Warum das Stadtbild nicht gut ist, wie es ist

29.10.2025, Lesezeit 10 Min.
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Quelle: Valentin Baciu / Shutterstock.com

Das Deutschland, das Merz sich ausmalt, existiert nicht. Aber wir wollen das kapitalistische Stadtbild nicht verteidigen. Für eine antirassistische und sozialistische Stadtbild-Debatte.

Die Debatte über das „Stadtbild“, die Merz vor gut zwei Wochen mit seinen rassistischen Äußerungen losgetreten hat, bricht nicht ab. Während große Teile der eigenen Partei ihm zur Seite sprangen – Jens Spahn behauptete in Berufung auf eine irreführende Umfrage, der Kanzler „spreche aus, was die Mehrheit denke“ – fordern Abgeordnete der SPD nun die Einberufung eines Stadtbild-Gipfels im Kanzleramt. Dabei versuchen sie zwar, sich von Merz abzugrenzen und wollen „die Debatte nicht auf Asyl, Migration und Flucht verengen“ und auch soziale Missstände thematisieren – einen wirklichen Bruch mit dem Rassismus des Kanzlers vollziehen sie damit aber nicht. Die „Gewerkschaft“ der Polizei hetzt kräftig mit und nutzt die Debatte ihrerseits als Anlass, um mehr Polizei an Bahnhöfen und eine Ausweitung ihrer Befugnisse zu fordern. Wir denken, dass es tatsächlich eine Debatte über das Stadtbild braucht, denn so wie es ist, darf es nicht bleiben. Aber eine ganz andere, eine die klar macht: Merz, seine Regierung und die Polizei werden keine unserer Probleme lösen, sondern sind selbst das Problem.

Merz‘ „Stadtbild“ ist nicht nur deshalb rassistisch, weil es Menschen an rassistischen Merkmalen wie Haut- oder Haarfarbe festmacht und damit letztlich ein Einfallstor für das rassistisch-„völkische“ Staatsvolkverständnis der AfD ist und Koalitionsoptionen mit ihr wahrscheinlicher macht. Es ist auch eine uralte Lüge, Menschen mit Migrationshintergrund als kriminell und schmutzig darzustellen, um eine Politik von „Recht und Ordnung“ zu rechtfertigen, also weitere Einschnitte in die Bürger:innen- und Menschenrechte.

Es ist schlicht nicht wahr, dass man Angst vor Migrant:innen auf der Straße haben muss. So ist die viel beschworene Behauptung, Flucht und Migration würden aus Deutschland einen kriminellen Brandherd machen, vielfach empirisch widerlegt. Zuletzt etwa kommt dieses Jahr erst das – linksradikalen Umtrieben unverdächtige – ifo Institut aufgrund statistischer Untersuchungen im Februar zum Ergebnis: „(Flucht-) Migration hat keinen systematischen Einfluss auf die Kriminalität im Aufnahmeland.“ Genau genommen zeigt ihr Artikel, dass Migrant:innen zwar überrepräsentiert in der Kriminalitätsstatistik sind, ein höherer Anteil an Migrant:innen aber nicht zu höherer lokaler Kriminalität führt: „Zuwanderer leben häufiger in Gegenden mit generell höheren Kriminalitätsraten – auch unter Einheimischen. Daneben belegt die internationale Forschung keinen systematischen Zusammenhang zwischen Einwanderung und Kriminalität.“

Der liberale Teil der Kapitalist:innen und Kleinbürger:innen, die Arbeitskräfte aus dem Ausland brauchen, widersprechen deshalb Merz, wenn auch ohne Konsequenzen für die GroKo. Selbst innerhalb der Union gibt es keine Einigkeit und sogar die grenzenlos opportunistische SPD ist nicht so glücklich mit den Aussagen Merz‘. Beides aber nicht etwa, weil Unions- und SPD-Leute aus prinzipiellen Gründen gegen Rassismus wären, sondern weil sie Angst um ausbeutbare Arbeitskraft haben (siehe dazu unser letzter Artikel gegen die Spaltung in „gute und schlechte“ Migrant:innen).

