Präsidentschafts­wahlen in Frankreich: Eine Bilanz der Kampagne des revolutionären Eisenbahners Anasse Kazib

31.03.2022, Lesezeit 15 Min.
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Bild: Karim Aït Adjedjou

Trotz Repression und Angriffen der extremen Rechten war die Kampagne unserer Schwesterorganisation zur Präsidentschaftswahl in Frankreich ein Erfolg für die revolutionäre Linke – auch wenn ihr Kandidat Anasse Kazib nicht zur Wahl zugelassen wurde.

Trotz der Bemühungen vieler Aktivist:innen ist der revolutionäre Eisenbahner Anasse Kazib offiziell kein Kandidat für die Präsidentschaftswahlen in Frankreich. Es ist nicht gelungen, die undemokratische Hürde von den 500 benötigten Unterschriften gewählter Amtsträger:innen zu überwinden.

Die Kampagne, die sich allen möglichen und vorstellbaren Hindernissen stellen musste, hat es trotzdem geschafft, eine dritte Stimme innerhalb der revolutionären Linken aufzubauen und in einen Dialog mit Jugendlichen, Arbeiter:innen und ärmeren Schichten der Gesellschaft zu treten. Schauen wir auf diese Erfahrung zurück, die reich an Lektionen und Versprechungen für die Zukunft ist.

Zu den Wurzeln der Kampagne Anasse Kazib 2022

Die Idee einer Kandidatur von Anasse entstand zuerst als Teil der Debatten innerhalb der NPA, einer Partei, in welcher Révolution Permanente eine öffentliche Strömung war. Nach zwei Kandidaturen von Philippe Poutou in den Jahren 2012 und 2017 schien es klar, dass er „den Staffelstab weitergegeben“ müsste. Einerseits existierte das Prinzip, dass ein Kandidat nur zwei Mal kandidieren solle, was Olivier Besancenot und Philippe Poutou auch öffentlich verkündet hatten. Des Weiteren kam es seit 2016 zu einer neuen Welle des Klassenkampfes, aus welcher eine neue Generation kämpferischer Aktivist:innen innerhalb der Arbeiter:innenbewegung, aber auch in den Massenbewegungen wie den Gelbwesten oder den antirassistischen, queer-feministischen und Umweltbewegungen entstand.

Anasse hat den Vorteil, diese perfekt zu verkörpern. Ein 34 Jahre alter Eisenbahner aus einer Familie, die aus Marokko eingewandert ist, der durch die Bewegung gegen das neue Arbeitsgesetz im Jahr 2016 politisiert wurde und dann 2017 Révolution Permanente und der Neuen Antikapitalistischen Partei (NPA) beigetreten ist. Während der fünfjährigen Amtszeit von Macron war er Teil aller Kämpfen. Vom großen Streik der Eisenbahner:innen gegen die Eisenbahnreform im Jahr 2018, wo er der führende und sichtbarste Kopf der „Intergares“ war – einer standortübergreifenden Koordinierung von Eisenbahner:innen, die versuchte, über den Rahmen der von den Gewerkschaftsführungen auferlegten Streikstrategie hinauszugehen –, der Rentenbewegung mit der RATP-SNCF-Koordination, über den siegreichen Streik der Arbeiter:innen von ONET, die Versammlung der Gelbwesten am Pôle Saint Lazare, bis hin zu den antirassistischen Kämpfen gegen Polizeigewalt usw. Er war auch in den Medien aktiv, z.B. über zwei Jahre lang als Kolumnist in der Radiosendung Les Grandes Gueules, in welcher er vielmals die bürgerlichen Politiker:innen und die Reformen von Präsident Macron kritisiert hat.

