Neukölln: Wer wird für die Kinder da sein?

Rund 40 Menschen versammelten sich am Dienstag vor dem Rathaus Neukölln, um gegen die drohenden Kürzungen im Jugend- und Sozialbereich zu protestieren.
Aufgerufen hatte die Die Linke Neukölln unter dem Motto: „Keine Kürzungen in Neukölln – Schluss mit dem Spardiktat des Senats“. Sozialarbeiter:innen, Eltern, Kinder und Jugendliche, linke Gruppen und Bildungsbeschäftigte machten deutlich: Die Berliner Haushaltsplanung zerstört soziale Infrastruktur – und trifft besonders jene, die keine Lobby haben.
Das Kinder- und Jugendparlament Neukölln erinnerte an einen von ihnen eingebrachten Antrag auf mehr Mittel – einstimmig beschlossen, aber von keiner Fraktion umgesetzt. Ein deutliches Beispiel für die symbolische Missachtung junger Stimmen.
Inés Heider, Schulsozialarbeiterin, GEW-Mitglied und aktiv bei Klasse Gegen Klasse, betonte die dramatischen Auswirkungen der geplanten Streichungen: Familienförderung, Jugend- und Schulsozialarbeit sollen massiv gekürzt werden. In Mitte wurden von Bezirksstadtrat Christoph Keller (Die Linke) 580.000 Euro durch die ersatzlose Streichung aller Schulstationen gestrichen. Dabei handelt es sich um Sozialarbeit an Grundschulen. In Neukölln sollen rund 20 Millionen Euro eingespart werden. Die Linke Neukölln antwortete auf diese Kritik auch, dass die Position gegen Kürzungen im Sozialbereich nicht von der ganzen Partei unterstützt werden.
Inés beschrieb Schulstationen als geschützte Räume jenseits der autoritären Logik von Schule: „Wer wird für diese Kinder da sein? Die Kinder, die suizidgefährdet sind? Die Kinder, die queer sind und deswegen in der Schule und vielleicht auch zuhause diskriminiert werden? Die Kinder, die gemobbt werden? Die Zuhause keine Unterstützung erfahren? Die Gewalt erfahren müssen? Die kaum oder nicht mehr in die Schule kommen? Sind das dann die Lehrkräfte, die die Schüler:innen bewerten, denen sie sich anvertrauen sollen oder sowieso schon überarbeitete Erzieher:innen?“ Die Kürzungen gefährdeten genau jene Strukturen, die für marginalisierte Kinder lebenswichtig seien.
Gleichzeitig beschloss die NATO, dass fünf Prozent des BIP eines jeden ihrer Mitgliedsstaaten für Rüstung ausgegeben werden sollen. In Deutschland wären das 225 Milliarden Euro pro Jahr. Ein Teil davon fließt jetzt schon in Bundeswehr-PR an Schulen während Projekte wie der Queer History Month wegrationalisiert werden.
„Hoch mit der Bildung – runter mit der Rüstung!“, stimmte Inés deshalb an. „Unser Kriegsminister Boris Pistorius sagt, die Gesellschaft muss kriegstüchtig werden statt soft und und widerständig“, fügt sie hinzu.
Philipp Dehne, Sprecher für Bildung, Schule, Kultur und Sport der Linksfraktion in der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) betonte die Rolle von Jugendclubs als „zweites Zuhause“ und forderte, die Haushaltsverhandlungen im Herbst nicht auf dem Rücken junger Menschen auszutragen. Dass derzeit weniger als fünf Prozent der Berliner Ausgaben überhaupt in Bildung und Erziehung fließen, sei ein politischer Skandal.
Nuran Kara, die Leiterin des Familienzentrums „Haus der Familie“ berichtete von 18 betroffenen Einrichtungen allein in Neukölln, die durch das sogenannte Familienfördergesetz unterfinanziert seien. Tariferhöhungen werden nicht weitergegeben, Arbeitsplätze und soziale Orte seien akut bedroht. Ihre Forderung: Familienzentren dürfen nicht der Kassenlage unterliegen.
Auch die Initiative Berlin Mondiale kritisierte die Realitätsferne von SPD und Grünen, die keinerlei Alternativen zur Schuldenbremse aufzeigen. Stattdessen werde der Sozialstaat abgebaut während wirtschaftsnahe und militärische Sektoren verschont bleiben.
Hermann Nehls, der Vorsitzenden der Linken Neukölln übte nicht nur Regierungskritik, sondern auch Selbstkritik – und stellte die Systemfrage: „Wem gehört diese Stadt?“ Während gegen den Volksentscheid auf dem Tempelhofer Feld gebaut und der Görlitzer Park eingezäunt wird, kürzt man im Sozialen. Außerdem: „Geld gibt es nur noch für Kanonen – nicht für Butter.“
Doch auf Bundesebene geriet Die Linke unter Druck: Im Bundesrat stimmten die von ihr regierten Bundesländer Bremen und Mecklenburg-Vorpommern für die Aushebelung der Schuldenbremse für Rüstungsausgaben auf der einen und Brücken und Straßen auf der anderen Seite, um Waffenlieferungsprozesse zu optimieren. Inés warnte: „Wenn wir nicht immer wieder hier stehen wollen, müssen wir uns organisieren – gegen Kürzungen und Militarisierung.“
Tim Brandes von der Sozialistischen Organisation Solidarität (SOL) berichtete von maroden Schulen, kaputten Toiletten, fehlendem Material und einer Burnout-Quote unter Lehrkräften, die in die Höhe schnellt. Es brauche massive Investitionen in Bildung, Gesundheit und Care-Arbeit – und einen Perspektivwechsel jenseits kapitalistischer Logik. „Unser Ziel muss eine sozialistische Demokratie sein – eine Überwindung des Kapitalismus.“
Die Bezirksstadträtin Sarah Nagel (Die Linke) machte die Dimension der Kürzungen konkret: Im kommenden Jahr sollen 1,6 Millionen Euro weniger für Jugendprojekte zur Verfügung stehen – Einsparungen, die nur durch Schließungen realisierbar sind, die sie mit sich nicht verantworten könne.
Die Kundgebung in Neukölln hat gezeigt: Die Wut ist da, das Wissen um Alternativen auch. Was fehlt, ist der organisierte Widerstand über symbolische Aktionen hinaus. Diejenigen, die am stärksten betroffen sind – Kinder, Jugendliche und Beschäftigte im sozialen Bereich – sind bereits in Bewegung. Sie brauchen Solidarität, eine politische Stimme und eine Perspektive jenseits von Spardiktaten und Kriegslogik.
Sie hat aber auch gezeigt, dass das Engagement fast ausschließlich nur von Menschen kommt, die selbst von den Kürzungen betroffen sind – Arbeiter:innen im sozialen Sektor. Als vor zwei Jahren gegen die Schließung des Weihnachtsmarktes oder die Unterlassung der Renovierung von Spielplätzen demonstriert wurde, war die Teilnehmerzahl erheblich höher. Das heißt aber nicht, dass es nicht im Interesse vieler Neuköllner ist, gegen die Kürzungen zu sein.
Wie Inés es zusammenfasste: „In jeder Haushaltsdebatte müssen wir uns fragen: In was für einer Gesellschaft wollen wir leben? In einer, die in Kriege investiert – oder in Menschen?“