Gleiche Rechte statt Kriminalisierung und Prekarisierung

Entsprechend schlägt das ifo Institut in der besagten Studie Integrationsmaßnahmen in den Arbeitsmarkt sowie in die Sozialsysteme und die Aussicht auf Einbürgerung vor. Diese würden auch Kriminalität senken, was plausibel erscheint, da Menschen meist deshalb in Kriminalität gedrängt werden, weil sie nicht regulär arbeiten dürfen oder zu wenig verdienen sowie keine Zukunftsaussichten haben. Auch die oft fehlende Anerkennung im Ausland gemachter Abschlüsse sehen die Forscher:innen als Problem. Während also das Bild, dass „nicht deutsch aussehende“ (was allein schon rassistisch ist!) Menschen krimineller wären, eine rechte Phantasievorstellung ist, stimmt es, dass Menschen in Kriminalität gedrängt werden, indem sie perspektivlos und arm gemacht werden. 

Und niemand möchte in Kriminalität gedrängt werden. Wir fordern daher schon lange, dass alle Menschen in Deutschland die gleichen Rechte und Zugänge zu Sozialsystemen haben. Auch fordern wir die konsequente Anerkennung ausländischer Abschlüsse gegen die systematische (und vom Kapital auch gewollte, da billigere) „Unterqualifizierung“ und „Unterschichtung“ migrantisierter Arbeit in Deutschland. Wir fordern Bleiberecht für alle und offene Grenzen, damit Menschen keine Angst vor Abschiebung haben müssen, sondern sich hier mit uns zusammen für unsere gemeinsamen Interessen organisieren können. 

Wir stehen also nicht auf der Seite derer, die den Kapitalismus so belassen möchten, wie er ist – nur eben Migrant:innen und Geflüchtete in Ruhe ausbeuten und in Sozialkassen einzahlen lassen wollen. Denn nichts ist in Ordnung in dieser Gesellschaft. Entsprechend hätten wir selbst ein paar Vorschläge zur „Verbesserung des Stadtbilds“.

Die pure Existenz eines Niedriglohnsektors, von Outsourcing und Prekarisierung – die wir Rot-Grün unter Schröder verdanken – ist nicht in Ordnung für uns. Outsourcing muss verboten und Gesundheit, Energie, Verkehr und weitere essenzielle Leistungen der Daseinsvorsorge müssen unter Arbeiter:innenkontrolle verstaatlicht werden. Wir treten für eine massive Erhöhung des Mindestlohns ohne Ausnahmemöglichkeiten ein, für alle Arbeitenden, sowie für eine bedingungs- und sanktionslose Sozialsicherung für Arbeitslose. Wir sind für eine Arbeitszeitsenkung bei vollem Lohn- und Personalausgleich und die Aufteilung der Arbeit auf alle, die arbeiten können, damit es keine Konkurrenz unter Arbeiter:innen um Jobs gibt. Und für eine gleitende Lohnskala mit Inflationsausgleich, damit die Inflation nicht alle Löhne und Tarifabschlüsse für Kapitalprofite auffrisst. Dies wollen wir zusammen mit Migrant:innen und Geflüchteten in Streiks erkämpfen, nicht uns gegeneinander ausspielen lassen. 

Die Kritik aus dem „Brandmauer“-Spektrum, das einen geordneten Kapitalismus ohne AfD und Nazis will, besteht hingegen darin zu sagen: „Das Stadtbild ist gut so, wie es ist, also brauchen wir Verteidigung des Status Quo.“ Sie verteidigen „schöne, bunte“ Städte. Die Städte sind aber weder schön noch „bunt“, wie sie sind. Denn was ist mit ständiger Überwachung und Polizeischikane im öffentlichen Raum? Wir sind für die Abschaffung staatlicher Überwachung und autoritärer Maßnahmen, gegen die Tyrannei durch Polizei auf Straßen, Plätzen und Parks, die während der Coronazeit ihren Höhepunkt hatte und seitdem ein höheres Niveau erreicht wird. Der „Stadtbild“-Rassismus dient als Rechtfertigung für ein ganz und gar grässliches Stadtbild, einer Stadt mit Uniformierten an jeder Ecke. Die Polizei muss raus aus dem Stadtbild und raus aus dem deutschen Gewerkschaftsbund!