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In der Welle der Streiks im Jahr 2009 konnte man den Aufstieg einiger unserer Klassengeschwister wie Xavier Mathieu und Mickaël Wamen zu bekannten Figuren beobachten. Es war offensichtlich, dass Anasse neben der antirassistischen Aktivistin Assa Traoré und einigen Figuren der Gelbwesten zu den Gesichtern der neuen Klassenkämpfe ab 2016 zählte. Als solches war der Vorschlag seiner Kandidatur auch eine Richtungswahl: nämlich für einen Bruch mit der Anbiederung der NPA an das Programm der linkspopulistischen Partei La France Insoumise (LFI) von Jean-Luc Mélenchon, die sich in den Regionalwahlen gezeigt hatte, und stattdessen eine offen revolutionäre Kandidatur, welche die Errungenschaften der gerade erlebten Klassenkämpfe ausdrücken würde.

Die Richtungswahl der NPA war leider das Gegenteil davon. In einer Partei, in der alle Debatten öffentlich sind, wurde der Vorschlag der Kandidatur von Anasse als ein „Angriff auf die Partei“ gewertet, was als Vorwand dienen sollte, um die 300 Aktivist:innen und Sympathisant:innen von Révolution Permanente zwei Monate später aus der Partei zu drängen. Daraufhin traf die NPA die konservative Wahl einer dritten Poutou-Kandidatur, welche von niemandem gewollt war: Nur 52 Prozent der Delegierten bei der nationalen Konferenz stimmten dieser zu, obwohl es durch den Ausschluss von Révolution Permanente keine Gegenkandidaturen gab.

Als wir aus der NPA heraus waren, trafen wir die Entscheidung, die Kandidatur von Anasse offiziell zu machen. Wir waren überzeugt, dass sie etwas Tiefgreifendes ausdrückte und den Keim einer notwendigen Erneuerung der revolutionären Linken in sich trug, welche die 2016 eröffnete Welle von Kämpfen verpasst hatte. Wir waren uns bewusst, dass die Hürde der 500 Unterschriften für eine gerade unabhängig gewordene Organisation, die einen jungen und migrantischen Arbeiter in einer von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit geprägten Wahl aufstellt, etwas zu hoch sein könnte. Wir waren dennoch der Meinung, dass der Versuch es wert war und die Schlacht es verdient hatte, ausgefochten zu werden.

Eine subversive Kampagne, in offener Konfrontation gegen die extreme Rechte

Die Kampagne begann Mitte Oktober mit einem enthusiastischen Treffen, an dem knapp 500 Personen teilnahmen. Am nächsten Tag starteten die Rechtsextremen eine Diffamierungskampagne. Sie prangerten an, dass es im Veranstaltungssaal keine französischen Flaggen gegeben hatte und brachten den Hashtag #AnasseRemigration in die Twitter-Trends. In über 60 Jahren der Teilnahme von revolutionären Linken an den Wahlen in Frankreich wurde das Fehlen von französischen Fahnen in deren Sälen noch nie skandalisiert. Für einen Kandidaten mit postkolonialem Immigrationshintergrund scheint es also andere Hürden zu geben…

Es war ein regelrechter Hassausbruch, der daraufhin entfesselt wurde: Man beschuldigte Anasse, „auf die französische Fahne zu spucken“ und „Frankreich zu hassen“.

Das Ganze ging so weit, dass ihm damit gedroht wurde, „ihn mit der Fahne aufzuhängen“ oder ihn und seine Familie „halal ausbluten zu lassen“. Diese Offensive setzte sich am nächsten Tag in der Fernsehsendung „Touche Pas á Mon Poste“ fort (dies war seine einzige Einladung ins Fernsehen bis Februar). Dort wurde er als Gegenmodell zum rechtsextremen Kandidaten Zemmour beschrieben und wegen der Flaggengeschichte angegriffen.

Einige Monate später, anlässlich einer Veranstaltung an der Pariser Universität Sorbonne wurden von einer rechtsextremen Gruppierung Plakate aufgehängt, die Anasse als „0% französischen Kandidaten, 100% Islamisten und 100% Woke“ diffamieren sollten. Angesichts der Drohung von Rechtsextremen, die Veranstaltung stören zu wollen, flammten in den sozialen Netzwerken Rufe nach Solidarität auf, insbesondere unter dem Hashtag #AnasseSorbonne, woraufhin sich etwa 500 Menschen am „Place du Panthéon“ vor der Sorbonne versammelten, wo die Veranstaltung schließlich dank eines aus antifaschistischen Kollektiven gebildeten Sicherheitsdienst stattfinden konnte.

