Mit einem falschen „internationalistischen“ Anstrich beuten die großen monopolistischen Gruppen die Arbeiter:innen und die natürlichen Ressourcen aus wie noch nie zuvor. Zudem findet ein wachsender und deregulierter Umschlag der Waren, der Unternehmen und des Kapitals statt – eine Verkehrsfreiheit, die sich jedoch nicht auf Personen im gleichen Maße erstreckt. Tatsächlich genießen nur die Staatsbürger:innen einer Hand voll imperialistischer Staaten eine teilweise Bewegungsfreiheit auf der Welt. Die Globalisierung geht mit einer immer repressiveren Politik gegen Migrant:innen einher, die aus den von den imperialistische Mächte ausgebeuteten Ländern fliehen.

Die Krise der neoliberalen Hegemonie hat innerhalb der imperialistischen Mächte zum Aufstieg nationalistischer und reaktionärer Strömungen geführt, die die Auswirkungen der Globalisierung infrage stellen. Mit den „globalistischen“ Strömungen teilen sie ihren Hass gegen Migrant:innen, verteidigen jedoch zugleich die Formen des Wirtschaftsnationalismus und des Protektionismus. Diese Strömungen unterstützen eine Form der nationalen Zurückhaltung, welche nicht nur reaktionär, sondern auch illusorisch ist, wie uns die protektionistische Politik von Donald Trump in den Vereinigten Staaten von Amerika zeigt.

Die internationalistische und sozialistische Politik der Arbeiter:innenklasse hat weder etwas gemein mit dieser „nationalistischen Ablehnung“ der neoliberalen Globalisierung, noch mit dem kapitalistischen „Internationalismus“. Das internationalistische und sozialistische Proletariat muss gegen den Imperialismus in all seinen Ausprägungen kämpfen: chauvinistischer Nationalist oder „Internationalist“. Zunächst muss eine Verteidigung aller Rechte der Unterdrückten und der von industriellen Gruppen und imperialistischen Kapitale ausgebeuteten Teile der Bevölkerung erfolgen. Folglich muss auch ein Kampf gegen den Rassismus und die Xenophobie, denen sich ausländische Arbeiter:innen ausgesetzt sehen, sowie gegen die Politik der Grenzschließungen und der „Illegalisierung“ von Menschen geführt werden. Je mehr die ausländischen Arbeiter:innen ausgebeutet und unterdrückt werden, umso mehr ist die Arbeiter:innenklasse in ihrer Gesamtheit gespalten und anfällig für Angriffe durch die Bourgeoisie.

Der Internationalismus ist eine „gute Sache“, er ist aber auch eine Ideologie, eine Praxis und eine dem Kapitalismus und der bürgerlichen Gesellschaft entgegen gestellte Strategie. Tatsächlich schließt Kołakowski sein Gedicht aus dem Jahr 1956 mit der Behauptung, dass „der Sozialismus eine gute Sache ist“. Dem können wir nur zustimmen und fügen hinzu, dass dies ebenso für den Internationalismus zutrifft. Man muss jedoch auch betonen, dass für die Mehrheit der Arbeiter:innen heute der Internationalismus als ein abstraktes Konzept erscheinen kann – im besten Fall als eine Art moralischer Imperativ. Trotzki erklärte im Jahr 1928: 

Der Internationalismus ist kein abstraktes Prinzip, sondern ein theoretisches und politisches Abbild des Charakters der Weltwirtschaft, der Weltentwicklung der Produktivkräfte und des Weltmaßstabes des Klassenkampfes. Die sozialistische Revolution beginnt auf nationalem Boden. Sie kann aber nicht auf diesem Boden vollendet werden. Die Aufrechterhaltung der proletarischen Revolution in nationalem Rahmen kann nur ein provisorischer Zustand sein, wenn auch, wie die Erfahrung der Sowjetunion zeigt, einer von langer Dauer. Bei einer isolierten proletarischen Diktatur wachsen die inneren und äußeren Widersprüche unvermeidlich zusammen mit den wachsenden Erfolgen. Isoliert bleibend, muß der proletarische Staat schließlich ein Opfer dieser Widersprüche werden. Der Ausweg besteht für ihn nur in dem Siege des Proletariats der fortgeschrittenen Länder. Von diesem Standpunkte aus gesehen, ist eine nationale Revolution, ist eine nationale Revolution kein in sich selbst verankertes Ganzes: sie ist nur ein Glied einer internationalen Kette.9

Mit anderen Worten: Der Sturz des Kapitalismus als sozialer Herrschaftsform der Bourgeoisie ist undenkbar ohne Internationalismus. Die Arbeiter:innenklasse kann nur auf internationaler Ebene gegen die Kapitalist:innen gewinnen, auch wenn der Kampf auf nationaler Ebene beginnt. Das bedeutet aus strategischer Sicht, dass die Ausgebeuteten und Unterdrückten auf nationaler und internationaler Ebene organisiert werden müssen. Erinnern wir uns daran, dass das Interesse der Bourgeoisie darin besteht, die wahre Bedeutung des Klassenkampfes zu verschleiern, indem sie mithilfe nationalistischer Ideologien die Klassenantagonismen verschleiert. Dies hat einerseits zur Folge, dass sich die nationale Arbeiter:innenklasse hinter ihren Ausbeutern versammelt, und andererseits, dass die Arbeiter:innen gespalten werden. Als Antwort auf diese schädlichen Dynamiken ist der sozialistische Internationalismus ein entscheidendes Instrument für die Arbeiter:innenbewegung in ihrem Kampf gegen die bürgerliche Ideologie und Politik sowie gegen deren Agent:innen innerhalb der Arbeiter:innenklasse, wie Gewerkschaftsbürokrat:innen und Berufspolitiker:innen, die sich als „Freunde des Volkes“ ausgeben.