Auch sind wir gegen die Militarisierung dieser Gesellschaft. Wir wollen uns nicht daran gewöhnen, dass die Bahn, Schulen und Krankenhäuser voller Flecktarn sind, denn diese Bundeswehr verteidigt ebenso wie die Polizei nicht „unsere Sicherheit“ oder gar „unsere Freiheit“, sondern kapitalistische Interessen. Wir sind für den Rückzug überall aus dem Ausland, gegen unbegrenzte Kredite für die Aufrüstung – dem Rot, Grün und in den von ihnen mitregierten Ländern sogar die Linkspartei – zustimmen, stattdessen für ein massives Investitionspaket für Gesundheit, Bildung und Soziales statt Militarismus. Wir wollen nicht, dass Palästina aus unserem Stadtbild entfernt wird und damit die Solidarität gegen den Genozid in Gaza – wir sind gegen die Aberkennung von Menschenrechten wie der Redefreiheit im öffentlichen Raum, wo einfache demokratische Slogans wie derzeit in Berlin mit brutalster Polizeigewalt beantwortet werden. 

Ein Stadtbild für Menschen statt Profite

Wenn wir schon darüber sprechen, lasst uns auch von zerfallender oder gar nicht vorhandener sozialer Infrastruktur nicht schweigen, von den massiven Kürzungen, die in den Kommunen und Ländern vorgenommen werden – die die Bundesregierung mit ihren geplanten Sparpaketen nochmal verschärften möchte. Wir müssen auch über die zunehmende Obdachlosigkeit und Verdrängung sprechen, sowie über menschenverachtende Arbeitsverhältnisse in der Illegalisierung bis hin zur Sklaverei.

Obdachlosigkeit etwa ist weder Selbstverschulden noch tragisches Schicksal, sondern eine gesellschaftliche Entscheidung: Sollen einige wenige Wohnbaukonzerne Milliarden mit dem lebenswichtigen Gut Wohnen verdienen – oder wollen wir sie enteignen unter Kontrolle der Arbeitenden und Mietenden? Sollen Leerstände in Innenstädten bei horrenden Miet- und Pachtpreisen die Spekulationen weiter in die Höhe treiben – oder wollen wir diese Räume nutzen für Wohnungslose, Jugendliche, ältere Menschen und soziale Einrichtungen? Für die Umsetzung und Ausweitung von Deutsche Wohnen und Co. enteignen überall!

Der strukturelle Rassismus im Kapitalismus wirkt nicht nur durch Merz‘ offenen Rassismus, sondern auch in den angeblich „bunten, vielfältigen“ Städten, deren Vielfalt aber für viele Entrechtung und Knechtung bis hin zur existenziellen Bedrohung bedeuten. Nur gemeinsamer Kampf und gemeinsame Organisierung zur gesellschaftlichen Kontrolle des öffentlichen Raums und der Produktion sind wirksame Gegenmittel. Lasst uns etwa solidarisch sein mit den prekarisierten Fahrer:innen bei Lieferando, die sich im Streik befinden. Lasst uns Streiks zusammenführen mit Kämpfen für gleiche Rechte aller, die in Deutschland leben, denn soziale Ungleichheit, Ausbeutung und Rassismus sind aufs innerste miteinander verbunden.

Zu einem Stadtbild der Menschen statt Profite gehört auch die Gesundheitsversorgung, besonders die Frauengesundheit: Seit 2018 schlossen bundesweit etwa zehn Prozent der Geburtsstationen in Deutschland. SPD, Grüne und Linkspartei, die regelmäßig gegen Merz‘ Frauenfeindlichkeit und Rassismus sprechen, beschlossen in München entgegen anderslautender Garantieren die Schließung eines weiteren Kreißsaals, in Neuperlach – wir kämpfen mit Kolleg:innen und Solidaritätskomitees seit Jahren gegen die angekündigte Schließung. Das ist in diesem Zusammenhang besonders relevant, weil mit Neuperlach ein Viertel mit hohem Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund und aus unteren Einkommensschichten sowie in prekärer beschäftigung betroffen ist, außerdem auch das Land im Einzugsbereich Neuperlach besonders unter der „Umverlegung“ und damit der Schließung in Neuperlach leidet.