Während der gesamten Kampagne hat die extreme Rechte Druck auf Anasse ausgeübt, indem sie Fake News, Beleidigungen und Drohungen gegen ihn verbreitete. Diese selten gesehene Offensive gegen die revolutionäre Linke drückt den subversiven Charakter seiner Kandidatur aus, welche die Zentralität der Arbeiter:innenklasse und das Bündnis mit den Kämpfen aller Unterdrückten für eine revolutionäre Perspektive ausdrückte. Ein Projekt, das kein Zugeständnis des Marxismus an aktuelle liberale und antikoloniale Tendenzen ist, wie die Politiker:innen und Journalist:innen es behaupteten, sondern eine Rückkehr zu den besten Traditionen des Marxismus. In einer Zeit der Radikalisierung der extremen Rechten wurde diese Kampagne gegen den Strom von über 250 Intellektuellen, Aktivist:innen, Künstler:innen, Politiker:innen, Gewerkschatfler:innen und Antirassist:innen unterstützt, die darauf beharrten, dass ein Fehlen von Anasse bei den Wahlen eine Niederlage darstellen würde.

Eine dynamische und aktivistische Kampagne, die den Grundstein für einen „Block des Widerstands“ legt

Das Interesse unter den Jugendlichen, Arbeiter:innen und den Menschen aus den proletarischen Vierteln an der Kampagne war während der gesamten sechs Monate hoch. Die Teilnehmerzahlen der Versammlungen zeugen davon, obwohl sie lange vor der Wahl stattfanden: 500 Personen in Paris, 350 in Toulouse, 400 in Bordeaux, 400 an der Universität 8 in Paris und 250 in Marseille, um einige der größeren zu nennen. Getragen von dem kämpferischem Diskurs unseres Kandidaten sind diese Zahlen Ausdruck einer sehr aktivistischen Kampagne, an welcher sich über 500 Personen in ganz Frankreich beteiligten. Sie organisierten Treffen und öffentliche Versammlungen, verteilten Flugblätter und verbreiteten Plakate und nahmen natürlich die Wege auf sich, um Bürgermeister:innen zu treffen und ihre Unterschriften zu sammeln.

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Die Kampagne hatte die Unterstützung von ganzen Betriebsgruppen von Arbeiter:innen aus der Industrie und dem Dienstleistungssektor erhalten, ebenso wie von hunderten Studierenden, welche jede dieser Versammlungen zusammengebracht hat. In Paris begann die Versammlung zur Eröffnung der Kampagne, indem unter tosendem Applaus die anwesenden Sektoren verkündet wurden:

Die Beschäftigten von Neuhauser, welche ihren Chef während der Pandemie zur Umverteilung von Lebensmitteln gezwungen haben, Transdev-Streikende, die Beschäftigten von Infrapôle, die seit sieben Monaten im Streik sind, SKF-Arbeiter:innen aus Avalon, die gegen Entlassungen kämpfen, Onet-Mitarbeiter:innen und Aktivist:innen bei CSP Mountreuil, die erst kürzlich Repressionen erfahren haben. An ihrer Seite dutzende Arbeiter:innen der RATP, der SNCF, aus den Raffinerien, Lehrer:innen, Studierende und mehrere Kollektive von Familien, deren Angehörige Opfer von Polizeigewalt geworden sind.

All dies zeugt davon, dass sich diese Kampagne als dialogfähig erwiesen hat und diejenigen mobilisieren konnte, die in den vergangenen fünf Jahren gekämpft haben. Eine Dynamik, welche Youcef Brakni, Aktivist eines proletarischen Viertels, mit Schärfe und Nachdruck bei der Versammlung an der Universität 8 in Paris beschrieb: „Mit diesen Treffen und diesen Touren bauen wir einen Block des Widerstands für die Zukunft auf.“ Dieser „Block“ ist für uns eine grundlegende Errungenschaft der letzten Monate, und er wird erweitert werden müssen, um sich auf die Angriffe der nächsten Regierung und der extremen Rechten vorzubereiten.