Leo Trotzki schrieb am Vorabend des Zweiten Weltkriegs einen Text zum 90. Jahrestag des Kommunistischen Manifests. Darin ging er auf die Aspekte ein, die veraltet waren, aber auch auf jene, die nach wie vor von großer Aktualität waren. Über die Bedeutung des Internationalismus und die Haltung der Agenten:innen der Bourgeoisie in der Arbeiter:innenbewegung erklärte er: 

‚Die Arbeiter haben kein Vaterland.‘ Dieser Satz des Manifest wurde oft von den Spießern als Scherzwort aufgefaßt, gut für die Agitation. In Wirklichkeit gab er dem Proletariat die einzig vernünftige Richtlinie für das Problem des sozialistischen ‚Vaterlandes‘. Die Mißachtung dieser Richtlinie durch die II. Internationale hatte nicht nur die Zerstörung Europas während vier Jahren zur Folge, sondern auch die heutige weltweite kulturelle Stagnation. Vor dem Heranrücken des neuen Krieges bleibt das Manifest auch heute noch der sicherste Berater in der Frage des kapitalistischen ‚Vaterlandes‘.10

Die Entwicklung des Kapitalismus, trotz der Komplexität und der Spaltungen, die er der Arbeiter:innenklasse auferlegt, vereint objektiv Milliarden von Arbeiter:innen auf der ganzen Welt durch ihre Ausbeutungsbedingungen. Internationalismus ist das, was allen Ausgebeuteten und Unterdrückten ihre Einheit und ihre gemeinsamen Interessen bewusst machen kann, mit dem Ziel, eine Gesellschaftsordnung zu stürzen, die sie tagtäglich zerquetscht und tötet. Mehr noch: Internationalismus ist ein grundlegendes Instrument für den Aufbau einer neuen sozialistischen Gesellschaft, die frei von jeder Form der Ausbeutung und Unterdrückung ist.

Dieser Artikel erschien erstmals am 17. Mai 2025 bei RP Dimanche.

Fußnoten

  1. 1. W. I. Lenin: Das revolutionäre Proletariat und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, in: Ders.: Werke, Band 21, Dietz Verlag, Berlin 1960, S. 412–421, hier S. 416. Hervorhebung im Original.
  2. 2. Die Verbrüderung ist als eine Gefahr durch die Oberkommandos der feindlichen Armeen wahrgenommen worden, weil sie ein Element der Einheit zwischen den Soldaten der beiden Seite der Frontlinie bildete, das dazu geeignet war, die nationale Einheit und den bürgerlichen Nationalismus zu brechen. Daher wurde die Verbrüderung streng bestraft. In einem Text aus dem Jahr 1915 schrieb Lenin über die Frage der Verbrüderung und über die Repression, die sie auslöste: „[…] dann bleibt praktisch eine andere Frage. Entweder im Krieg zwischen den Sklavenhaltern sterben, bis zuletzt ein blinder und hilfloser Sklave – oder aber für ‚Versuche des Fraternisierens‘ zwischen den Sklaven sterben, das Ziel vor Augen, dass die Sklaverei abgeschafft wird?“ W. I. Lenin: Zur Illustrierung der Bürgerkriegslosung, in: Ders.: Werke, Band 21, S. 171f., hier S. 172. Hervorhebung im Original.
  3. 3. Karl Marx und Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, in: Dies.: Werke, Band 4, Dietz Verlag, Berlin 1990, S. 459–493, hier S. 479.
  4. 4. Marx an Sigfrid Meyer und August Vogt in New York, London, 9. April 1870, in: Karl Marx und Friedrich Engels: Werke, Band 32, Dietz Verlag, Berlin 2009, S. 665–670, hier S. 668f. Hervorhebungen im Original.
  5. 5. Ebd., S. 669. Hervorhebungen im Original.
  6. 6. Lenin: Das revolutionäre Proletariat und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, S. 416f. Hervorhebungen im Original.
  7. 7. Ebd., S. 415f. Hervorhebungen im Original.
  8. 8. Marx und Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, S. 466.
  9. 9. Leo Trotzki: Die permanente Revolution. Ergebnisse und Perspektiven, Arbeiterpresse Verlag, Essen 1993, S. 59f.
  10. 10. Leo Trotzki: Neunzig Jahre Kommunistisches Manifest
    (30. Oktober 1937), [6. Juli 2025].

Mehr zum Thema