Auch wollen wir ein Stadtbild, in dem Frauen und Queers keine Angst vor Gewalt haben müssen – dieses gilt es gegen den Kapitalismus zu erkämpfen, nicht mit einem „bunten Kapitalismus“. Denn Outsourcing, Prekarisierung und hohe Mieten halten viele Frauen in gewaltvollen Beziehungen gefangen und abhängig von ihren Partner:innen. Fehlende Therapieplätze, Kürzungen bei der sozialen Arbeit, Kinderbetreuung mit guten Arbeitsbedingungen und Löhnen, bedeuten ebenfalls unmittelbar einen Anstieg der Gewalt gegen Frauen. Die genannte Ausfinanzierung der Geburtshilfe gehört ebenso dazu wie kostenlose, legale und sichere Schwangerschaftsabbrüche, der Zugang zu Aufklärung und Verhütung für alle. Und nicht zuletzt wollen wir ein Stadtbild, aus dem die wieder erstarkende Rechte vertrieben wird, die Frauen zurück an den Herd schicken und vermehrter Gewalt aussetzen möchte.

Daher unterstützen wir auch die Mobilisierungen von Widersetzen und anderen nach Gießen gegen die Gründung der neuen AfD-Jugendorganisation. Lasst uns die AfD-Jugend blockieren, die den Rassismus auf die Spitze treibt und uns als Linke, Gewerkschafter:innen, Migrant:innen und Queers bedroht und dabei der Polizei entgegenstellen, die die extreme Rechte schützt. Lasst uns dabei klar machen, dass wir uns im Kampf gegen Rechts auch gegen die Regierung richten müssen und die Mobilisierung für den Aufbau einer Bewegung nutzen, die in den Betrieben, Schulen und Unis verankert dem wachsenden Rassismus und Militarismus den Kampf ansagt.

Wer schönere Städte haben möchte, sollte die Ankündigungen der beiden riesigen Gewerkschaften ver.di und IG Metall beim Wort nehmen, gegen Kürzungen in Sozialsystemen, Rente und Pflege zu demonstrieren und solche politischen Fragen mit bereits bestehenden und angekündigten ökonomischen Streiks verbinden. Lasst aber darüber hinaus in Betriebsversammlungen und Solidaritätskomitees auch über das Programm diskutieren. So sagte Christiane Benner, Vorsitzende IG Metall: „Die Ausgaben für Pharmaindustrie, Ärzte und Krankenhäuser gehören auf den Prüfstand“. Und: „Eine Vermögenssteuer für Superreiche ist überfällig“; gleichzeitig fordert sie eine Neugestaltung der Erbschaftssteuer. Dadurch wird aber nichts am kapitalistischen Ausbeutungssystem geändert. Tatsächlich brauchen wir Streiks für die Enteignung von Kapitalist:innen die auf Kosten der öffentlichen Gesundheit Profite machen, und die Vergesellschaftung der Großbanken unter Kontrolle der Arbeiter:innenklasse. Damit nicht durch Profite entschieden wird, was hergestellt und gebaut wird, und zu welchen Arbeitsbedingungen, sondern nach dem öffentlichen Wohl.

Ein Stadtbild im Sinne der Mehrheit erreichen wir nur mit den Mitteln der Arbeiter:innenklasse im Bündnis mit den Unterdrückten dieser Gesellschaft und der Welt. Dafür wollen wir aber nicht auf ein ungewisses „Morgen“ oder „Übermorgen“ verweisen, sondern bereits jetzt mit Solidaritätskomitees für Streiks oder Bildungsstreiks gegen Sparmaßnahmen, Rassismus und Militarisierung sowie für bessere Arbeitsbedingungen und Sozialinvestitionen kämpfen. 

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