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Die Kampagne hat auch viele prominente Verbündete gefunden. Von Adrien Cornet von der CGT Grandpuits, über Persönlichkeiten des antirassistischen Adama-Komitees wie Assa Traoré oder Almamy Kanouté, bis hin zu der transfeministischen Aktivistin Sasha Yaropolskaya und weiterer bekannter Figuren lokaler Kämpfe, die sich die Bühne genommen und ein Unterstützungskomitee gebildet haben. Andere haben sich nach den Angriffen auf Anasse mit ihm solidarisiert, indem sie die Kampagne teilten, die Angriffe verurteilten, Stellungnahmen unterzeichneten oder Texte in Solidarität geschrieben haben, wie es Frédéric Lordon , Adèle Haenel oder Sandra Lucbert getan haben.

Eine Offenlegung der antidemokratischen Funktionsweise des bürgerlichen Regimes

Trotz dieser Dynamik war die Kampagne vielen Hindernissen ausgesetzt. Die erste und offensichtlichste ist die Hürde, 500 Unterschriften von Bürgermeister:innen sammeln zu müssen, um überhaupt kandidieren zu dürfen. Dieses System hat in diesem Jahr seinen völligen Bankrott gezeigt und seinen antidemokratischen Charakter offenbart.

Trotz der immensen Anstrengungen und den über 7000 Bürgermeister:innen, die wir getroffen haben, sahen wir uns nicht nur Druck von oben und vielen Schikanen ausgesetzt, sondern auch zusätzlichen Schwierigkeiten: Bürgermeister:innen, die die Tür zugeschlagen haben, sobald sie den Namen unseres Kandidaten oder seine Religion gehört haben. Andere wiederum, die verlegen erklärten, sie können keinen Kandidaten „wie Anasse“ unterstützen, solange in ihrem Dorf die extreme Rechte besonders starke Ergebnisse erzielt. Der Druck, der durch die rechte Denunziationskampagne verstärkt wurde, führte zu beispiellosen Situationen: So versprach ein Bürgermeister seine Unterstützung und wurde daraufhin von seinem Stellvertreter angegriffen, weshalb er ihn bei der Polizei anzeigen musste.

Auch die Banken haben uns das Leben nicht leicht gemacht. Während der gesamten Kampagne mussten wir kämpfen, um die Eröffnung eines Kampagnenkontos zu erreichen, mit dem wir Spenden per Kreditkarte sammeln konnten. Alle kontaktierten Banken weigerten sich, ein Konto für uns zu eröffnen. Diejenigen, die dies doch akzeptierten, waren dann aber nicht bereit, uns den richtigen Service zu gewähren, der für das Sammeln von Geldern unerlässlich ist. Generell war die Finanzierung der Kampagne ein großes Hindernis für uns, besonders Benzin und das Mieten von Räumlichkeiten verursachten hohe Kosten. Weil wir die 500 Unterschriften verfehlt haben, werden die Kosten vom Staat nicht zurückerstattet, was besonders für eine junge Organisation eine Herausforderung ist.

Der Boykott der Medien gegen unsere Kampagne war ebenfalls ein Hindernis. Zwischen dem 1. Januar und dem 13. Februar konnte sich unser Kandidat gerade einmal drei Minuten im Fernsehen und Radio äußern, was weit hinter allen anderen Kandidat:innen liegt. Zu Beginn der Phase, in denen die Medien die offiziell bestätigten Unterschriften veröffentlichten, gingen mehrere Fernsehsender noch weiter. Sie strichen Anasse in den Ranglisten der gesammelten Unterschriften weg und präsentierten dort Kandidat:innen mit weniger Unterschriften wie Helène Thouy oder Christiane Taubira. Dieser offene Boykott lies den Hashtag #OùEstAnasse („Wo ist Anasse?“) entstehen, womit auf die anhaltende Unsichtbarmachung durch die Medien angespielt wurde.

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Schließlich endete die Kampagne mit dem letzten Instrument, welches dem Regime zur Verfügung stand, um Druck auszuüben: die Vorladung von Anasse Kazib durch die Polizei nach der Kundgebung an der Sorbonne. Allen Protesten zum Trotz hat sich die Staatsanwaltschaft dazu entschieden, Anasse strafrechtlich zu verfolgen. Während er am 18. Mai vorgeladen wird, muss sich keiner der Rechtsextremen, die ihn bedroht haben, Sorgen machen…

161 gesammelte Unterschriften trotz des Gegenwinds

Der subversive Charakter unserer Kandidatur, der Boykott der Medien und all diese Elemente haben sich negativ auf das Sammeln der Unterschriften ausgewirkt. Für die erste Kandidatur von jemandem, der den meisten Bürgermeister:innen unbekannt ist, und für eine noch neue Organisation, die für ihn warb, ist die Hürde von 500 Unterschriften unerreichbar geworden. Nachdem uns rund 250 Amtträger:innen ihre Unterschrift zugesagt hatten, zog ein Großteil davon ihre Unterstützung Anfang Februar, als die Unterschriften offiziell gemacht werden sollten, wieder zurück. Viele argumentierten aufgrund der mangelnden Präsenz in den Medien und den Umfragen, lieber einen anderen Kandidaten unterstützen zu wollen, oder gaben dem Druck der Institutionen oder Bürger:innen nach.

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Mit einer Dynamik, die auch durch die Coronakrise gebremst wurde, und einer unzureichenden Basis an Unterschriften wurde es immer schwerer, Bürgermeister:innen davon zu überzeugen, dass es sich lohnt, unseren Kandidaten zu unterstützen. Dabei erhielten wir keinerlei Hilfe von außen. Offensichtlich nicht von der „Bank von Bayrou“ und ebenso wenig von den Einrichtungen der institutionellen Linken, die es der NPA ermöglicht haben, im Namen „politischer Solidarität“ noch in der letzten Woche 250 Unterschriften zu sammeln, wie sie es in einer Pressemitteilung nannten.

In diesem Kontext sind 161 erreichte Unterschriften zwar eine kleine Leistung, aber eine, auf die wir stolz sind. Wir waren uns bewusst, wie schwierig es werden würde, einen Kandidaten aufzustellen, der aus der Arbeiter:innenklasse stammt, einen Migrationshintergrund hat und ein Revolutionär ist. Aber wir haben die Entscheidung bewusst getroffen, um die Situation anzuprangern und den undemokratischen Charakter dieses Systems zu zeigen. Wir konnten zeigen, wie weit es mit der Rede, dass jede:r die Möglichkeit hat, sich zur Wahl stellen zu lassen, in Wirklichkeit her ist. Letztendlich entscheidet das Regime durch seine Medien, Parteien und Justiz, wer kandidieren darf und wer nicht.

Eine Stimme für die Unabhängigkeit der Klasse

Trotz der vielen Meinungsverschiedenheiten in der radikalen Linken, die in letzter Zeit neue Beispiele bekamen – einerseits mit den Aussagen der Kandidatin von Lutte Ouvrière über Frauen mit Kopftuch, sowie mit den Äußerungen Philippe Poutous zugunsten von Sanktionen gegen Russland –, sind dies zwei Kandidaturen unserer Klasse, welche einen Ansatz zur revolutionären Transformation unserer Gesellschaft in sich tragen.

Darin unterscheiden sie sich von der Kandidatur von Jean-Luc Mélenchon, der weit davon entfernt ist, daran zu arbeiten, die Dynamik und den Klassenkampf, mit denen Macron während seiner fünfjährigen Amtszeit konfrontiert war (Gelbwesten, Rentenreformen, antirassistische Mobilisierung), aufzubauen und zu vertiefen. Im Gegenteil beabsichtigt er es, sie auf institutionellem Terrain einzuhegen. Doch auch wenn wir diejenigen verstehen, die im Angesicht der neoliberalen und fremdenfeindlichen Projekte der Rechten für den Kandidaten der France Insoumise als eine Art „kleineres Übel“ stimmen wollen, denken wir, dass es im Gegenteil notwendig ist, in dieser bitteren Zeit unser soziales Lager für die kommenden Kämpfe vorzubereiten.

Aus unserer Sicht kann dieser Kampf nur in völliger Unabhängigkeit vom Großkapital geführt werden, das Jean-Luc Mélenchon im Gegenteil zur gemeinsamen Arbeit aufruft. Eine solche Vermittlungspolitik ist eine Illusion. Die Wette auf die Transformation der Gesellschaft durch den institutionellen Weg führt in eine Sackgasse, wie uns das Scheitern von Syriza und Podemos in Griechenland und Spanien gezeigt hat.

Eine neue revolutionäre Organisation

Während unsere Kampagne zu Ende ging, kehrte der Krieg nach Europa zurück. Damit wird deutlich, dass die Widersprüche des Systems uns zu immer mehr Brutalität, Autoritarismus und Elend für die Arbeiter:innenklasse führen. Die kommende fünfjährige Amtszeit, höchstwahrscheinlich unter Macrons Präsidentschaft, wird sehr hart sein. Der scheidende Präsident hat bereits versprochen, das Rentenalter zu erhöhen, die Sozialleistungen zu kürzen, die Offensive gegen Einwanderung und proletarische Viertel weiter zu verschärfen, und eine katastrophale Bildungsreform durchzusetzen. Im internationalen Kontext verschärft er die Tendenzen zu Krisen und Kriegen, während die Präsidentschaftswahlen im Kontext von Revolten auf Korsika und starken Spannungen in der Frage der Löhne und Preiserhöhungen stattfinden. Der Klassenkampf wird also eher früher als später ausbrechen.

In diesem Zusammenhang ist die Kritik an der Abstimmung für das kleinere Übel das Gegenteil eines Aufrufs zur Passivität. Denn während wir zur kritischen Stimmabgabe für die Kandidat:innen der NPA und Lutte Ouvrière aufrufen, sind wir von der Notwendigkeit einer revolutionären Neugründung der Linken nach Jahren der Routine, des Mangels an Initiativen im Klassenkampf, der Anpassung an die Gewerkschaftsbürokratie und des Konservatismus angesichts der neuen Generation des Aktivismus der Arbeiter:innenbewegung überzeugt. In diesem Sinne werden wir am Tag nach den Parlamentswahlen, zu denen Anasse Kazib in einem Wahlkreis in Seine Saint-Denis antreten wird, den Prozess einleiten, um im nächsten Herbst auf die Gründung einer neuen revolutionären Organisation hinzuarbeiten.

In diesem Prozess wollen wir mit einem großen Teil derer, die diese Kampagne mit uns geteilt haben, den Aufbau einer Organisation beginnen, um unter Arbeiter:innen, Jugendlichen und in den proletarischen Vierteln das Projekt einer sozialen Revolution zu etablieren, die Kapitalismus, Patriarchat, Rassismus und die Zerstörung des Planeten beendet. Eine Organisation, die in der Lage ist, in die nächsten Explosionen des Klassenkampfes einzugreifen, die bald das Licht der Welt erblicken könnten, insbesondere wenn sich das Szenario einer zweiten fünfjährigen Amtszeit von Macron bestätigt. Weit über die Präsidentschaftswahlen hinaus, die für uns nur eine Plattform sind, ist es diese längerfristige Perspektive, die wir in den kommenden Wochen mit allen Unterstützer:innen der Kampagne diskutieren wollen.

Dieser Artikel erschien zuerst auf Französisch bei Révolution Permanente.

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